Beharrlicher Irrtum: Das fortwährende Ende der eigenen Geschichte
»Wie sehr haben Sie sich in den letzten zehn Jahren verändert? Und wie sehr werden Sie sich in den kommenden zehn Jahren verändern?« Das wollten Psychologen um Jordi Quoidbach von ihren Probanden wissen. Die Antworten offenbarten ein eindeutiges Muster: Egal wie alt die Befragten waren, in den meisten Fällen gaben sie an, sich im zurückliegenden Jahrzehnt durchaus verändert zu haben. In der kommenden Dekade hingegen, so glaubten die meisten Probanden, würden sie mehr oder weniger dieselben bleiben.
Das vermeintliche »Ende der Geschichte« werde also beständig erreicht – und ebenso beständig gehe es danach weiter wie zuvor, fasst das Team um den Harvard-Psychologen zusammen.
Zur Datensammlung hatten die Forscher über das Internet rekrutierte Freiwillige unter anderem gebeten, einen standardisierten Persönlichkeitstest auszufüllen oder bestimmte Charaktereigenschaften nach Wichtigkeit zu sortieren. Anschließend musste die Hälfte der Teilnehmer den Bogen erneut auszufüllen, sollte sich jedoch diesmal in die Lage ihres Ichs von vor zehn Jahren versetzen. Währenddessen antwortete die andere Hälfte im Sinne ihres vorgestellten, zukünftigen Ichs.
Dass die Prognosen tatsächlich systematisch danebenlagen, wiesen die Forscher nach, indem sie die Befragten jeder Altersstufe mit jeweils zehn Jahre älteren Probanden verglichen. Die rückblickenden Angaben beispielsweise der 30-Jährigen gaben den Forschern einen Anhaltspunkt über das durchschnittliche Ausmaß der Persönlichkeitsveränderungen im Alter zwischen 20 und 30. Diesen Wert setzten sie in Beziehung zu den Erwartungen der 20-Jährigen.
Der beharrliche Irrtum bleibe im Alltag nicht immer folgenlos, fanden die Forscher außerdem heraus. Wer strategische Entscheidungen für die Zukunft treffen und sich dabei auf seinen aktuellen Geschmack oder Wertekanon berufen müsse, sei gut beraten, die »Illusion vom Ende der Geschichte« zu berücksichtigen.
Zur Demonstration solcher Fehlentscheidungen baten die Forscher in einem weiteren Experiment eine Hälfte der Probanden, ihre Lieblingsband von vor zehn Jahren zu nennen und anzugeben, wie viel Geld sie ausgeben würden, um heutzutage ein Konzert dieser Gruppe zu besuchen. Die Vergleichsgruppe sollte hingegen die aktuelle Lieblingsband nennen und prognostizieren, wie viel Geld sie in zehn Jahren für ein solches Konzert ausgeben würden. Im Ergebnis zeigte sich, dass die Befragten viel mehr auszugeben bereit waren, als ihnen zehn Jahre alte Bands dann tatsächlich wert sind.
Insgesamt flossen Datensätze von über 19 000 Personen zwischen 18 und 68 Jahren in die Studie von Quoidbach und Kollegen ein – darunter auch die Ergebnisse früherer Studien, bei denen Probanden im Abstand von zehn Jahren an standardisierten Persönlichkeitstests teilgenommen hatten. Der Vergleich mit den von ihnen selbst erhobenen Daten zeigte, dass Probanden durchaus in der Lage waren, ihre Persönlichkeit von vor zehn Jahren korrekt einzuschätzen, und dass der beobachtete Effekt demnach nicht auf einer falschen Erinnerung an das Ich der Vergangenheit beruht.
Über die Ursachen der Sinnestäuschung können die Wissenschaftler bislang nur spekulieren. Womöglich liege sie einfach darin begründet, dass es schwieriger sei, sich Zukunftsszenarien auszumalen, als sich an Vergangenes zu erinnern. Das könnte Menschen zu der Annahme verleiten, dass Veränderungen in der Lebensgestaltung unwahrscheinlich seien, so die Forscher.
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