Covid-19: Das Coronavirus mutiert – wie gefährlich ist das?
Als Covid-19 Anfang des Jahres 2020 begann, sich weltweit auszubreiten, beschäftigte den Virologen David Montefiori vor allem eine Frage: Wie würde sich Sars-CoV-2, das Virus hinter der Pandemie, bei der Übertragung von Mensch zu Mensch mit der Zeit verändern? Montefiori hat den größten Teil seiner beruflichen Laufbahn damit verbracht, zu untersuchen, wie zufällige Mutationen dem Aids-Virus HIV helfen, sich vor dem Immunsystem zu verstecken. Solche Veränderungen, so vermutete er, könnte auch das neue Coronavirus durchmachen.
Im März kontaktierte Montefiori, der an der Duke University in Durham in North Carolina ein Impfstoff-Forschungslabor leitet, die Biologin Bette Korber vom Los Alamos National Laboratory (LANL) in New Mexico. Korber ist Expertin auf dem Gebiet der HIV-Evolution und eine langjährige Kollegin Montefioris. Sie hatte bereits damit begonnen, tausende Gensequenzen des Coronavirus nach Mutationen zu durchsuchen, die seine Eigenschaften auf seinem Weg um den Globus verändert haben könnten.
Eine Mutation fiel Korber dabei immer wieder in Proben von Menschen auf, die positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden waren. Sie betrifft das Gen für das Spike-Protein, das dem Virus hilft, in Zellen einzudringen. Auf Grund eines Kopierfehlers wurde im insgesamt 29 903 Buchstaben umfassenden RNA-Code des Virus ein einzelnes Nukleotid ausgetauscht: An der Aminosäureposition 614 des Spike-Proteins wurde dadurch aus der Aminosäure Aspartat (in biochemischer Kurzschrift D) die Aminosäure Glycin (G). Virologen nennen die Mutation deshalb auch D614G.
Im April 2020 warnten Korber, Montefiori und einige Kollegen in einer vorab auf dem Preprint-Server bioRxiv veröffentlichen Studie, dass »die Häufigkeit von D614G mit Besorgnis erregender Geschwindigkeit zunimmt«. In Europa wurde sie tatsächlich bald zur dominierenden Sars-CoV-2-Linie. Dann setzte sie sich auch in den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien durch. Die neue Virusvariante hätte sich als Produkt natürlicher Selektion herausgebildet und stelle eine »leichter übertragbare Form von Sars-CoV-2« dar, schrieben die Forscher in ihrer Arbeit.
Viele ihrer Kollegen waren von diesen Aussagen entsetzt. Es sei gar nicht sicher, argumentierten sie, dass die D614G-Viruslinie leichter übertragbar sei oder ihre Zunahme auf irgendetwas Ungewöhnliches hindeute. Doch in den Medien dominierte längst die Sorge um die Mutanten. Zwar zitierten viele Nachrichtenberichte auch die Vorbehalte der anderen Forscher. Aber manche Schlagzeile ließ keinen Zweifel: Das Virus wird durch Mutation gefährlicher. Rückblickend bedauern Montefiori und seine Kollegen, die Verbreitung der neuen Variante zunächst als »Besorgnis erregend« bezeichnet zu haben. Das Wort wurde dann auch aus der begutachteten Version des Artikels gestrichen, welche die Wissenschaftler im Juli im Fachmagazin »Cell« veröffentlichten.
Trotz allem löste die Arbeit ein riesiges Interesse an D614G aus. Selbst diejenigen, die zuvor skeptisch gewesen waren, ob die Mutation wirklich die Eigenschaften des Virus verändert hatte, stimmten zu: Der kometenhafte Aufstieg der Mutation und ihre Verbreitung waren faszinierend. Seit Monaten ist die neue Virus-Linie in fast allen sequenzierten Proben von Sars-CoV-2 zu finden. »Diese Variante ist jetzt die Pandemie«, scheiben etwa Nathan Grubaugh, Epidemiologe an der Yale School of Public Health in New Haven, Connecticut, und zwei Kollegen in einem »Cell«-Essay über die Ergebnisse von Korber und Montefiori. »Ihre Eigenschaften haben nun echte Auswirkungen.«
Was genau es mit D614G auf sich hat, ist allerdings weit weniger eindeutig, als die Arbeit von Montefiori und Korber zunächst beschrieb. Zwar legen einige Experimente nahe, dass Viren, welche die Mutation tragen, Zellen leichter infizieren können. Andere Studien dagegen sehen Grund zum Optimismus: Die Variante könnte es vielleicht leichter machen, Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 zu finden. Viele Forscher konstatieren, es gebe keinen soliden Beweis für die Annahme, dass D614G die Ausbreitung des Virus überhaupt in irgendeiner Weise beeinflusst oder dass natürliche Selektion den Aufstieg der Mutation erklärt. »Das ist alles noch offen«, sagt Timothy Sheahan, Coronavirus-Forscher an der University of North Carolina in Chapel Hill. »Die Mutation kann etwas bedeuten oder auch nicht.«
Die Mutationen des Coronavirus werfen bislang mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Und zumindest bisher sei noch keine Veränderung bei Sars-CoV-2 gefunden, über die man sich ernsthaft Sorgen machen müsse, sagen Forscher wie Sheahan oder Grubaugh. Trotzdem könnte es für die Kontrolle über die Pandemie entscheidend sein, bestimmte Mutationen im Detail zu untersuchen – auch um den bedrohlichsten Varianten des Virus vorzubeugen: solchen etwa, die dem Virus helfen, sich dem Immunsystem, Impfstoffen oder Antikörpertherapien zu entziehen.
Langsamer Wandel
Schon bald nachdem Sars-CoV-2 in China entdeckt worden war, begannen Forscher damit, Virusproben zu analysieren und die genetischen Codes online zu veröffentlichen. Wie diese Daten zeigten, unterscheidet sich das Virusgenom von einem Menschen zum anderen meistens nur in einzelnen ausgetauschten RNA-Buchstaben. Das ermöglicht es Wissenschaftlern, die Ausbreitung des Virus durch die Verknüpfung eng verwandter Varianten zu verfolgen und abzuschätzen, wann Sars-CoV-2 begonnen hat, Menschen zu infizieren.
Viren, deren Genom aus RNA besteht – wie etwa Sars-CoV-2, HIV und Influenza –, mutieren relativ schnell, wenn sie sich in den Zellen ihrer Wirte vervielfältigen. Denn die Enzyme, die RNA kopieren, machen recht viele Fehler. So entwickelte das Virus, welches das schwere akute respiratorische Syndrom (Sars) auslöst, schon bald nachdem es begann, sich in Menschen zu verbreiten, eine Mutation (bei der in diesem Fall Nukleotidsequenzen gelöscht wurden), die seine Ausbreitung verlangsamt haben könnte.
Allerdings deuten Sequenzierungsdaten darauf hin, dass sich Coronaviren insgesamt langsamer verändern als die meisten anderen RNA-Viren. Der Grund ist vermutlich ein »Korrekturlese«-Enzym, das potenziell fatale Fehler wieder korrigiert. Ein typisches Sars-CoV-2-Virus erwerbe pro Monat nur etwa zwei Mutationen, bei denen einzelne RNA-Buchstaben verändert sind, erklärt Emma Hodcroft, Molekularepidemiologin an der Universität Basel. Die Veränderungsrate des Virus sei damit gerade einmal halb so groß wie die von Influenza-Viren und nur ein Viertel so groß wie die von HIV.
Das untermauern auch Genomdaten. Bislang sind mehr als 90 000 Virus-Isolate sequenziert und veröffentlicht worden. Nimmt man zwei beliebige Proben aus diesem weltweiten Pool heraus, unterscheiden sich bei ihnen im Durchschnitt nur 10 der insgesamt 29 903 RNA-Buchstaben von Sars-CoV-2, sagt Lucy Van Dorp, Computergenetikerin am University College London.
Doch trotz des schleppenden Wandels im Virusgenom haben Forscher schon mehr als 12 000 Mutationen von Sars-CoV-2 katalogisiert. Längst nicht alle sind untersucht oder gar verstanden – die Mutationsrate ist deutlich höher als die Erkenntnisrate der Forscher. Man kann aber davon ausgehen, dass die meisten Mutationen keinen Einfluss auf die Form der Virus-Proteine haben und damit auch nicht die Fähigkeit des Virus, sich zu verändern, sich auszubreiten oder Krankheiten zu verursachen. Und diejenigen Mutationen, welche die Proteine doch verformen, schaden dem Virus wahrscheinlich mehr, als dass sie ihm nützen. »Es ist viel einfacher, etwas kaputt zu machen, als es zu verbessern«, sagt Hodcroft, die im Rahmen des Projekts Nextstrain versucht, Sars-CoV-2-Genome in Echtzeit zu analysieren.
Wenn es tatsächlich eine Mutation gab, die dem Virus geholfen hat, sich schneller auszubreiten, dann tauchte sie wahrscheinlich bereits ganz am Anfang auf, vermuten viele Wissenschaftler. Etwa als das Virus erstmals Menschen infizierte oder begann, effizient von einer Person zur nächsten zu springen. Aktuell – zu einer Zeit, in der fast jeder Mensch für das Virus anfällig ist – ist der evolutionäre Druck, sich effizienter zu verbreiten, vermutlich gering. So können sich selbst potenziell nützliche Mutationen wahrscheinlich nicht durchsetzen.
Schnellere Ausbreitung?
Als Korber sah, wie schnell sich D614G ausbreitete, hielt sie die Mutation für ein mögliches Beispiel nützlicher natürlicher Selektion. Aufgefallen war ihr die Veränderung auf Grund von deren Position im Spike-Protein, dem Hauptangriffsziel für neutralisierende Antikörper. Diese passgenauen Moleküle des adaptiven Immunsystems binden an das Oberflächenprotein des Virus und nehmen ihm so die Fähigkeit, in Zellen einzudringen und sich zu vermehren.
Tatsächlich sind D614G-Viren in mehreren Teilen der Welt auf dem Vormarsch. Forscher entdeckten die Mutation erstmals Ende Januar 2020 in China und Deutschland. Die meisten Wissenschaftler vermuten, dass sie in China entstanden ist. Inzwischen geht D614G fast immer mit drei Mutationen in anderen Teilen des Sars-CoV-2-Genoms einher – ein Hinweis darauf, dass die meisten D614G-Viren einen gemeinsamen Vorfahren haben.
Vor den ersten Lockdowns waren in ganz Europa sowohl nicht mutierte »D«-Viren als auch mutierte »G«-Viren zu finden. Genetiker entdeckten damals D-Viren in den meisten der westeuropäischen Staaten, in denen sie Proben sammelten. Im März nahm dann die Häufigkeit der G-Variante auf dem gesamten Kontinent zu, und im April dominierte die Variante schließlich, wie Korber, Montefiori und ihr Team berichteten.
»Es ist viel einfacher, etwas kaputt zu machen, als es zu verbessern«
Emma Hodcroft, Molekularepidemiologin
Doch natürliche Selektion zu Gunsten von G-Viren ist nicht die einzige mögliche Erklärung für dieses Muster. Sie ist nicht mal die wahrscheinlichste. Die Dominanz der G-Varianten in Europa könnte nämlich auch dem Zufall geschuldet sein – zum Beispiel weil die Mutation unter den in Europa eingeschleppten Viren etwas häufiger vorkam als andere. Denn eine kleine Anzahl von Individuen kann für den Großteil der Infektionen verantwortlich sein, und eine frühe, zufällige Überzahl von G-Viren könnte den scheinbaren Sieg dieser Abstammungslinie ebenfalls erklären.
Solche »Gründereffekte« kommen bei Viren häufig vor, insbesondere wenn sie sich unkontrolliert ausbreiten, was bei Sars-CoV-2 bis Mitte oder Ende März in weiten Teilen Europas der Fall war. Korber und ihre Kollegen haben versucht, solche Effekte auszuschließen. In ihrem Preprint-Artikel vom April konnten sie zum Beispiel zeigen, dass D614G auch in Kanada, Australien und Teilen der USA andere Varianten schnell überholt hatte (eine Ausnahme ist Island, wo G-Viren, die zu Beginn des Ausbruchs vorhanden waren, von D-Viren abgelöst wurden). Bei der Analyse von Krankenhausdaten aus dem britischen Sheffield fanden sie keine Hinweise darauf, dass die mutierten Viren Menschen kränker machten. Aber Patienten, die mit G-Viren infiziert waren, schienen etwas größere Mengen viraler RNA in Nase und Mund zu tragen als diejenigen mit D-Viren. Viele Wissenschaftler waren dennoch nicht davon überzeugt, dass die Verbreitung von D614G relevant für die Pandemie war. »Ich fand den Vorabdruck unglaublich voreilig«, sagt etwa Sheahan.
Montefiori ist der Auffassung, dass Korbers und seine Perspektive auf D614G von ihrer bisherigen Arbeit an HIV geprägt ist. Die hatte schließlich zu der Erkenntnis beigetragen, dass selbst scheinbar unbedeutende Mutationen einen großen Einfluss darauf haben können, wie gut das Immunsystem ein Virus erkennt. »Das hat bei uns die Alarmglocken läuten lassen«, sagt er. »Wir mussten der Fragen nachgehen, ob sich das auch auf die Wirksamkeit von Impfstoffen auswirkt.«
Die ersten Laborstudien
Um herauszufinden, ob D614G das Coronavirus übertragbarer macht, untersuchte Montefiori anschließend die Auswirkungen der Mutation unter Laborbedingungen. Allerdings besaß sein Labor nicht die nötige biologische Schutzstufe für die Arbeit mit dem Wildtyp des neuen Coronavirus. Also nutzte er stattdessen eine genetisch veränderte Form von HIV, die das Spike-Protein von Sars-CoV-2 auf seiner Oberfläche trug und zur Infektion von Zellen nutzte. Solche »Pseudoviren« ermöglichen es Forschern, tödliche Krankheitserreger wie Ebola unter sicheren Bedingungen zu untersuchen, und machen es einfach, die Auswirkungen von Mutationen zu testen.
Über die ersten Pseudovirus-Experimente mit D614G-Mutation berichtete im Juni 2020 eine Gruppe von Hyeryun Choe und Michael Farzan, Virologen am Scripps Research Institute in La Jolla, Kalifornien. Aber auch andere Wissenschaftler haben inzwischen ähnliche Studien auf bioRxiv veröffentlicht, darunter auch Montefiori. Zwar nutzten die Untersuchungen verschiedene Pseudovirus-Systeme und testeten sie an verschiedenen Zelltypen, doch die Experimente wiesen allesamt in die gleiche Richtung: Viren, welche die G-Mutation tragen, infizieren Zellen sehr viel leichter als D-Viren – in einigen Fällen waren sie um ein Zehnfaches effizienter.
Zumindest unter Laborbedingungen seien sich die beteiligten Forscher alle einig gewesen, dass der Übergang von D auf G die Viren infektiöser mache, sagt Jeremy Luban, Virologe an der medizinischen Fakultät der University of Massachusetts in Worcester. Doch die Aussagekraft von Laborstudien ist begrenzt – und ihre Relevanz für menschliche Infektionen unklar. Erschwerend kommt hinzu, dass die Pseudoviren den meisten Fällen nur das Coronavirus-Spike-Protein auf ihrer Oberfläche tragen. Folglich können solche Experimente nur die Fähigkeit der Viruspartikel testen, in Zellen einzudringen. Andere Aspekte, etwa die Aktivität des Virus im Inneren von Zellen, geschweige denn auf einen ganzen Organismus, bleiben außen vor. Obendrein fehlen die anderen drei Mutationen, die fast alle D614G-Viren tragen. »Unter dem Strich muss man sagen: Solche Viren sind nicht das Coronavirus«, sagt Luban.
Einige Labors arbeiten mittlerweile auch mit infektiösen Sars-CoV-2-Viren, die sich nur in der einen Aminosäure voneinander unterscheiden. Sie werden an Laborkulturen menschlicher Lungen- und Atemwegszellen getestet oder an Labortieren wie Frettchen und Hamstern. Die erste Studie zu solchen Experimenten wurde am 2. September 2020 von Forschern der University of Texas Medical Branche in Galveston auf dem Preprint-Server bioRxiv veröffentlicht. Darin berichten die Autoren, dass Viren mit D614G-Mutation in menschlichen Lungenzellen und in Geweben der Atemwege infektiöser waren als D-Viren. Und dass mutierte Viren sich in oberen Atemwegen infizierter Hamster stärker vermehrten als nicht mutierte.
Der stärkste Hinweis darauf, dass D614G auch einen Einfluss auf die Ausbreitung von Sars-CoV-2 beim Menschen haben könnte, liefert bislang ein britisches Projekt: das Covid-19 Genomics UK Consortium, das die Genome von rund 25 000 Virusproben analysiert hat. Anhand dieser Daten haben die Forscher mehr als 1300 Fälle identifiziert, in denen ein Virus von außen in das Vereinigte Königreich eingetragen wurde und sich dort verbreitet hat, darunter auch einige D- und G-Typ-Viren.
Ein Team unter Leitung von Andrew Rambaut, Evolutionsbiologe an der University of Edinburgh, Erik Volz, Epidemiologe am Imperial College London, und dem Biologen Thomas Connor von der Cardiff University verfolgte in diesen Daten die Ausbreitung von 62 Covid-19-Clustern in Großbritannien nach, die von D-Viren ausgingen, und von 245 Clustern, die durch G-Viren entstanden. Sie fanden keine klinischen Unterschiede bei Menschen, die mit einer der beiden Varianten infiziert waren. Allerdings wurden G-Viren tendenziell etwas schneller übertragen und bildeten größere Infektionscluster. Volz erklärt, der geschätzte Unterschied in den Übertragungsraten liege bei rund 20 Prozent. Rambaut sagt dazu: »Absolut gesehen ist dieser Effekt nicht besonders groß.«
Es ist durchaus möglich, dass D614G eine Mutation ist, die dem Virus dabei hilft, Zellen zu infizieren, oder die mit anderen Varianten konkurriert, ohne dass dies die Verbreitung von Sars-CoV-2 in der Bevölkerung merklich verändert, sagt Rambaut. Grubaugh sieht das ähnlich. Laut ihm hat D614G zu viel Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern bekommen. Dennoch sieht auch er in der Mutation eine Gelegenheit, etwas über ein Virus zu lernen, das sonst keine sonderlich große genetische Vielfalt hervorbringt. »Der Virologe in mir sagt, die Erforschung dieser Fragen macht sicher viel Spaß«, sagt er. »Das ist ein regelrechter Kaninchenbau, den man da erkunden kann.«
In guter Gesellschaft wäre er dabei. Die intensive Erforschung von D614G dürfte dazu beitragen, zu verstehen, wie Sars-CoV-2 mit der Zellwand fusioniert, sagt etwa Jeremy Luban. Diesen Prozess könnte man dann zum Beispiel durch Medikamente blockieren oder mit einem Impfstoff behindern.
In einer aktualisierten Version seiner Pseudovirus-Experimente hat Lubans Team nun mit Hilfe der Kryoelektronenmikroskopie die Struktur der Spike-Proteine von Viren analysiert, welche die D614G-Veränderung tragen. Das Spike-Protein besteht aus drei identischen Peptiden, die sich entweder in einer »offenen« oder »geschlossenen« Orientierung befinden. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass mindestens zwei der drei Peptide offen sein müssen, damit ein Viruspartikel mit der Zellmembran fusionieren kann. Lubans Arbeitsgruppe entdeckte, dass sich Viren, welche die G-Spike-Variante tragen, viel wahrscheinlicher in diesem Zustand befinden. Computergestützte Modellierungen des Spike-Proteins von Montefiori und Korber unter der Leitung von Korbers LANL-Kollegen Sandrasegaram Gnanakaran kommen zu demselben Ergebnis.
Kein Entkommen vor Antikörpern – bis jetzt
Die meisten derzeit verfügbaren Daten lassen darauf schließen, dass D614G die neutralisierenden Antikörper des Immunsystems nicht daran hindert, Sars-CoV-2 zu erkennen, wie es Montefiori zunächst befürchtet hatte. Vielleicht deshalb, weil die Mutation nicht in der Rezeptor-Bindungsdomäne (RBD) des Spike-Proteins liegt, einer Region, auf die viele neutralisierende Antikörper abzielen: Die RBD bindet an das Zellrezeptorprotein ACE2, ein entscheidender Schritt für das Eindringen des Virus in eine Wirtszelle.
Es gibt aber erste Hinweise darauf, dass andere Mutationen dem Virus helfen konnten, bestimmte Antikörper zu meiden. Sie stammen unter anderem aus Experimenten eines Teams um die Virologen Theodora Hatziioannou und Paul Bieniasz von der Rockefeller University in New York City. Die Forscher veränderten einen Krankheitserreger bei Nutztieren gentechnisch derart, dass die Viren das Spike-Protein von Sars-CoV-2 besaßen, und vermehrten das Virus in Gegenwart von neutralisierenden Antikörpern. Ihr Ziel: natürliche Mutationen zu identifizieren, die es dem Spike-Protein ermöglichen, sich der Antikörperabwehr zu entziehen. Tatsächlich förderten die Experimente von Hatziioannou und Bieniasz Spike-Protein-Mutanten zu Tage, die gegen Antikörper aus dem Blut von Menschen resistent waren, welche Covid-19 bereits einmal durchgemacht hatten. Resistent waren diese Viren außerdem gegen bestimmte monoklonale Antikörper, die speziell für die Therapie entwickelt worden waren. Jede der getesteten Spike-Mutationen war aus Virussequenzen von Covid-19-Patienten isoliert worden, berichten Hatziioannou, Bieniasz und ihr Team – wenn auch mit sehr geringer Verbreitung. Zumindest scheinen sich diese Mutationen also noch nicht durch positive Selektion verbreitet zu haben.
Um solchen Entwicklungen vorzubauen, versuchen andere Forscher heute vorherzusagen, welche Mutationen künftig wichtig werden könnten. Sie wollen dem Virus gewissermaßen einen Schritt voraus sein. Einer dieser Forscher ist Jesse Bloom, der sich am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle, Washington, mit der Evolution von Viren befasst. Blooms Team hat fast 4000 mutierte Versionen der RBD des Spike-Proteins hergestellt und dann getestet, wie diese Veränderungen die Expression des Proteins und seine Fähigkeit, an ACE2 zu binden, beeinflussen. Die meisten Mutationen hatten zwar gar keinen Einfluss oder verschlechterten seine Andock-Fähigkeiten. Einige wenige aber verbesserten sie, darunter Mutationen, die bereits in Proben von Menschen mit Covid-19 gefunden wurden. Allerdings fand Blooms Team bei keiner seiner Varianten Anzeichen für einen Selektionsvorteil. »Wahrscheinlich bindet das Virus ungefähr so gut an ACE2, wie es im Moment nötig ist«, sagt er.
Ob eine der Mutationen die Wirkung von Antikörpern vereitelte, testeten die Wissenschaftler allerdings nicht. Die Ergebnisse des Teams legen nahe, dass solche Veränderungen möglich sind. Gesichert sei das aber nicht, sagt Bloom.
Nach den Erfahrungen mit anderen Coronaviren zu urteilen, könnte es Jahre dauern, bis sich Mutationen dieser Art durchsetzen. Studien an gewöhnlichen Erkältungs-Coronaviren über mehrere Jahre hinweg haben zwar einige Anzeichen für solche Veränderungen gefunden. Doch ein Wandel hin zur Resistenz vollziehe sich nur langsam, sagt Volker Thiel, Virologe am Institut für Virologie und Immunologie in Bern. »Diese Stämme bleiben mehr oder weniger gleich.«
Da sich der größte Teil der Menschheit nach wie vor mit Sars-CoV-2 anstecken kann, ist es unwahrscheinlich, dass Immunität aktuell ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung des Virus ist. Mit zunehmender bevölkerungsweiter Immunität, sei es durch Infektion oder Impfung, könnte allerdings ein stetes Rinnsal entsprechender Mutationen dem Virus helfen, sich dauerhaft zu etablieren, sagte Sheahan. Dann könnte es bei Menschen, die eine gewisse Restimmunität aus einer früheren Infektion oder Impfung haben, milde Symptome verursachen. »Es würde mich nicht überraschen, wenn uns das Virus als ein normales Erkältungsvirus erhalten bliebe.« Es ist aber auch möglich, dass unsere Immunreaktion auf Infektionen mit Coronaviren einschließlich Sars-CoV-2 nicht stark oder langlebig genug ist, um einen Selektionsdruck auf das Virus auszuüben, der deutlich veränderte Virusstämme hervorbringt.
»Wahrscheinlich bindet das Virus ungefähr so gut an ACE2, wie es im Moment nötig ist«
Jesse Bloom, Evolutionsvirologe
Gefährliche Mutationen könnten auch dann häufiger auftreten, wenn Antikörpertherapien nicht klug eingesetzt werden – etwa wenn Menschen mit Covid-19 einen einzigen Antikörpertyp erhalten, der durch eine einzelne Mutation des Virus seine Wirkung verliert. Cocktails aus monoklonalen Antikörpern, von denen jeder mehrere Regionen des Spike-Proteins erkennt, würden die Wahrscheinlichkeit mindern, dass solche Mutationen sich durch natürliche Selektion verbreiten. Impfstoffe sind in dieser Hinsicht nicht besonders problematisch, da sie, wie die natürliche Immunantwort des Körpers auch, die Produktion einer Reihe verschiedener Antikörper provozieren.
Es ist sogar möglich, dass die D614G-Mutation das Coronavirus empfindlicher gegen Impfstoffe machen könnten. Das zumindest ist das Resultat einer Studie, die Montefioris Team im Juli 2020 auf medRxiv veröffentlicht hat. Darin erhielten Mäuse, Affen und Menschen experimentelle RNA-Impfstoffe, darunter einen, der vom Arzneimittelhersteller Pfizer in New York City entwickelt wird. Wie sich zeigte, blockierten die Antikörper, die die Impfungen hervorriefen, G-Viren wirksamer als D-Viren.
G-Viren sind inzwischen allgegenwärtig. Insofern ist dieses Ergebnis »eine gute Nachricht«, findet Montefiori. Doch als ein Wissenschaftler, der gesehen hat, wie sich HIV bislang einem Impfstoffkandidaten nach dem anderen entzogen hat, will er das Potenzial nicht unterschätzen, das auch Sars-CoV-2 immun gegen unseren Verteidigungsstrategien machen könnte. Luban stimmt zu: »Wir müssen, was Veränderungen des Virus angeht, wachsam bleiben.«
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