Klimatologie: Das antarktische Paradox
Wer sich an der Kryosphäre – der Welt des ewigen Eises – erfreut, für den lieferte der vergangene Sommer eine Hiobsbotschaft: Auf nur noch 3,41 Millionen Quadratkilometer Ausdehnung schrumpfte das arktische Meereis bis zum 16. September 2012 – ein historischer Tiefstand, seit Satelliten in den 1970er Jahren die Beobachtung des Nordpols begannen. Seit damals verschwanden pro Jahrzehnt etwa 12 Prozent der sommerlichen Eisdecke: ein Verlust von weit mehr als 2,5 Millionen Quadratkilometer. Der letzte Sommer setzte nur ein neues Ausrufezeichen, so Claire Parkinson vom NASA Goddard Space Flight Center: "Es ist definitiv ein weiterer Hinweis, dass das arktische Meereis in den letzten Jahren viel anfälliger geworden ist und sich in einem langzeitigen Niedergang befindet."
Während den Eisverlust im hohen Norden ein breites Medienecho begleitet, spielt sich weit gehend unbemerkt im Süden ein gegenläufiger Prozess ab. "In der Antarktis wächst das Meereis insgesamt", erklärt Parkinson, schränkt aber ein: "Diese Zunahme hält aber nicht annähernd Schritt mit dem Rückgang in der Arktis." Um durchschnittlich 17 000 Quadratkilometer pro Jahr hat sich die weiße Decke demnach seit 1978 ausgedehnt, und der Trend scheint sich in den letzten Jahren um die Hälfte beschleunigt zu haben, deuten Zahlen der NASA an. Zudem hat sich auch das sommerliche Minimum um 650 000 Quadratkilometer vergrößert: Während der Tauperiode bleibt also ein größerer Teil des Meereises erhalten und bildet die Basis für den nächsten Winter – eine Tendenz, die der Entwicklung am Nordpol ebenfalls völlig entgegenläuft.
Die Rolle der Geografie
Steigende Temperaturen verantworten den größten Teil der arktischen Schwindsucht: Die Region zählt zu den Weltgegenden, die sich in den letzten Jahrzehnten überdurchschnittlich stark erwärmt haben. Eine wichtige Rolle spielt aber auch die besondere Lage der Arktis, die größtenteils ein von Landmassen umgebenes Meeresgebiet ist, während die Antarktis vor allem aus einer Landmasse besteht, die gänzlich von Ozeanen umschlossen ist. "Nordamerika, Grönland und Eurasien umzingeln den Arktischen Ozean und halten damit das Meereis größtenteils 'gefangen'. Es wächst und schrumpft damit zwar im Jahresrhythmus, größere Bestände überdauerten in der Vergangenheit aber auch und entwickelten sich zu dickerem, mehrjährigen Eis weiter", beschreibt Parkinson die Situation. Verschwindet die Gefrornis jedoch, setzt ein sich selbst verstärkender Prozess ein: Während das weiße Eis den weitaus größten Teil des eingestrahlten Sonnenlichts wieder reflektiert, speichert es das frei gelegte dunkle Wasser als Wärmeenergie – die wiederum die Schmelze verstärkt. Verschiedene Strömungen exportieren zudem Eis in südlicher gelegene Gewässer, wo es taut.
"Rund um die Antarktis ist das Eis kontinuierlich in Bewegung", sagt Paul Holland vom British Antarctic Survey in Cambridge, der zusammen mit Ron Kwok vom California Institute of Technology in Pasadena die Ursachen für den Eiszuwachs am Südpol erforscht [1]. Doch Winde und Ozeanströmungen umkreisen die Region und riegeln sie dadurch beinahe hermetisch vor den Klimaeinflüssen niedrigerer Breiten ab. Während des eisigen Winters gefrieren daher innerhalb dieses Zirkels weite Teile des Meeres – eine Fläche, die der doppelten Fläche Europas entspricht –, sie tauen allerdings während des Sommers auch wieder größtenteils auf. Nur in den großen Schelfeisgebieten geschützter Buchten wie im Ross- oder Weddell-Meer bleibt das Eis über den Sommer hinweg, und diese Regionen sind es auch, die vorwiegend vom Zuwachs betroffen sind, wie die NASA-Satelliten zeigen: Allein auf das Ross-Schelfeis entfallen etwa 80 Prozent des Zugewinns.
Was verursacht den Zuwachs?
Lange wurde spekuliert, dass das südpolare Ozonloch das Wachstum auslöst: Mangels Ozon kühlt sich die Atmosphäre über der Antarktis ab, so dass mehr Eis im Winter gefrieren kann und weniger im Sommer verloren geht. So ließ das Ozonloch wirklich die regionalen Temperaturen sinken, dennoch spielen sie für die Massenbilanz kaum eine Rolle, schreiben zum Beispiel Michael Sigmond von der University of Toronto und John Fyfe vom Canadian Centre for Climate Modelling and Analysis in Victoria [2]. Vielmehr müsste die Massenbilanz dadurch sogar negativ werden: Rund um den Eiskontinent haben sich wegen des Ozonlochs in den letzten Jahrzehnten die zirkumpolaren Westwinde verstärkt und den Luftmassenaustausch mit höheren Breiten erschwert, wie Messungen belegen. Dadurch strömt weniger warme Luft aus höheren Breiten ein, was zur beobachteten Abkühlung beispielsweise der Ostantarktis beiträgt. Gleichzeitig müssten diese Stürme aber zumindest in den Berechnungen auch den so genannten Ekman-Transport antreiben, der als charakteristisches Strömungsmuster am Übergang zwischen Ozeanoberfläche und Atmosphäre das Meereis von den Küsten wegtreibt – ein Prozess, der vor allem im Südsommer wirkt. Im Winter hingegen dürfte sich das Eis nicht mehr so weit äquatorwärts ausdehnen, da sich Kaltwasserregionen wegen des in Richtung der Antarktis verlagerten Westwindgürtel großflächig in Richtung des Pols zurückziehen sollten.
Diese Trends lassen sich mancherorts tatsächlich beobachten, bestätigt Paul Holland: "Starke Winde treiben das Meereis zum Teil vom Kontinent weg." Das gilt etwa für die Antarktische Halbinsel, die als einzige Region der Antarktis die Strömungsgürtel von Wind und Ozean in Richtung Südamerika durchbricht und deren Schelfeisgebiete daher mittlerweile großflächig zerstört sind oder momentan zerfallen. Schuld sind daran zum Teil steigende Temperaturen, da sich die Halbinsel wegen ihrer exponierten Lage im Gegensatz zum restlichen Kontinent in den letzten Jahrzehnten ebenfalls stark erwärmt hat. Zum anderen wirken die fast kontinuierlich über den antarktischen Wurmfortsatz wehenden Westwinde doppelt: Sie blasen die fragmentierten Eisschollen hinaus aufs Meer – und heizen ihnen auf der Ostseite der Halbinsel als warmer Föhn zusätzlich ein. Da sich diese Stürme in der jüngeren Vergangenheit verstärkt haben, hat sich auch ihre Wirkung potenziert. Hier zeige sich der gleiche Trend wie am Nordpol, so Holland: "Die Bellingshausen-See an der Westseite der Antarktischen Halbinsel geht das Eis fast so schnell verloren wie in der Arktis."
Doch das betreffe eben nicht alle Bereiche der Antarktis, schränkt Holland ein: "Seit 1992 hat sich die Drift verändert. Mancherorts hat sich der Eisexport verdoppelt, während er an anderer Stelle beträchtlich zurückgegangen ist." Stürme an der Packeisgrenze und Fallwinde, die vom teilweise mehrere tausend Meter mächtigen Eisschild des Südkontinents hinunter zur See blasen, reißen beispielsweise am Ross-Schelfmeer die Eisdecke auseinander. Sie sorgen hier aber nicht für Verlust – im Gegenteil. "Dadurch entstehen zwar offene Flächen, die so genannten Polynjas, die mehrere tausend Quadratkilometer groß sein können. Da das Wasser jedoch gleich wieder mit der extrem eisigen Luft des antarktischen Winters in Berührung kommt, gefriert es auch rasch wieder", beschreibt Josefino Comiso vom NASA Goddard Space Flight Center, warum hier netto ein Zuwachs entsteht: "Solange die heftigen Stürme wehen, expandiert das Eis nach Norden." Kurze Zeit nachdem das arktische Meereis sein trauriges Minimum für 2012 erreicht hatte, meldeten Satelliten einen neuen Beobachtungsrekord aus dem Süden: Mit knapp 19,4 Millionen Quadratkilometern verschwand eine knappe halbe Million Quadratkilometer mehr unter der weißen Decke als im Schnitt der letzten 30 Jahre.
Dieser Prozess funktioniert aber nur in der nahezu hermetischen Isolation der Antarktis. Die Stärke der Fallwinde etwa wird über die Temperaturen gesteuert, die wegen des Ozonlochs gefallen sind und im zentralen Bereich des Kontinents nicht durch Zustrom wärmerer Luftmassen abgemildert werden. Die Arktis hingegen ist viel stärker in das globale Strömungssystem von Atmosphäre und Ozean eingebunden: Größere Eismengen verlassen beispielsweise auf verschiedensten Seewegen wie etwa dem Labradorstrom die Region und gehen verloren. Im Gegensatz zu den extremen Fallwinden der Antarktis, die sich ebenso im Winter entwickeln, treten das Packeis zerreißende Stürme im Nordpolarmeer vor allem im Sommer auf: Das freigesetzte Wasser friert unter den dann herrschenden Bedingungen nicht wieder zu.
Der antarktische Sonderfall stellt daher die globale Erwärmung nicht in Frage. Eine frühere NASA-Studie habe zudem gezeigt, dass sich das Meereis am Südpol zwar vermehrt, zwischen 2003 und 2008 wurde es aber auch dünner, so Parkinson: "Das Klima verändert sich eben nicht einheitlich. Manche Erdteile können aus der Reihe scheren, selbst wenn sich das System insgesamt erwärmt." Vielleicht scheren größere Flächen der Antarktis zukünftig noch extremer aus der Reihe, denn auch hier vollziehen sich Rückkopplungseffekte – nur anderer Art: Das Eis dämmt das relativ warme Wasser gegen die kalte Luft ab, so dass es nicht mehr ausgleichend wirken kann. An der Oberfläche wird es also noch kälter.
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