News: Das Geheimnis des Giftes
"Wir suchen seit drei Jahren gemeinsam mit Partnern in Frankreich, Belgien und Israel nach einem Wirkstoff, der präzise an zelluläre Ionenkanäle im periphären Nervensystem andockt", berichtet Prof. Dr. Stefan Heinemann, Biophysiker am Jenaer Uni-Klinikum. Nun wurden die Forscher fündig, und zwar ausgerechnet in der Giftdrüse des gefährlichen Skorpions. Lange haben die Wissenschaftler verschiedene natürliche Toxine von maritimen Kegelschnecken und Skorpionen getestet, und auch Leiurus quinquestriatus hebraeus – so sein lateinisch korrekter Name – hält einen ganzen Cocktail von mehr als fünfzig üblen Substanzen in seinem Stachel parat: je nachdem zur Jagd auf Beutetiere oder zur Abwehr von Feinden. Sein Alpha-Toxin jedenfalls wirkt äußerst rasch und intensiv auf Menschen und Säugetiere.
"Chemisch betrachtet handelt es sich um große Peptide mit rund siebzig Aminosäuren, ein Stoff der im Labor nur sehr schwer zu synthetisieren ist", erläutert Prof. Heinemann. "Aber er funktioniert ungeheuer spezifisch." Um das zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, wie die elektrische Reizleitung im menschlichen Körper organisiert ist: In vielen Zellmembranen – etwa im Gehirn, in Muskeln, im Herz oder in peripheren Nervenzellen – gibt es spezielle Eiweiße, sogenannte Ionenkanäle, über die geringste elektrische Ströme im Pico-Ampere-Bereich (10 hoch -12) transportiert werden. Zu den daraus resultierenden Signalen, die sich so den Weg durch den Körper bahnen, zählt auch die Schmerzinformation.
"Wenn wir den Schmerz dort ausschalten wollen, wo er entsteht, brauchen wir einen Wirkstoff, der hochselektiv die peripheren Nervenzellen betrifft und die übrigen Ionenkanal-Typen in Ruhe läßt", macht der Zellphysiologe deutlich. Gerade hier hatten die Forscher aber ihre liebe Mühe, denn die Ionenkanäle im Gehirn und in den über den Körper verteilten Nervenzellen sind einander recht ähnlich. Nicht jedoch für Lqh III, das Alpha-Toxin des Gelben Israelischen Skorpions. Es wirkt etwa tausendmal stärker auf die Natriumkanäle in peripheren Nervenzellen als auf die im Gehirn. "Genau die Eigenschaft, die wir brauchen", freut sich Heinemann, "denn wir wollen ja mit einer Schmerztherapie nicht das Gehirn lahmlegen."
Allerdings haben die Wissenschaftler mit ihrer Entdeckung nur einen ersten, wenngleich maßgeblichen Schritt auf dem Weg zu einem völlig neuartigen Medikament gemacht. Denn selbstverständlich hat Lqh III exakt die entgegengesetzte Wirkung, die ein Patient sich wünscht: Es verhindert, daß die zellulären Ionenkanäle sich schließen und versetzt augenblicklich den ganzen betroffenen Organismus in eine elektrisch gereizte Konfusion – ein greller Schmerz ist die Folge. "Wir wollen nun herausfinden, welche molekulare Konstellation dafür verantwortlich ist, daß Lqh III so präzise an die Ionenkanäle im peripheren Nervenzellen andockt", erläutert Stefan Heinemann das nächste Teilziel. Gelänge es anschließend, mit solchen "Pfadfinder-Molekülen" ein Therapeutikum zur Ionenkanal-Blockade zu koppeln, hätte man ein ideal wirksames und sehr gut verträgliches Schmerzmittel in Händen.
Bis dahin werden noch einige Jahre der Arbeit an Zellkulturen verstreichen. "Aber wir besitzen nun eine Leitstruktur für unsere Forschung", so der Professor der Universität Jena. Gemeinsam mit seinen multinationalen Partnern hat er ein Initiativ-Projekt bei der Europäischen Kommission beantragt, um die weiteren Bemühungen zu finanzieren. Ob dieses ehrgeizige und "wissenschaftlich ungeheuer reizvolle" Vorhaben zum gewünschten Ergebnis führt, kann aber niemand garantieren. Im Zweifelsfall bliebe nur der Trost, die menschlichen Natriumkanäle pharmakologisch präzise identifizieren zu können und die Giftdrüse des Leiurus quinquestriatus etwas genauer zu kennen...
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