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Teilchenphysik: Das Gespenst von Genf wird greifbar

Am Mittwoch wird das Cern die Entdeckung eines neuen Teilchens bekannt geben. Auf das Higgs-Boson wollen sich die Forscher aber noch nicht endgültig festlegen.
Detektor ATLAS

Peter Higgs wartet schon lange. 1964 hat er einen Aufsatz über theoretische Physik veröffentlicht: "Broken Symmetries and the Masses of Gauge Bosons". Eineinhalb Seiten lang und gerade einmal mit vier Formeln gespickt, ist er mittlerweile eine der prominentesten Arbeiten der modernen Teilchenphysik. Darin skizziert Higgs einen Mechanismus, der einigen der Elementarteilchen Masse geben soll. Aber beschreibt er damit eine Eigenschaft der Natur?

48 Jahre nach der Veröffentlichung der Arbeit könnte die Frage beantwortet werden. Am Mittwoch wird am Cern in Genf ein Seminar plus Pressekonferenz stattfinden, zu dem offenbar auch Peter Higgs angereist ist. Dort wird aller Voraussicht nach eine erdrückende Beweislast für die Entdeckung eines neuen Teilchens präsentiert. Schon im letzten Dezember hatten die Detektoren Atlas und CMS am Large Hadron Collider (LHC) verdächtige Spuren bei einer Energie von 125 Gigaelektronenvolt (GeV) präsentiert. Die Messungen des Jahres scheinen das Signal verstärkt zu haben – so dass nun offensichtlich kaum noch Zweifel an der Existenz des Teilchens bestehen.

Spuren des Higgs-Bosons | Laut Computersimulationen könnte sich ein Higgs-Teilchen mit diesen Spuren im Detektor bemerkbar machen.

Aber handelt es sich dabei tatsächlich um das nach Peter Higgs benannte Higgs-Boson? Das wäre eine Sensation, wie sie die Teilchenphysik seit 30 Jahren nicht gesehen hat. Um sicher zu sein, dass es sich bei dem Fund zweifelsfrei um das Higgs-Teilchen handelt, sind daher noch weitere Messungen nötig. Die Physiker werden sich auf der Pressekonferenz somit alle Mühe geben, das Wort "Entdeckung" nicht in den Mund zu nehmen. Erst wenn weitere Eigenschaften des neuen Fundes untersucht wurden, dürften sie das Higgs-Teilchen für real erklären.

Ende einer Ära

Damit fände eine Ära der modernen Teilchenphysik ihren Abschluss. Das Higgs-Teilchen wäre das letzte Puzzlestück in dem mikroskopischen Modell, mit dem Physiker seit einem halben Jahrhundert die Welt beschreiben. Das sogenannte Standardmodell beinhaltet eine Zusammenstellung elementarer Konstituenten des Kosmos sowie der Kräfte, die zwischen ihnen wirken. Seit den 1960er Jahren wurden immer mehr seiner theoretischer Vorhersagen bestätigt, als letztes Teilchen kam 1995 das Top-Quark hinzu.

Zunächst ging man davon aus, dass das Standardmodell aus zwei Säulen besteht: zum einen die Bauteile, aus denen Materie aufgebaut ist. Dazu zählen Quarks, Elektronen und Neutrinos. Daneben gibt es Teilchen, die Kräfte übertragen: Photonen sind Pate elektromagnetischer Wechselwirkungen. Nukleonen halten zusammen, weil die Quarks darin ständig Gluonen austauschen. Und sogenannte W- und Z-Bosonen übertragen die schwache Kraft, die Atomkerne zerfallen lässt.

Schnell zeigte sich jedoch, dass das Modell des Mikrokosmos wackelte. Das Problem förderte ausgerechnet die größte Leistung seiner Architekten zu Tage. Schon 1967 gelang es Abdus Salam, Sheldon Glashow und Steven Weinberg die Gleichungen der schwachen und der elektromagnetischen Wechselwirkung auf ein gemeinsames mathematisches Fundament zurückzuführen. Der "elektroschwachen Theorie" zufolge sind die Austauschteilchen der beiden Kräfte – Photonen auf der einen sowie Ws und Zs auf der anderen – gewissermaßen Spiegelbilder.

Aber schon Weinberg und seine Kollegen vermuteten einen fundamentalen Unterschied. Sie sollten recht behalten: 1983 konnte der Super Proton Synchroton (SPS) am Cern zeigen, dass Ws und Zs 85 beziehungsweise 97 Mal schwerer als ein Wasserstoffkern sind – Photonen hingegen sind masselos. Es musste also etwas geben, das die Symmetrie zwischen der schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkung bricht. Gesucht wird seitdem eine dritte Säule des Standardmodells: einen Mechanismus, der die Ws und das Z so schwer macht, wie sie laut der Messungen am SPS sind.

Ein Nobelpreisträger verschaut sich

Peter Higgs war nicht der Einzige, der 1967 einen derartigen Mechanismus vorgeschlagen hatte. Gleich zwei andere Forschergruppen veröffentlichten unabhängig von Higgs kurz zuvor vergleichbare Arbeiten. Aber im Aufsatz "A model of leptons", der die elektroschwache Vereinheitlichung begründet, wurde nur Peter Higgs zitiert. Sein Autor, der spätere Nobelpreisträger Steven Weinberg, begründete das jüngst in der New York Times damit, dass er sich bei den Veröffentlichungsdaten der Arbeiten verschaut hatte.

Bei dem Rummel um den mittlerweile 83-jährigen Schotten geht es Physikern allerdings nicht um das Higgs-Teilchen an sich. Sein Auftauchen wäre der Beweis dafür, dass jeder Fleck des Universums von einem unsichtbaren Energiefeld durchzogen wird – einer Art modernem Äther, an dem die W- und Z-Bosonen reiben und somit Schwere erhalten. Auch Elektronen, Neutrinos und Quarks würden vom Higgs-Feld erfasst, Photonen und Gluonen hingegen können es der Theorie zufolge ungehindert durchqueren. Als alleinige Erklärung für die Masse von Materie, wie oft in den Medien verbreitet wird, taugt das Higgs-Feld indes nicht. Der Löwenanteil des Gewichts des menschlichen Körpers stammt von den Bindungsenergien der Quarks in Atomkernen. Das Higgs würde nur jenen Teil bereitstellen, den Physiker als Ruhemasse kennen. Das sind nur wenige Prozent des Gewichts eines Menschen.

Um diese Vorhersage aber mit der Wirklichkeit abzugleichen, muss man den Higgs-Äther gezielt in Schwingung versetzen – etwa, indem man das Vakuum an einer Stelle für den Bruchteil einer Sekunde stark zusammendrückt. Das geschieht in dem 27 Kilometer langen Kreistunnel unter Genf, wenn Atomkerne mit annähernd Lichtgeschwindigkeit ineinander fliegen. Die Folge einer solchen Anregung wäre das Higgs-Teilchen. Jedoch entsteht es nur bei wenigen der hunderte Millionen Kollisionen, die während einer Sekunde in der Röhre des Untergrundexperiments stattfinden. Im letzten Jahr sollen auf diese Weise gerade einmal 75 000 Higgs-Teilchen entstanden sein.

Detektor ATLAS | Der Detektor ATLAS soll über Zerfallsereignisse ein Higgs-Boson nachweisen.

Dieses Jahr dürften es noch mehr gewesen sein: In den zweieinhalb Monaten, die der LHC 2012 bislang lief, konnte die gesammelte Datenmenge mehr als verdoppelt werden. Die im Vergleich zu den Vorjahren reiche Ausbeute hat zwei Gründe: Zum einen werden Protonen nun mit 8000 statt 7000 GeV aufeinander geschossen. Zum anderen pressen die Forscher mehr Teilchenbündel in den Kreisring als je zuvor.

Fruchtbare Suche 2012

Somit war die Suche nach den Zerfallsprodukten des Higgs besonders fruchtbar. Das Äther-Teilchen ist instabil und zerfällt unmittelbar in bekannte Teilchen. Jedes Fünfhundertste Higgs soll etwa in zwei Photonen zerstrahlen – ein Signal, das sich besonders gut im Dickicht der sonstigen Trümmer der Teilchenkollision auffinden lässt. Nachdem es bereits aus den 2011er Daten herausstach, sind den Forschern nun offenbar mehr überschüssige Photonen ins Netz gegangen. Daneben findet sich vermutlich ein Überschuss an Z-Bosonen, die in sogenannte Muonen zerfallen in den neuen Daten. Auch das würde man von einem Higgs-Teilchen erwarten.

Unklar ist noch, ob die Signale tatsächlich die für eine zweifelsfreie Entdeckung nötige Signifikanz von fünf Sigma überschreiten werden. Erst dann ist der Zufall mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99994 Prozent ausgeschlossen. Bei drei Sigma – in etwa das Signifikanzniveau, auf das sowohl Atlas als auch CMS im Dezember kamen – liegt die Wahrscheinlichkeit für eine statistische Schwankung noch bei hohen 0,26 Prozent.

Derweil dürfte noch ein anderer Effekt die morgige Verkündung trüben: Da die Forscher einen großen Massenbereich nach Signalen absuchen, steigt die Wahrscheinlichkeit, bei einer der vielen Einzelmessungen einer statistischen Schwankung auf den Leim zu gehen. Zieht man diesen "look-elsewhere"-Effekt in Betracht, schrumpft die Signifikanz eines Signals etwa um ein Sigma. Die Haltung des Cern-Managments war stets: Erst wenn sowohl Atlas als auch CMS unabhängig voneinander und vom look-elsewhere-Effekt bereinigt ein Signal von fünf Sigma sehen, spricht man von einer Entdeckung. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass man sich in Anbetracht der Tatsache, dass das Signal in vielen Zerfallskanälen und in zwei Detektoren unabhängig voneinander bei der selben Energie aufgetaucht ist, von dieser Haltung verabschiedet hat.

Eine letzte Prüfung

Dennoch gehört diese Prüfung zweifelsfrei zu den Dingen, die noch geklärt werden müssen, bevor das neue Signal dem Higgs-Teilchen zugeordnet werden kann. Daneben müssen noch weitere Zerfallsprodukte des Higgs im Trümmerhaufen nachgewiesen werden. Das heiß ersehnte Teilchen soll dem Standardmodell zufolge noch in viele andere Partikel zerfallen. Bei einigen dieser "Zerfallskanäle" verdeckt die riesige Anzahl anderer Produkte der Teilchenkollisionen verdächtige Spuren – etwa in dem Fall, dass das Higgs in zwei Quarks zerfällt. Aber just in diesem Zerfallskanal hat der Beschleuniger Tevatron bei Chicago am Montag eine Häufung verdächtiger Signale gemeldet, was den Fund am LHC untermauert.

Für die zweifelsfreie Identifizierung des Signals gilt es auch, den Spin (eine Art Eigendrehimpuls) des neuen Teilchens genau zu vermessen. Das Higgs müsste dem Standardmodell zufolge einen Spin gleich Null haben – um selbigen zu bestimmen, benötigt man vermutlich den kompletten Datensatz aus dem Jahr 2012, vielleicht gelingt es auch erst 2015, nachdem der LHC umgebaut wurde.

Frühstens im Herbst könnte man indes wissen, wie oft das neu entdeckte Teilchen in verschiedene andere Teilchen zerfällt. Nur darüber können die Forscher ausrechnen, wie stark das vermeintliche Higgs-Feld an die verschiedenen Elementarteilchen koppelt. Zeigen hier weitere Messungen große Abweichungen von den Vorhersagen des Standardmodells, wäre ein Szenario denkbar, dass sich mancher Physiker insgeheim wünschen dürfte: Das Signal ist gar kein Higgs-Teilchen – oder aber ein Higgs-Teilchen, das nicht den Erwartungen der Teilchenphysiker entspricht.

Denn das würde große Lücken im Standardmodell offenbaren: Lücken, deren Ausmaß der LHC wiederum genau vermessen könnte. Und das würde den Weg in Richtung einer Theorie deuten, die das Standardmodell ablöst. Eine solche ist unumgänglich, denn die bisherigen Naturgesetze können längst nicht mehr den kompletten Kosmos erklären. Bei der Dunklen Materie, der Dunkle Energie, der Beschreibung der Neutrino-Massen, oder der Erklärung der Tatsache, dass es gerade drei Generationen von Quarks und Neutrinos gibt, stößt das Standardmodell an seine Grenzen. Offenbart der LHC aber in den nächsten Jahren auch sonst keine Hinweise auf neue Physik, etwa in Form supersymmetrischer Teilchen oder Extradimensionen, müsste man auf die nächste große Entdeckung womöglich genauso lange warten wie Peter Higgs auf den Nachweis seines Teilchens.

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