Manipulation im Netz: Die Psychotricks der Onlineshops
Kürzlich wollte ich einen Urlaub in Südfrankreich buchen. Was ganz einfach sein könnte, erwies sich als Spießrutenlauf. Beim Flug fing es an: »Nur noch ein Platz zu diesem Preis übrig« stand in fetter Schrift auf der Website der Fluggesellschaft. Dann lieber schnell zuschlagen! Zuerst sollte ich einen Sitzplatz wählen – gegen Aufpreis, versteht sich. Erst nach einiger Suche entdeckte ich ein gut verstecktes graues Textfeld, um den Zusatzkauf zu überspringen. Ob ich mir da sicher sei, wurde ich gleich zweimal hintereinander gefragt. Ich sollte bestätigen, dass ich wirklich »ohne Sitzplatz fortfahren« möchte. Oh je, muss ich im Flugzeug dann etwa stehen? Oder komme ich trotz Ticket am Ende gar nicht rein? Kaum hatte ich diese unsinnigen Sorgen aus meinem Kopf vertrieben, stand ich vor dem nächsten Dilemma. Ob ich für meinen Flug die Standardversicherung, die Plus-Versicherung oder gleich das Jahrespaket möchte? Nichts von alledem! Doch wo musste ich dafür wieder klicken? Als wahrer Endgegner erwies sich der Werbenewsletter. Um diesem Marketingtool des Reiseportals zu entkommen, sollte ich ein bereits gesetztes Häkchen wieder entfernen. Das verriet mir eine umständlich formulierte Textwüste in winziger Schrift. Als ich irgendwann mein Ticket in den Händen hielt, war ich endgültig reif für die Ferien.
Dass derartige Prozeduren so mühsam sind, ist kein Zufall. Nicht wenige digitale Plattformen nutzen gezielt erprobte Tricks und Fallen, um ihre Nutzerinnen und Nutzer zu Dingen zu verleiten, die sie eigentlich gar nicht wollen. Für diese Techniken gibt es einen Sammelbegriff: Dark Patterns. Sie bilden gewissermaßen den Giftschrank des User Experience Designs, im Fachjargon kurz »UX« – also der Kunst, leicht verständliche Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine zu gestalten. Diese waren zunächst ein Segen, haben sie doch unseren digitalen Alltag spürbar erleichtert.
»Das frühe Internet war für die meisten Menschen kaum nutzbar«, erklärt der Informatiker Thomas Mildner, der an der Universität Bremen zu Dark Patterns forscht. »Inzwischen ist es sehr viel einfacher geworden, Websites zu bedienen – und wir haben uns daran gewöhnt.« Dass sich Google gegen seine Rivalen durchsetzen konnte, lag auch an seiner gut sortierten Nutzeroberfläche. Dafür sind selbst kleinste Details durchdacht: Allein um die ideale Farbe für die Links zu finden, testete Google 41 verschiedene Blautöne.
Die blinden Flecken der User
Doch genau dieses Prinzip der intuitiven Bedienbarkeit bildet auch das Einfallstor für Manipulation. »UX Design hat die Aufgabe, uns so schnell wie möglich an ein bestimmtes Ziel zu bringen«, so Mildner. »Die ethische Frage dahinter ist: wessen Ziel? Das der User oder das der Anbieter?« Dark Patterns verführen Menschen zu Aktionen, die dem Anbieterunternehmen mehr nutzen als ihnen selbst: indem die Leute etwa ein teures Zusatzpaket buchen, ihre privaten Daten preisgeben oder eine dubiose App herunterladen.
Das Phänomen ist weit verbreitet. Nach einer Studie der Europäischen Kommission nutzen knapp vier von zehn Onlineshops manipulative Techniken: Sie präsentieren zum Beispiel falsche Countdowns, die Zeitdruck bei Kaufentscheidungen aufbauen, verstecken wichtige Informationen oder lotsen ihre Kunden geschickt zu besonders teuren Waren. Damit bewegen sie sich in einer juristischen Grauzone.
»Dark Patterns wirken vor allem bei Entscheidungen im schnellen Modus«Deborah Löschner, Psychologin
Websites wie die »Dark Patterns Hall of Shame« oder das Reddit-Forum »r/assholedesign« sammeln besonders dreiste Fälle. Ein Beispiel: Wer sein Prime-Abo bei Amazon in den USA kündigen will, muss sich durch eine labyrinthische Menüstruktur kämpfen. Einige Kunden geben vorher entnervt auf. Damit konnte der Konzern die Abo-Kündigungen um 14 Prozent senken, so eine Recherche der Nachrichtenseite »Business Insider«. Bei Amazon nannte man es intern »Project Iliad«, getauft nach Homers Epos »Ilias« über den langwierigen Krieg um Troja. Inzwischen geht die US-amerikanische Verbraucherschutzbehörde FTC gegen diese Praxis vor. Die deutsche Version von Amazon Prime ist übrigens etwas leichter zu kündigen, was an strengeren Gesetzen liegen könnte.
Dark Patterns
Fünf beliebte Marketing-Tricks – und die Psychologie dahinter
(1) Confirmshaming
Verbindet »bestätigen« mit »beschämen«: Websites formulieren eine bestimmte Option so unattraktiv wie möglich, um die Nutzer davon fernzuhalten. »Nein danke, ich möchte lieber kein Geld sparen«: Wer will schon gern auf so einen Button klicken?
Das steckt dahinter: der Framing-Effekt. Ein und dieselbe Information führt zu völlig unterschiedlichem Verhalten, je nachdem, wie sie formuliert ist.
(2) Gruppendruck
»Dieser Teigschaber ist schon bei zwölf anderen Kunden im Warenkorb«, steht in roten Lettern auf der Artikelseite. Soll heißen: Obacht, hier lauert ein attraktiver Verkaufsschlager!
Das steckt dahinter: der Mitläufereffekt. Menschen neigen dazu, das Verhalten ihrer Mitmenschen zu übernehmen. Was andere kaufen, wird ja wohl eine gute Wahl sein.
(3) Bait and Switch
Englisch für »ködern und auswechseln«: Die Website lockt mit einem tollen Angebot – und lotst einen dann zu etwas völlig anderem. Beispiel: Um das Ergebnis seines Persönlichkeitstests zu sehen, muss man sich ohne vorherige Ankündigung schnell noch für einen Newsletter eintragen.
Das steckt dahinter: der Sunk-Cost-Effekt (in etwa: Effekt der versunkenen Kosten). Haben wir Geld oder Zeit in ein Vorhaben investiert, fällt es uns schwerer, davon doch noch abzulassen – selbst dann, wenn es sich längst nicht mehr lohnt.
(4) Countdown
Das letzte verfügbare Zimmer zu diesem Preis, und nur noch fünf Minuten Zeit zum Buchen: Man soll sofort handeln, um ein tolles Angebot zu ergattern, sonst könnte es zu spät sein.
Das steckt dahinter: der Knappheitsprinzip. Was nur in kleiner Stückzahl oder für kurze Zeit verfügbar ist, erscheint automatisch wertvoller und begehrenswerter.
(5) Sneak into basket
Während des Kaufs mogelt sich ein ungewollter Artikel in den Warenkorb, etwa eine teure Zusatzversicherung für den Mietwagen. Wer diese nicht will, muss sie aktiv wegklicken.
Das steckt dahinter: der Default-Effekt. Menschen belassen es lieber bei der voreingestellten Option, statt selbst eine Entscheidung dagegen zu treffen: Das Angebot wird schon sinnvoll sein.
Damit solche Techniken funktionieren, nutzen die Manipulatoren geschickt blinde Flecken im menschlichen Denken. Die Psychologin Deborah Löschner von der Technischen Universität Dresden erklärt das mit dem so genannten Dualen Prozessmodell: »Wenn wir eine Entscheidung treffen, kann das auf zwei verschiedene Weisen geschehen: Entweder läuft es schnell und intuitiv. Dabei verlassen wir uns auf bestimmte Vorannahmen oder Faustregeln. Oder wir entscheiden langsamer, dafür aber genauer«, so Löschner. »Dark Patterns wirken vor allem bei Entscheidungen im schnellen Modus – indem beispielsweise ein Countdown neben einem Produkt abläuft und suggeriert, dass es bald vergriffen sein könnte.«
Wie wirksam diese Maschen sind, zeigte Jamie Luguri zusammen mit ihrem Kollegen Lior Jacob Strahilevitz im Jahr 2021 in einem realistischen Experiment mit knapp 2000 Teilnehmenden aus den USA. Dafür bastelte die Sozialpsychologin ihren eigenen manipulativen Onlineshop: Die Versuchspersonen erhielten eine Nachricht, dass sie persönlich für einen Service gegen Identitätsdiebstahl ausgewählt worden waren – kostenpflichtig, versteht sich. In einer Kontrollgruppe konnten die Probanden den Kauf einfach per Klick ablehnen. Die Teilnehmer aus zwei weiteren Gruppen wurden hingegen auf eine digitale Kaffeefahrt geschickt: Allerlei Tricks sollten sie dazu drängen, den dubiosen Service verbindlich zu buchen. Auf einer Schaltfläche hieß es beispielsweise: »Obwohl letztes Jahr 16,7 Millionen Amerikaner Opfer von Identitätsdiebstahl wurden, glaube ich nicht, dass mir das passieren kann.« In der Kontrollgruppe buchten elf Prozent der Teilnehmenden den Service. Schon bei sanftem Einsatz von Dark Patterns verdoppelte sich die Kaufrate. In der dritten Bedingung mit extremer Manipulation entschieden sich gar 42 Prozent der Probanden für den Kauf. Die Teilnehmenden mit niedrigem Bildungsabschluss waren dabei stärker gefährdet als die übrigen. Immerhin: Es blieb beim Experiment. Wirklich abgezockt wurde hier niemand.
Die Nutzer ärgern sich, aber nicht genug
Dark Patterns lohnen sich. Für kommerzielle Unternehmen gibt es wenig Gründe, von sich aus auf diese Tricks zu verzichten. »Einige Studien zeigen, dass das Vertrauen sinkt, wenn Plattformen Dark Patterns einsetzen«, so Thomas Mildner. »Doch leider ist es recht egal, ob Nutzerinnen und Nutzern das gefällt oder nicht, weil die Alternativen fehlen. So verwenden große Streamingdienste wie Netflix oder Amazon Prime ähnliche manipulative Techniken.« In der oben erwähnten Studie von Jamie Luguri reagierten die Probanden erst dann aufgebracht, als sie eine Extraportion der fiesen Mittel abbekamen. Blieb es bei einer sanften Dosis, blieb der Ärger aus und die Kaufrate stieg. Anders gesagt: Vielleicht werden die User sauer, aber nicht so sauer, dass es gefährlich für die Anbieter wäre, die ihr Geschäft machen wollen.
Das heißt jedoch nicht, dass Dark Patterns keinen Schaden anrichten. Ein kürzlich veröffentlichter Report der Europäischen Kommission drückt es so aus: Eine einzelne unfaire Praktik sei nicht weiter schlimm. Wer im Netz jedoch permanent Täuschungen und Mikro-Manipulationen ausgesetzt sei, riskiere zahlreiche Schäden: verlorene Zeit, Zustände von Angst oder eine Neigung zu Impulskäufen.
»Wir beobachten Online-Apathie«Deborah Löschner, Technische Universität Dresden
Außerdem lassen einige Dark Patterns das Herz vorübergehend schneller schlagen, was sich als erhöhte Anspannung deuten lässt. Mittlerweile ist nutzerfeindliches Design so verbreitet, dass es kaum noch auffällt: Wer viel im Netz unterwegs ist, gewöhnt sich schnell daran, bei stark hervorgehobenen Buttons skeptisch zu werden und den Bildschirmrand nach kaum sichtbaren hellgrauen Links abzusuchen, die einem den Weg aus der Falle weisen. Auch ist es eine Frage der Perspektive, welche Praktiken überhaupt als unfair gelten. Manch ein Kurs über digitales Marketing lehrt dieselben Methoden, vor denen Verbraucherschützer warnen. Was für die einen Dark Patterns sind, nennen die anderen lieber Persuasive Design oder Growth Hacking – also pfiffige Techniken, um Kunden zu »überzeugen« und so den Profit anzukurbeln.
»In unserer Forschung beobachten wir etwas, was wir Online-Apathie nennen: Viele nehmen es hin, dass Konzerne die Oberflächen gestalten und sie als Einzelperson keine Handhabe dagegen haben«, meint Deborah Löschner. Das zeigte sich auch in einer Studie von Kerstin Bongard-Blanchy und ihrem Team von der Universität Luxemburg: Die rund 400 Versuchspersonen waren geschult darin, Dark Patterns zu entdecken. Die Mehrheit erkannte mindestens fünf der neun Techniken, die ihnen vorgelegt worden. Zugleich stritten sie ab, dass die Maschen ihnen schaden könnten – oder es war ihnen egal. »Ich werde definitiv manipuliert, selbst wenn ich mir dessen bewusst bin. Es ist irrwitzig!«, erzählte ein Proband. Manche behaupteten auch, ihre Mitmenschen seien davon vielleicht gefährdet, nicht aber sie selbst. Sind wir so abgestumpft und müde von der digitalen Dauermanipulation, dass wir diese schulterzuckend in Kauf nehmen oder uns selbst überschätzen?
Organisierter Widerstand gegen Dark Patterns
Das ist nur ein Teil der Geschichte. »Neben der Apathie gibt es auch Strategien, sich zu wehren. Es gibt Kipppunkte im Verhalten. Wenn ich auf einer Website das zehnte nervige Pop-up sehe, breche ich lieber ab«, so Deborah Löschner. Sie nennt es ein Katz-und Maus-Spiel, bei dem beide Seiten ständig aufeinander reagieren: »Inzwischen hat sich das Design mancher Cookie-Banner so geändert, dass nun der Button ›Alle ablehnen‹ farblich hervorgehoben ist.« Es bleibt die Frage, was hilft, um nicht unnötig in die fiesen Designfallen zu tappen. Gesetze wie der Digital Service Act, der seit Februar 2024 EU-weit für digitale Unternehmen gilt, verbieten Dark Patterns. So darf es beispielsweise nicht schwieriger sein, ein Abo zu kündigen, als eines abzuschließen. Besonders hinterhältige Fälle kann man der Verbraucherzentrale melden.
»Es würde genügen, eine kleine Hürde ins Design einzubauen, die uns noch ein paar Sekunden Nachdenken erlaubt«Thomas Mildner, Informatiker
In der Praxis machen dennoch viele Plattformen weiter wie bisher. Dann gilt es, sich privat zu schützen. »Studien zeigen klar, dass wir unter Zeitdruck schlechter entscheiden«, sagt Deborah Löschner. »Internetkäufe tätige ich also lieber im wachen, konzentrierten Zustand – und nicht beim Warten an der Ampel oder nachts nach dem Kneipenbesuch.« Dazu kommen technische Helferlein: Erweiterungen für den Browser wie uBlock Origin oder NoScript schützen vor Werbung und Trackern. Gegen ausgefeilte Dark Patterns wären aber andere Mittel nötig. »Es würde genügen, eine kleine Hürde ins Design einzubauen, die uns noch ein paar Sekunden Nachdenken erlaubt, bevor wir uns entscheiden«, meint Thomas Mildner.
Genau das versucht das Dark Pattern Detection Project. Dort tüfteln Informatiker von der Universität Heidelberg an einem Add-on, das digitale Fallen automatisch erkennt und davor warnt. Deborah Löschner betont, dass alte Menschen besonders gefährdet sind. »Wer körperlich oder geistig eingeschränkt ist, hat es schwerer, Dark Patterns wahrzunehmen. Ich ermutige dazu, auch auf Angehörige aufzupassen. Vielleicht gebe ich meiner Oma also lieber noch einen Crashkurs im Onlineshopping.« Doch es trifft eben nicht nur alte Menschen, die mit dem Internet weniger Erfahrung haben. Selbst wer sich intensiv mit dem Thema beschäftigt, ist vor den Fallen nicht gefeit, erzählt Thomas Mildner: »Auch ich ertappe mich hin und wieder, wie ich bei einem Cookie-Banner versehentlich auf ›Akzeptieren‹ klicke, obwohl ich das gar nicht will.«
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