Uraltes Erbgut: Das bislang älteste Genom eines modernen Menschen liegt vor
Nur ein einzelner fossiler Oberschenkelknochen ist übrig geblieben von einem Mann, der vor rund 45 000 Jahren als Jäger und Sammler im heutigen Sibirien lebte. Sein Erbgut aber haben Forscher jetzt entziffert – es ist die älteste Gensequenz von einem modernen Vertreter unserer eigenen Art. Nur die bereits entzifferten Genome von Neandertaler und Co. sind älter. Für das vielköpfige Forscherteam um Bence Viola und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig liefert die nun entzifferte Erbgutsequenz eine Vielzahl von weiteren Fakten über die Frühphase der menschlichen Expansion aus Afrika.
Damals drangen offenbar Menschen während einer klimatisch günstigen Phase weit nach Norden vor – so auch bis in die Gegend um Ust'-Ishim. Nach diesem Bezirk im westlichen Sibirien in der Oblast Omsk ist der Fund benannt. Ein Mammutelfenbein-Sammler hatte ihn per Zufall entdeckt und an die Forscher weitergereicht. Als diese die Ergebnisse der C-14-Datierung sahen, war die Überraschung groß: "Wir haben den Jackpot geknackt", sagt Koautor Viola. Mit einem Alter von 43 000 bis 47 000 Jahren stellt der Fund den ältesten direkt datierten anatomisch modernen Menschen außerhalb Afrikas und des Mittleren Ostens dar.
Sein Genom haben die Wissenschaftler jetzt mit hoher Genauigkeit entziffert und mit dem zahlreicher anderer Menschen verglichen. Zum einen zeigte sich, dass sich bereits die Vorfahren des Mannes mit Neandertalern vermischt haben – das schließen die Forscher aus Resten von Neandertaler-Erbgut in seinem Genom. Zum anderen fanden sie heraus, dass die verwandtschaftliche Distanz des Mannes von Ust'-Ishim zu frühzeitlichen Europäern etwa gleich hoch ist wie zu heutigen Asiaten. Ein bemerkenswerter Befund, denn er legt nahe, dass sich zu Lebzeiten des Mannes diese beiden Populationen noch nicht aufgespalten hatten. Aus der gemeinsamen Vorläuferpopulation der beiden entsprang vermutlich die Gruppe, deren nordwärtsgerichtete Wanderung die Vorfahren des Mannes von Ust'-Ishim nach Sibirien brachten. Aller Wahrscheinlichkeit nach starb diese Gruppe in der Folgezeit aus.
Isolierte Wanderung nach Sibirien
Damit gehört der Mann allerdings auch keiner der bislang identifizierten asiatischen Auswanderergruppen an – weder einer angenommenen frühen Bewegung, als deren Nachfahren unter anderem die Aborigines gesehen werden, noch einer späten, aus der sich die meisten heutigen Ostasiaten rekrutieren sollen. Die Entdeckung folgt damit einem Trend der letzten Jahre: Wo immer sich neue Erkenntnisse über die frühen Wanderungsbewegungen der Menschen ergeben, verkomplizieren sie das bisherige Bild um unerwartete Details.
Wie die Wissenschaftler weiter berichten, lässt sich aus dem Erbgut des Mannes überdies kalkulieren, wann sich Mensch und Neandertaler vermischten. Bisher hatte es nur grobe Schätzungen über den Zeitpunkt gegeben, jetzt ließ es sich auf 50 000 bis 60 000 Jahre vor heute eingrenzen. Dies ist möglich, weil fremde Einsprengsel in der DNA mit jeder Generation weiter zerstückelt werden. Grund dafür ist die Vermischung mütterlicher und väterlicher DNA. Je größer die Abschnitte von Neandertaler-DNA, desto weniger Zeit ist seit der ersten Vermischung vergangen.
Nur geringe Neandertaler-Einsprengsel
Insgesamt lag der Anteil der fremden Neandertaler-DNA mit 2,3 Prozent nur leicht über dem heutzutage in Europa üblichen Wert von unter 1,8 Prozent und etwa auf dem Niveau heutiger Asiaten. Erbgut von Denisova-Menschen, die wohl zeitgleich in derselben Gegend lebten, fand sich nicht.
Die Kombination von präziser Altersbestimmung und kompletter DNA-Sequenz erlaubt außerdem, die molekulare Uhr des Menschen genauer zu kalibrieren. Sie gibt an, wie stark sich das Erbgut im Schnitt im Lauf der Zeit verändert. Je exakter dieser Wert bekannt ist, desto besser lassen sich Stammbäume mit Zeitangaben versehen: Wann sich beispielsweise moderner Mensch und Neandertaler voneinander trennten, lässt sich mit Hilfe der molekularen Uhr abschätzen. Zuletzt hatten Forschungen ergeben, dass die "Evolutionsuhr" in den Genen langsamer tickt, als man es aus Fossilfunden abgeleitet hatte. Das bestätigen nun Pääbo und Kollegen.
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