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Selbsterkenntnis: Das emotionale Profil, das unser Leben prägt

Die einen lesen in ihren Mitmenschen wie in einem offenen Buch. Für andere sind sie ein Buch mit sieben Siegeln. Und während die einen auf der Sonnenseite des Lebens stehen, sehen die anderen gewöhnlich schwarz. Diese und weitere Eigenschaften bilden die Grundlage unseres Erlebens und Verhaltens: die sechs Dimensionen unseres »Emotionsprofils«.
Eine fröhliche Frau mit lustigem Lockenkopf im Profil

Lisa hat ein Talent dafür, die Gefühle anderer Menschen intuitiv zu »spüren«. Sie wartet immer auf den richtigen Moment, um eine Frage zu stellen, und weiß, wann ihr Gegenüber nicht in der Stimmung ist, um mit ihr zu diskutieren. Lisa hat eine starke »soziale Intuition«. Andere haben eher ein gutes Gespür für das eigene Innenleben, sie sind »selbst-bewusst«, nehmen sich selbst genau wahr. Und wieder andere sind besonders gut darin, Schicksalsschläge zu überwinden: Sie sind »resilient«. Aber niemand ist nur »resilient« oder nur »selbst-bewusst« oder »sozial intuitiv«. Vielmehr gibt es sechs Merkmale, die mehr oder weniger charakteristisch für den emotionalen Stil eines Menschen sind. Das jedenfalls sagt der bekannte Hirnforscher Richard Davidson, Professor für Psychologie an der University of Wisconsin in Madison.

Ihm zufolge besteht unser individuelles »Emotionsprofil« aus sechs Dimensionen: Resilienz, soziale Intuition, Selbstwahrnehmung, einer Neigung zu positiven oder negativen Gefühlen (»Perspektive« oder »Sichtweise«), Kontextsensibilität und Aufmerksamkeit. Jede bildet ein Kontinuum mit zwei Polen, zum Beispiel »erholt sich schnell« oder »erholt sich langsam« auf der Dimension der Resilienz. Die Positionen auf den sechs Dimensionen zeigen an, wie man die Welt sieht und auf sie reagiert. Der Stil ist wie die Farbpalette eines Malers: Jeder hat eine ganz eigene Mischung, die bestimmt, wie unser Leben emotional »gefärbt« ist.

Richard Davidson |

Der Hirnforscher von der University of Wisconsin in Madison ist vor allem bekannt für seine Arbeiten mit tibetischen Mönchen. 2006 zählte das »Time Magazine« ihn als Pionier der Mind-Body-Medizin zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt.

Davidson ist nicht der Erste, der wissenschaftliche Modelle für die wichtigsten Eigenschaften formuliert hat, die uns Menschen charakterisieren. Aber die meisten älteren Modelle stammen aus Befragungen und Verhaltensanalysen, also der Beobachtung und Klassifikation von Reaktionen in verschiedenen Situationen. Davidsons Modell ist insofern originell, als es auf der Funktionsweise des Gehirns aufbaut. Über Jahrzehnte hat er Emotionen mit neurowissenschaftlichen Methoden erforscht. Die Dimensionen, die er gefunden hat, stehen alle in Zusammenhang mit bestimmten neuronalen Netzwerken und entsprechenden neurophysiologischen Bausteinen unserer Persönlichkeit. Anders gesagt: Sie lassen sich leichter auf biologische Funktionen übertragen als die klassischen Persönlichkeitsmodelle.

Auf die Dimension der »Resilienz« kam Davidson, als er beobachtete, dass Menschen, die unterschiedlich schnell über Schicksalsschläge hinwegkommen, sich auch in ihrer Hirnaktivität unterscheiden. In einem Laborexperiment weckte er in seinen Versuchspersonen unangenehme Gefühle, indem er ihnen verstörende Bilder vorlegte, etwa von einem Baby mit einem Tumor am Auge. Dann erfasste er, wie schnell sie sich davon erholten, und zwar über die Schreckreaktion des Auges.

Was der Wimpernschlag verrät

Dazu spielte er ihnen unerwartet einen Ton vor, was beim ersten Mal reflexhaft einen Wimpernschlag nach sich zieht – eine Art Überraschungseffekt. Dieser Wimpernschlag ist umso stärker, je negativer der Gefühlszustand der Person ist, egal ob sie Angst, Wut oder Trauer empfindet. An der Stärke der Muskelkontraktion kann man auf diese Weise ablesen, wie es um die Gefühlslage eines Menschen bestellt ist. Davidson erfasste aber nicht nur die Muskelkontraktion am Auge, während er seine Versuchspersonen mit Tönen überraschte, sondern auch deren Hirnaktivität.

Ergebnis: Jene, die sich schnell vom unangenehmen Anblick der Bilder erholten, wiesen mehr Aktivität im linken präfrontalen Kortex auf, also im Stirnhirn. Das Besondere an dieser Region: Sie ist praktisch mit dem gesamten übrigen Gehirn eng verwoben und somit fähig, viele weitere Regionen entweder zu hemmen oder zu aktivieren. Später zeigten weitere Experimente, dass dieser Bereich der Großhirnrinde bei resilienten Menschen eng mit den Amygdalae oder Mandelkernen verbunden ist, die sich vor allem bei Angst und anderen negativen Emotionen regen. Bei den resilienten Personen verfliegen unangenehme Gefühle offenbar deshalb so schnell, weil ihr linkes Stirnhirn sehr aktiv ist und es die Mandelkerne schnell zu beruhigen vermag.

Im Verlauf seiner Laborexperimente entdeckte Davidson weitere Dimensionen unseres Emotionsprofils. Als er sich mit Depressionen beschäftigte, studierte er beispielsweise das neuronale Netzwerk, das der Fähigkeit zu Grunde liegt, positiv zu empfinden (»Perspektive« oder »Sichtweise«). Menschen mit Depressionen mangelt es daran besonders. In einem Experiment zeigte er Probanden Filme von spielenden Kindern oder leckerem Essen, um angenehme Gefühle zu wecken. Die Teilnehmer sollten versuchen, die positiven Gefühle andauern zu lassen, zum Beispiel, indem sie sich selbst in den Film hineinversetzten. Gleichzeitig wurde ihre Hirnaktivität mit bildgebenden Verfahren aufgezeichnet.

Davidson beobachtete eine Anomalie bei der Aktivierung im Nucleus accumbens, einem Kerngebiet im so genannten Belohnungssystem des Gehirns. Betrachteten depressive Probanden schöne Filmszenen, regte sich das Gebiet bei ihnen zunächst ebenso wie bei gesunden, doch die Aktivität erlosch schneller. Normalerweise sorgt das Stirnhirn dafür, dass ein freudiges Erlebnis eine Weile nachklingt. Menschen mit Depressionen sind demnach durchaus fähig, positive Emotionen zu empfinden, nur verblassen sie bei ihnen bald wieder. Das Belohnungszentrum regt sich bei ihnen offenbar bloß kurzzeitig, weil es unzureichend mit dem Stirnhirn verknüpft ist. Die beiden Hirnregionen sind also bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger miteinander verbunden und aktiv. Und das bedeutet, dass gute Gefühle entsprechend mehr oder weniger lange anhalten.

Wo soziales Gespür herrührt

Die Dimension »soziales Gespür« gründete Davidson auf Beobachtungen an Menschen mit Autismus. Diese tun sich sehr schwer damit, Gefühle ihrer Mitmenschen wahrzunehmen und nonverbale Hinweise zu deuten. Der Psychologe zeigte, dass der Anblick von Porträtfotos bei ihnen relativ wenig Aktivität in einer Gehirnwindung auslöste, die üblicherweise beim Betrachten von Gesichtern aktiv wird, dem Gyrus fusiformis. Er liefert uns entscheidende Informationen über die Gefühle anderer Menschen: Lächelt die Person? Guckt sie erstaunt? Oder sieht sie traurig aus? Das wissen wir unter anderem dank des Gyrus fusiformis.

Gleichzeitig sind bei Menschen mit Autismus die Mandelkerne hyperaktiv, sobald sie anderen in die Augen blicken – denn das bereitet ihnen Angst und Unbehagen. Entsprechend versuchen sie es zu vermeiden, wodurch ihnen Informationen über die Gefühlslage ihres Gegenübers entgehen. Diese und weitere Erkenntnisse brachten Davidson auf den Gedanken, dass unsere Fähigkeit, Gefühle in Gesichtern zu lesen, in einem neuronalen Netzwerk wurzelt: Je reger der Gyrus fusiformis und je stiller die Mandelkerne, desto leichter fällt es uns, den Ausdruck eines Gesichts zu entschlüsseln, anders gesagt: desto mehr verfügen wir über soziales Gespür.

Die Aktivität im Stirnhirn kann sich von Mensch zu Mensch um den Faktor 30 unterscheiden

Nach jahrzehntelangen Studien hatte Davidson alle Dimensionen identifiziert, die ihm zufolge den emotionalen Stil eines Menschen ausmachen: Neben den drei geschilderten Merkmalen zählen dazu noch Selbstwahrnehmung, Kontextsensibilität und Aufmerksamkeit. Letztere scheint nicht in die Reihe zu passen. Doch er stellte fest, dass ein äußeres Geschehen uns umso stärker ablenkt, je mehr es für uns emotional bedeutsam ist. Wer seine Aufmerksamkeit nicht gut fokussieren kann, lässt sich in seinem Tun von jedem weinenden Kind und jedem süßen Kätzchen unterbrechen und in einen traurigen oder entzückten Zustand versetzen. Wie wir unsere Aufmerksamkeit lenken und emotional auf die uns umgebende Welt reagieren, hängt zusammen.

Des Weiteren schloss Davidson aus seinen Untersuchungen, dass der präfrontale Kortex in unserem Emotionsprofil eine Schlüsselrolle spielt. Er beobachtete, dass sich die Aktivität im Stirnhirn von Mensch zu Mensch um den Faktor 30 unterscheiden kann. Kein Wunder also, dass Menschen so verschieden sind.

Die sechs Dimensionen des Emotionsprofils | Beispiele: »Wenn ich einen Rückschlag erleide, rege ich mich nicht lange darüber auf« (Resilienz). »Ich bin gut darin, die positiven Seiten zu sehen« (Perspektive). »Ich bin nicht gut darin, meine eigenen Gefühle zu erkennen« (Selbstwahrnehmung). Quelle: »Emotional Style Questionnaire«

Aber wie beurteilt man den eigenen Emotionsstil, wenn man kein Hirnforschungslabor zur Verfügung hat? Schon einige einfache Fragen können helfen, das eigene Profil zu zeichnen, wie Davidson und seine Kollegen 2019 für ihren »Emotional Style Questionnaire« zeigten (hier die englische Online-Version des Fragebogens). Das kann der erste Schritt sein, um sich selbst so anzunehmen, wie man ist – oder auch nicht. Wer mit manchen seiner Eigenheiten unzufrieden ist, sich etwa für zu empfindlich hält, zu unbeholfen oder zu zerstreut, den tröstet es vielleicht, wenn er die Ursachen erkennt und versteht, was das mit den Eigenheiten seines Gehirns zu tun hat.

Selbsterkenntnis kann außerdem helfen, die richtigen Fragen zu stellen. Was macht mich glücklich? Welche Arbeit passt zu mir? Sollte ich etwas an meinem Leben ändern? Wer wenig resilient ist und eher zu negativen Emotionen neigt – was oft mit Antriebslosigkeit einhergeht –, sollte Berufe vermeiden, in denen man ständig unter Druck steht. Und wem es an sozialem Gespür mangelt, der sollte gut überlegen, ob er sich auf einen Posten im Vertrieb bewirbt.

Herausfinden, was zu uns passt

Sich selbst zu kennen hilft, das passende Umfeld für sich zu finden. Allerdings tut es auch nicht gut, jeglichen Herausforderungen aus dem Weg zu gehen. Selbst wenn man weiß, dass man wenig resilient ist und an kritischen Bemerkungen seitens des Vorgesetzten lange zu knabbern hat, ist es dennoch keine Lösung, bei dessen Anblick sofort das Weite zu suchen. Viele Studien zeigen: Die Konfrontation mit den eigenen Ängsten zu meiden, erhält diese aufrecht oder verschlimmert sie sogar.

Ein »ideales« emotionales Profil gibt es nicht, jedes hat seine Vor- und Nachteile. Sehr resiliente Menschen etwa kommen gut über Rückschläge hinweg; wer aber niemals am Boden zerstört war, verspürt womöglich keinen Antrieb, sich immer wieder anzustrengen. Und wer sich danebenbenimmt, gilt zwar schnell als Rüpel. Andererseits wirken Menschen, die sich permanent perfekt an die Situation anpassen, weniger authentisch. Sie sind gehemmt von ihrem Streben, sich möglichst optimal zu verhalten, sei es bei beruflichen Terminen oder zu Besuch bei der Schwiegermutter. Und auch wenn ein Dasein als Miesepeter nicht sonderlich erstrebenswert erscheint, so sind manche Menschen doch vollkommen zufrieden mit ihrer negativen Haltung, denn für sie ist Optimismus nichts weiter als ein Zeichen von Naivität. Jeder kann sich von seinem eigenen Empfinden leiten lassen und entscheiden, wie er sein Leben leben möchte.

Und jeder kann sich ändern. Nur weil das Emotionsprofil in neuronalen Schaltkreisen verwurzelt ist, heißt das nicht, dass es unveränderlich wäre. Das Gehirn ist formbar und ein Leben lang in der Lage, sich neu zu organisieren. Diese »Neuroplastizität« bestimmt, inwieweit wir uns ändern können. So hat jeder einen gewissen Spielraum, die Leinwand seines Lebens selbst zu gestalten. Davidson schlägt verschiedene Arten von mentalem Training vor, mit dem man sein eigenes Gehirn »umgestalten« könne (in Kürze folgt dazu ein Interview mit Richard Davidson). Beim emotionalen Stil ist es nicht anders als bei der übrigen Persönlichkeit: Man muss sich selbst kennen, um das Beste aus seinen Möglichkeiten zu machen.

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