Covid-19 und psychische Erkrankungen: »Für Menschen mit Depression sind weniger Sozialkontakte ein Problem«
Bedingt durch die Coronavirus-Pandemie kommt das öffentliche Leben derzeit in zahlreichen Ländern zum Erliegen. Das stellt viele vor Herausforderungen – Menschen mit psychischen Erkrankungen aber in einem ganz besonderen Maß. Welche Folgen hat die Situation für sie? Und was können die Betroffenen, aber auch ihre Angehörigen und Freunde tun, um die Auswirkungen abzumildern? »Spektrum.de« sprach darüber mit Andreas Meyer-Lindenberg, dem Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim.
»Spektrum.de«: Herr Meyer-Lindenberg, alle Bundesländer haben inzwischen drastische Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des neuen Coronavirus zu stoppen: Schulen, Kitas und Universitäten sind geschlossen, Kinos, Sportstätten und zahlreiche Geschäfte dürfen nicht mehr öffnen. Wer kann, soll zu Hause bleiben und soziale Kontakte auf ein Minimum reduzieren. Am 22. März haben sich Bund und Länder sogar auf ein umfassendes Kontaktverbot geeinigt. Was bedeutet das für Menschen mit psychischen Erkrankungen?
Andreas Meyer-Lindenberg: Die Situation ist im Moment für alle schwierig. Studien zeigen, dass Isolation und Quarantäne belastend sind. Und das gilt für Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Tat ganz besonders. Die Betroffenen befinden sich ohnehin oft bereits in einer Krisensituation und sind auf ihr soziales Netzwerk angewiesen, auf Freunde und Familienmitglieder, die ihnen helfen und sich um sie kümmern. Ist das nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich, wird es für die Patienten sehr schwierig.
Wenn man seine Arbeit im Homeoffice erledigt und nur noch selten vor die Tür geht, brechen oft Alltagsroutinen zusammen. Welchen Einfluss hat das auf die Betroffenen?
Routinen sind wichtig. Deshalb empfehlen wir all unseren Patienten, sie so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Also zum Beispiel nicht im Pyjama mit dem Laptop auf dem Sofa zu sitzen, sondern sich, selbst wenn man im Homeoffice arbeitet, so anzuziehen, als würde man ins Büro gehen. Freizeitaktivitäten sollte man umstrukturieren, aber dennoch wahrnehmen. Beispielsweise spricht überhaupt nichts gegen Spaziergänge im Freien, wenn man sich dabei von anderen Menschen fernhalten kann. Es gibt außerdem Erkrankungen, bei denen es den Betroffenen ohnehin schwerfällt, ihre Tagesstruktur aufrechtzuerhalten, etwa bei einer Schizophrenie. Schon bei Depressionen kann das problematisch sein, wenn der Antrieb fehlt. In solchen Fällen können Angehörige und Freunde helfen. Aber auch wir als Therapeuten bemühen uns, mit den Patienten gemeinsam Lösungen zu finden.
Kann die aktuelle Situation bestimmte Erkrankungen wie zum Beispiel eine Depression verschlimmern?
Absolut. Für Menschen mit einer Depression sind weniger Sozialkontakte ein Problem. Auch Angsterkrankungen können sich verschlechtern, wenn die Sorgen der Betroffenen zum Beispiel primär um den Gesundheitsbereich kreisen. Bei Patienten mit Schizophrenie können wahnhafte Befürchtungen bezogen auf die Pandemie aufkommen, und aus Studien wissen wir, dass sich posttraumatische Störungen verschlimmern, wenn neue Krisen wie diese hier hinzukommen. Und bei Patienten mit Suchterkrankungen erhöht unter anderem das Zuhausebleiben die Gefahr, wieder rückfällig zu werden, um nur einige Beispiele zu nennen.
Müssen Betroffene fürchten, dass ihre Therapiesitzungen ausfallen?
Wir gehen in der Tat davon aus, dass zurzeit viele Therapien abgesagt werden müssen, weil entweder Therapeuten oder Patienten nicht kommen können. Wir versuchen aber, das so gut wie möglich aufzufangen. Unsere Ambulanz bietet zum Beispiel im Moment viele Telefonkontakte an, und wir versuchen, Patienten, die wir aktuell von der Station entlassen, daheim zu besuchen. Psychotherapeuten sind dabei, Videotherapien aufzubauen und zu intensivieren, von denen wir bereits wissen, dass sie durchaus gut funktionieren.
Welche Möglichkeiten habe ich als Patient, wenn meine Therapie abgesagt wird?
Das muss man mit dem Therapeuten besprechen. Über viele Dinge kann man auch am Telefon reden. Geht es um Medikamente, besteht die Möglichkeit, größere Packungen zu verschreiben, und wenn ihre Praxis zu ist, können die Patienten auch zu uns in die Klinik kommen. Sollen die Patienten zu Hause Übungen oder Hausaufgaben absolvieren, können sie zum Beispiel aufschreiben, wie sie sich dabei gefühlt haben, und dies dann in größeren Intervallen mit ihrem Therapeuten nachbesprechen. Und nicht zuletzt gibt es inzwischen auch Selbsthilfegruppen, die sich online treffen und die ohnehin oft eine gute Ergänzung zur Therapie darstellen. Treten akute Krisen auf, kann man natürlich weiterhin jederzeit anrufen, auch bei der Telefonseelsorge. Und die Notaufnahmen sind ebenso geöffnet und kümmern sich um Notfälle.
Viele Krankenhäuser haben Besuchsverbote verhängt. Wie geht es Menschen damit, die stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden?
Das ist wirklich hart – sowohl für die Patienten als auch für die Angehörigen. Wir bemühen uns, es, so gut es geht, zu kompensieren, indem wir unseren Patienten etwa die Möglichkeiten geben, zu telefonieren oder einen Videoanruf zu machen. Letzteres ist oft wirkungsvoller und geht inzwischen zum Glück von den meisten Telefonen und Tablets aus. Wenn man jemanden sieht, ist das noch mal eine ganze Ecke besser, als wenn man jemanden nur hört. In manchen Fällen können wir auch Ausnahmen machen. Die Kinder, die bei uns stationär behandelt werden müssen, können zum Beispiel nach wie vor in einem speziellen Bereich ihre Familien treffen. Das ist uns erlaubt, weil die psychiatrischen Kliniken in Baden-Württemberg – abgesehen von den gerontopsychiatrischen Kliniken – von dem ganz strikten Besuchsverbot eine Ausnahme bekommen haben.
6 Tipps, die entlasten
In Kontakt bleiben: Halten Sie den Kontakt zu Ihrer Familie, Ihren Freunden und Ihrem Therapeuten. Machen Sie lieber einen Videochat, anstatt zu telefonieren. Sein Gegenüber sehen zu können, ist oft besser, als es nur zu hören.
Exzessive Mediennutzung vermeiden: Vermeiden Sie es, jede Nachricht zum Thema zu lesen. Setzen Sie sich stattdessen ein Limit, wie viel Zeit Sie am Tag damit verbringen möchten. Beziehen Sie Ihre Informationen nur aus vertrauenswürdigen Quellen. Dazu zählen etwa das Robert Koch-Institut, die Ministerien und die Gesundheitsämter.
Routinen bewahren: Versuchen Sie, Ihre Alltagsroutinen, so gut es geht, aufrechtzuhalten. Stehen Sie zum Beispiel morgens auf und machen Sie sich wie gewohnt fertig für die Arbeit – egal, ob sie danach ins Büro oder ins Homoffice gehen.
Die Kontrolle behalten: Konzentrieren Sie sich vermehrt auf die Bereiche ihres Lebens, die Sie weiterhin bestimmen können, zum Beispiel, was Sie in den nächsten Tagen kochen werden oder wie Sie Ihre Freizeit daheim verbringen wollen.
Freiräume nutzen: Die aktuelle Situation bringt für viele Menschen auch Vorteile mit sich. Sie arbeiten im Homeoffice und können sich damit die Fahrzeit zur Arbeit sparen? Die Prüfungen an der Universität sind auf unbestimmte Zeit verschoben, und Sie müssen weniger lernen? Genießen Sie die Freiräume, die sich Ihnen jetzt dadurch bieten. Schlafen Sie zum Beispiel länger oder machen Sie nach dem Aufstehen einen kurzen Spaziergang im Wald.
Anderen helfen: Wer anderen hilft, fühlt sich oft auch selbst besser. Greifen Sie also zum Beispiel Ihrem älteren Nachbarn beim Einkaufen unter die Arme, wenn Ihre Krankheit es zulässt.
Was würden Sie Menschen mit psychischen Erkrankungen empfehlen, die momentan unter den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie besonders leiden?
Es gibt ein paar Dinge, die im Moment alle Menschen tun können, um besser mit der Situation fertigzuwerden. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen gelten sie aber in ganz besonderem Maß. Halten Sie den Kontakt zu Ihrem Therapeuten und zu Ihrer Familie – zum Beispiel per Videotelefonie. Versuchen Sie, sich zu entstressen, indem Sie sich Informationen nur aus vertrauenswürdigen Quellen besorgen. Dazu zählen etwa das Robert Koch-Institut, die Ministerien und die Gesundheitsämter. Es ist nicht hilfreich, wenn man den ganzen Tag im Internet hängt und jeder Meldung nachgeht, die dort kursiert. Stattdessen sollte man sich selbst ein Limit dafür setzen, wie viel Zeit man mit solchen Informationen verbringen möchte. Wir empfehlen: nicht mehr als zweimal am Tag eine halbe Stunde. Außerdem ist es wie bereits erwähnt wichtig, die Alltagsroutine, so gut es geht, beizubehalten. Wenn möglich, konzentrieren Sie sich auf die Bereiche, die Sie selbst beeinflussen können: Was werde ich kochen? Wie gestalte ich meinen Tag? Genießen Sie Freiräume, die Sie nun haben. Wenn man länger schlafen kann, ist das prima. Wenn man sonst keinen Spaziergang in der Natur machen kann, aber hinter dem Haus einen Wald hat, dann sollte man jetzt dorthin gehen. Bei vielen Patienten, mit denen wir arbeiten, umfassen die Routinen so etwas wie Achtsamkeitsmeditation und körperliche Bewegung. Auch das sollte man beibehalten. Und schließlich: Unterstützen Sie selbst andere Menschen, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen. Gehen Sie zum Beispiel für ältere Nachbarn einkaufen. Anderen zu helfen, hilft uns selbst.
Was können Familienangehörige und Freunde tun, um die Betroffenen zu unterstützen?
Den Kontakt halten, wo es nur geht. Auch hierbei können neu gewonnene Freiräume helfen. Wenn Sie zum Beispiel im Homeoffice arbeiten und Ihren Angehörigen sonst nur am Wochenende besuchen konnten, dann schaffen Sie es nun vielleicht, sich so umzuorganisieren, dass man auch mal unter der Woche oder zwischendurch einen Videochat machen kann.
Untersuchungen aus der Vergangenheit zeigen, dass Krisen häufig die Psyche vieler Menschen belasten. Denken Sie, dass auch die Corona-Pandemie zu einem Anstieg von psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung führen wird?
Davon müssen wir ausgehen. Jede Krise führt zu einer vermehrten Belastung und ist damit ein Risikofaktor für die Manifestation von psychischen Erkrankungen. Oft sind die Effekte nicht besonders groß, aber dennoch messbar. So zeigen zum Beispiel Studien, für die Forscher die Ersthelfer untersuchten, die nach dem Angriff auf das World Trade Center zur Stelle waren, dass es schon früh nach einer Katastrophe zu einem deutlichen Anstieg von Depressionen und Belastungsredaktionen kommt. Nach einem Jahr war davon in den USA zum Glück nicht mehr so viel zu spüren. Was immer noch vermehrt auftrat, waren interessanterweise Suchterkrankungen, insbesondere in Zusammenhang mit übermäßigem Alkoholkonsum. Manchmal gibt es auch gegenläufigen Tendenzen. Zum Beispiel rücken die Menschen in einer Krise oft im übertragenen Sinn zusammen, helfen und achten mehr aufeinander. In manchen Krisen konnte man sogar beobachten, dass die Suizidrate zeitweilig abgenommen hat.
Vielen Dank für das Gespräch!
Hilfe auf Abruf
Wenn Sie Hilfe benötigen, wenn Sie verzweifelt sind oder Ihnen Ihre Situation ausweglos erscheint, dann wenden Sie sich bitte an Menschen, die dafür ausgebildet sind. Dazu zählen zum Beispiel Ihr Hausarzt, Psychotherapeuten und Psychiater, die Notfallambulanzen von Kliniken und die Telefonseelsorge.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei unter den Nummern: 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat.
Kinder und Jugendliche bekommen bei der »Nummer gegen Kummer« anonym und kostenfrei Hilfe und Unterstützung bei kleinen und großen Problemen des Lebens: 116111, montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr.
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