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Humangenetik: Das Erbe der Verdrängten

Geschichte ist schon immer die Geschichte der Sieger gewesen - und das einst mächtige, uralte Handelsimperium der Phönizier war vielleicht eines der ersten Opfer in dieser uralten Saga von Aufstieg, Fall und Verleumdung der Mächtigen. Doch es gibt immer noch Spuren, stellen Forscher nun nach Jahrtausenden fest.
Der Tod der Dido,  Joshua Reynolds (1781)
Es war zu Beginn des letzten vorchristlichen Jahrtausends, als findige levantinische Händler aus ihren Heimatstädten wie Tyrus, Sidon und Byblos aufbrachen, immer mehr Niederlassungen gründeten, immer weiter Handelsbeziehungen knüpften und nach und nach das gesamte Mittelmeer zu ihrer ureigenen ökonomischen und kulturellen Spielwiese umgestalteten. Viele der antik-globalen Niederlassungen wurden zu blühenden Städten – die berühmteste hieß später Karthago –, als Rom noch ein Kuhdorf und die griechischen Polis ein verkrachter Haufen von Streithähnen waren.

Schon ein paar Jahrhunderte später – und bis heute – ist dann aber weit mehr über Hellenen und Imperium Romanum zu hören als über die einstig vorherrschende, orientalisch-phönizische Handelsmacht. Ursache hierfür ist wohl ein vollständiger Untergang der Phönizier und ihrer Kultur. Gleichzeitig gibt es keine schriftlichen Quellen, die ihre Geschichte aus eigener Sicht erzählen könnten. Was blieb, waren Berichte aus zweiter Hand – duftige Mythen der Griechen wie die Geschichte der ersten punischen Herrscherin Dido, blutrünstige Verzerrungen religiöser Praktiken (Kinderopferungen inklusive) oder biblische Beschreibungen der einstigen israelitischen Nachbarn, in denen ab und an Phönizier wie Hiram als versierte Handwerker und Spezialisten für den Haus- und Tempelbau auftreten.

Dichtung und Wahrheit

Wo der wahre Kern in den Überlieferungen schlummert, ist heute durch archäologische Untersuchungen allein kaum zu klären. Wegen der kläglichen Quellenlage streiten sich die Forscher über das wirkliche Ausmaß und den Charakter der ehemaligen phönizischen Expansion: Hatte das Händlervolk vielleicht nur ein paar verstreute Außenposten als Anlaufstellen errichtet, von denen nur wenige schließlich groß geworden waren, ohne dass eine Besiedlungsstrategie dahintergesteckt hatte? Oder etablierten sie sich in Ländereien wie dem sagenhaften "Tartessos" – die südiberische Minenregion mit legendär reichen Silbervorkommen war eine der vielen Kandidaten für das noch legendärere Atlantis –, um vor Ort, wie anderswo schon, eine Provinz des wachsenden antiken Kolonienreichs zu gründen und zu bevölkern?

Chris Tayler-Smith vom US-amerikanischen Wellcome Trust Sanger Institute in Cambridge und eine beeindruckende Schar forschender Mitstreiter glauben nun, einige dieser alten Fragen mit den neuen Mitteln der Genanalyse beantworten zu können. Die Forscher untersuchten zu diesem Zweck das Erbgut von heute im Mittelmeerraum lebenden Männern nach Spuren etwaiger phönizischer Vorväter – und mussten daher erst einmal die knifflige Frage beantworten, wie alte phönizische Genspuren eigentlich aussehen.

Typisch Phönizisch: Ein G für ein T | Die meisten Y-Chromosomen aller Männer weltweit tragen eine Thymin-Base (T) an der Position M172 – bei einigen am Mittelmeer lebenden Menschen findet sich aber hier die Base Guanin (G). Gerade die von phönizischen Ahnen gezeugten männlichen Nachkommen tragen diese Veränderung. Die Phönizier selbst, einst Erfinder des Alphabets, hätten die Buchstaben G, T, A und C allerdings noch etwas anders geschrieben.
Im Mittelpunkt der Forscher-Analyse standen zunächst jene großen Gentypen, die für den südosteuropäischen und südmediterranen Raum überhaupt typisch sind. Oft finden Genetiker hier zum Beispiel Menschen, die in die Genschublade der so genannten "Haplogruppe J" sortiert werden können. In den Y-Chromosom solcher Männer finden sich typische minimale Basenabweichungen oder auch SNPs (single nucleotide polymorphisms), die sie vom Durchschnitt der Restmenschheit abheben – mehrere solcher SNPs, die von Generation zu Generation gekoppelt weitervererbt werden, definieren die Haplogruppe.

Von der für Tayler-Smiths Team interessanten Haplogruppe J war schon bekannt, dass sie vor langer Zeit im Nahen Osten erstmals auftrat und von dort aus nach Nordafrika, Europa, Zentralasien, Pakistan und Indien ausstrahlte. Die Träger des Merkmals haben sich und ihr Erbgut offensichtlich mehrfach durch Wanderbewegungen seit der Jungsteinzeit in verschiedene Richtungen verstreut – genauso, wie es vielleicht auch die Phönizier getan haben könnten. Ein Beweis für phönizische Ahnherrschaft ist die bloße Verbreitung der Haplogruppe aber noch lange nicht – genauso gut könnte sie von weit früheren, prähistorischen Auswanderungswellen stammen.

Alte Spurensuche

Die Genetiker schauten daher noch genauer hin und suchten gezielt Gensignaturauffälligkeiten in jenen verschiedenen, alten Küstenorten des Mittelmeers vom Libanon über Tunesien und Sizilien bis Westspanien, in denen Phönizier in den Jahrhunderten vor der Zeitenwende nachweislich gewesen waren. Zum Vergleich testeten sie nahe gelegene Mittelmeerorte, die aber kaum für ihre phönizischen Kontakte bekannt waren.

Ausbreitung der Phönizier | Die Karte des Mittelmeerraums verdeutlicht Ausbreitung und Fernhandelswege der Phönizier im ersten Jahrtausend vor der Zeitenwende. Gezeigt wird auch die Häufigkeit der heute noch im Genpool zu findenden genetischen Spuren dieses Volks, das seine Erbgutsignatur besonders entlang den frequentierten Routen und Siedlungsplätzen an ihre Nachkommen weitergegeben hat.
Nach einer Menge komplexer statistischer Auswertungen präsentieren Tayler-Smiths computerassistierte Genanalysatoren nun ein recht eindeutiges Ergebnis: Tatsächlich trägt die heutige männliche Bevölkerung speziell in alten Phöniziersiedlungsgebieten häufiger als anderswo typische Gensignaturvarianten der Haplogruppe J2. Charakteristisch für die Söhne altphönizischer Väter ist dabei offenbar besonders ein Austausch der Base Thymin durch Guanin an Position M172 des Y-Chromosoms. Mehr als sechs Prozent des Genpools in ehemaligen Phönizierniederlassungen stammen demnach noch heute aus den alten Linien der antiken Händler – und statistisch gesehen hat vielleicht jeder 18. lebende Mann im Mittelmeerraum direkte phönizische Vorfahren. Ganz offenbar brachten die Phönizier also einst nicht nur Handelswaren mit in neu besiedelte Gebiete.

Ihre geografisch-genetische Analysemethode könnte sich auch bei anderen bislang nur vage belegbaren Migrationswellen bewähren, glauben Tayler-Smith und seine Kollegen. Ohne zumindest einige belegte historische Anhaltspunkte zu haben, bleiben aber die zur Kompensation der fehlenden historischen Quellen gedachten Genanalysen ohne Beweiskraft. Wissen mehren kann der neue Ansatz aber durchaus – und Smith-Taylor und sein globales Team möchten daher gerne gleich in mehreren anderen Weltgegenden weiteren Genfährten nachspüren. Anbieten würde sich etwa eine systematische Erforschung der Folgen militärischer Expansionen wie des Asienzugs von Alexander dem Großen, des Mongolensturms oder der Wikingerraubzüge. Verräterische Gensignaturen finden sich aber, so hoffen die Wissenschaftler, vielleicht noch häufiger entlang jahrhundertelang etablierten Handelswegen – und beweisen damit endgültig, dass der Weg zur wirklichen Nachhaltigkeit doch recht oft über die Gründung einer Familie gelingt.
  • Quellen
Zalloua, P. A. et al.: Identifying Genetic Traces of Historical Expansions: Phoenician Footprints in the Mediterrean. In: American Journal of Human Genetics 83(5), 2008.

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