Agent Orange: Das Gift, das bleibt
Fast 50 Jahre ist es her, dass ein amerikanisches Flugzeug letztmals in den Himmel über Vietnam stieg, um literweise unverdünntes Entlaubungsmittel über dem Land zu versprühen. Bekannt geworden ist das Umweltgift unter dem militärischen Namen »Agent Orange«, chemisch bestand es aus zwei Herbiziden und einem verhängnisvollen Nebenprodukt. Der Name Agent Orange, benannt nach den Etiketten auf den Fässern, steht wie kein anderer für eines der größten Kriegsverbrechen der USA.
Mehr als 45 Millionen Liter gingen zwischen 1962 und 1971 während der Operation Ranch Hand über dem Land nieder. Zählt man die anderen Herbizide noch hinzu, verdoppelt sich die Zahl fast auf 80 Millionen Liter. Agent Orange entlaubte Wälder und vernichtete Ernten, im tropischen Regenwald sollte es den Vietcong-Kämpfern die Deckung nehmen. Am Ende des Kriegs war fast ein Viertel des gesamten Landes von der Entlaubungsaktion betroffen. Große Landstriche sahen aus wie nach einem Atomangriff.
Der Krieg ist lange aus, aber das Gift ist geblieben. Doch lange Zeit haben weder die amerikanische Regierung noch die Chemiekonzerne für das erlittene Leid in Vietnam Verantwortung übernommen. Erst allmählich tut sich etwas. Ein verseuchtes Gebiet, der Flughafen in Da Nang, ist seit November 2018 vollständig saniert. Und jetzt wollen auf der ehemaligen Militärbasis in Bien Hoa, 40 Kilometer nordöstlich von Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon, Amerikaner und Vietnamesen gemeinsam die Spätfolgen beseitigen. Der Stützpunkt gilt als Mega-Hotspot der Verseuchung mit Agent Orange. Jahrelang wurden dort die Fässer mit dem Pflanzengift gelagert, heute leben hier eine Million Menschen. Innerhalb von zehn Jahren soll die Airbase von den Altlasten gesäubert sein, kündigten Regierungsvertreter Ende April 2019 an. Die Kosten werden auf mindestens 300 Millionen Dollar geschätzt, die amerikanische Regierung will 183 Millionen Dollar übernehmen.
Millionen Opfer
Die Gründe für den Sinneswandel sind wohl geopolitischer Natur. Jahrzehntelang haben US-Gerichte jede Schuld an den gesundheitlichen Folgen bestritten. Mehr als drei Millionen Opfer von Agent Orange zählt die Vietnamese Association of Victims of Agent Orange auf, noch immer leiden hunderttausende Vietnamesen an den Spätfolgen, noch immer werden missgebildete Kinder geboren. Doch jetzt brauchen die USA dringend neue Verbündete gegen die aufstrebende Supermacht China. Die Zusage umfasst allerdings nur die Beseitigung der Altlasten an einem Ort – und keine flächenhafte Sanierung. Die bräuchte es nach dem veritablen Ökozid vor Jahrzehnten aber dringend, um die Folgen des Pflanzengifteinsatzes endlich in den Griff zu bekommen. Denn nach wie vor ist das Ausmaß der Verseuchung gravierend, auch derzeit leiden Mensch und Natur stark unter den Folgen des Herbizideinsatzes.
In einer Übersichtsarbeit haben nun zwei Agrarwissenschaftler aus Illinois und Iowa die Langzeitfolgen der größten Militäroperation der amerikanischen Streitkräfte genauer unter die Lupe genommen. Die Studie erschien Anfang 2019 im Fachjournal »Open Journal of Soil Science«. Darin gehen die Autoren davon aus, dass Vietnam weitere Jahrzehnte an den Spätfolgen leiden wird, da sich ein Großteil des Gifts in Böden und Sedimenten angereichert hat. Sie zeigen zudem einen Weg auf, wie man das Land sanieren könnte. Doch es fehlt der Wille – und auch das Geld.
Dass das Land immer noch mit der Verseuchung zu kämpfen hat, liegt eigentlich gar nicht an den Pflanzenschutzmitteln, aus dem Agent Orange bestand. Die beiden Verbindungen aus der Chlorchemie, Dichlorphenoxyessigsäure und Trichlorphenoxyessigsäure, waren im gleichen Verhältnis in Agent Orange enthalten; sie regen Pflanzen zu übermäßigem Wachstum an, so dass diese bald von selbst eingehen. Vor allem Dichlorphenoxyessigsäure ist weiterhin im Einsatz gegen Unkräuter, das Mittel wird bis heute bei Anhängern eines gepflegten Rasenrechtecks versprüht. Da die Halbwertszeit der beiden Verbindungen jedoch nur bei einigen Tagen oder Wochen liegt, wurden die Herbizide bis heute weder in Böden noch im Wasser nachgewiesen.
Giftige Beimischung
Die wahre Ursache der immensen Folgen für Mensch und Natur ist ein unerwünschtes Nebenprodukt, das bei der Herstellung von Trichlorphenoxyessigsäure entstehen kann. Es trägt den Namen Tetrachlordibenzodioxin, kurz TCDD, und gehört zur Stoffgruppe der rund 300 Dioxine. TCDD entsteht bei der Synthese unter erhöhten Reaktionstemperaturen, meist zwischen 300 und 600 Grad Celsius. Die Verbindung ist langlebig und die giftigste aller Dioxine. Schon geringste Mengen können schwere Organschäden und Krebs auslösen. Zudem gilt sie als Hormonstörer und führt zu schweren Fehlbildungen bei Kindern.
TCDD kam in den auf den Stützpunkten gelagerten Fässern in unterschiedlichen Konzentrationen vor. Jedes Fass beinhaltete 208 Liter Flüssigkeit. Der Umgang mit dem Inhalt war nicht immer sorgfältig – deshalb kamen auch zehntausende Soldaten in Kontakt mit dem hochgiftigen Material. Vor allem waren diejenigen betroffen, die die Fässer entluden, die Tanks befüllten und die Fässer transportierten. Außerdem waren die Piloten dem Gift ausgesetzt.
Luftwaffenstützpunkte wie Bien Hoa, aber auch wichtige Routen und Hochburgen der Gegner gelten daher bis heute als von der Verseuchung am stärksten betroffen. Agent Orange wurde vor allem entlang des Ho-Chi-Minh-Pfads auf der Truong-Son-Gebirgskette versprüht. Der Pfad galt als wichtige strategische Versorgungsroute der nordvietnamesischen Truppen. Da der Dschungel hier extrem dicht war und der Weg aus der Luft nicht zu erkennen, kam an diesen Stellen besonders viel Agent Orange zum Einsatz. Außerdem besprühten und bombardierten die Amerikaner das weit verzweigte Tunnelnetz der Vietcong-Kämpfer.
Krieg gegen den Wald
Weitere Ziele der Entlaubungsaktionen der Amerikaner waren zudem die Feuchtgebiete, Flüsse und Kanäle sowie der Südzipfel Cà Mau mit seinen einzigartigen Mangrovenwäldern. Schließlich machten die Amerikaner auch nicht vor den landwirtschaftlichen Flächen Halt. Ihr Ziel war es, die Gegner auszuhungern. Doch Analysen nach dem Krieg zeigten, dass darunter zu einem Großteil nicht die Guerillas litten, sondern die Bevölkerung. Hunderttausende Südvietnamesen hungerten.
Das hochgiftige TCDD kann zwar nicht von Pflanzen aufgenommen werden und ist auch kaum wasserlöslich, doch dafür bindet es sich in tropischen Böden und Sedimenten an organische Substanzen und Tonpartikel. Einziger Vorteil: Ins Grundwasser sickerte es dadurch sehr wahrscheinlich nicht. An der Oberfläche zerfällt es jedenfalls innerhalb von ein bis drei Jahren, im Boden und in Fluss- wie Meeressedimenten kann es allerdings mehr als 100 Jahre bestehen.
Über Flüsse, Wind, Erdrutsche und die starke Bodenerosion während des Monsuns breitete sich TCDD in den Ökosystemen aus und kam auf diesem Weg auch in die Nahrungskette. Vor allem die Gebiete rund um die verseuchten Stützpunkte sind mittlerweile belastet. Viele Vietnamesen sind diesem Gift deshalb bis heute ausgesetzt. Sie atmen kontaminierten Staub ein, bestellen verseuchte Felder und kommen mit dem Gift dadurch direkt in Kontakt. Da Reis und Fisch die Hauptnahrungsquellen der Bevölkerung sind, nimmt die Bevölkerung den gefährlichen Stoff auch über die Nahrung auf. Von allen Lebensmitteln sind vor allem Fisch und Fleisch gefährlich, denn TCDD reichert sich in Fett an. Da Tiere am Ende der Nahrungskette stehen, vergrößert sich die TCDD-Konzentration dutzendfach. Seen in der Nähe von Stützpunkten dürfen zwar nicht befischt werden. Wie Messungen zeigen, findet sich das Gift trotzdem im lokalen Nahrungsangebot.
Fokus auf Truppenstützpunkte
Zehn ehemalige Stützpunkte in Vietnam gehören zu den Hotspots der Verseuchung, darunter auch die Millionenstadt Bien Hoa, die mit TCDD wahrscheinlich am stärksten kontaminiert ist. Zwölf Studien wurden zwischen 1990 und 2016 erstellt, an 76 Standorten wurden 1300 Proben entnommen. Das Ergebnis: Mehr als die Hälfte aller Proben wiesen erhöhte Dioxinwerte auf. Vom Fischverzehr wurde in dieser Region darum wegen hoher Gesundheitsgefahr abgeraten, Trinkwasser hingegen ist sicher.
Die amerikanische Behörde für internationale Entwicklung (USAID) finanzierte im Jahr 2016 die neueste Studie. Diese kam zu dem Schluss, dass nur eine umfassende Altlastenbeseitigung das Dioxinproblem lösen kann. Etwa 350 000 bis 400 000 Kubikmeter Boden müssten saniert werden, schätzte die Behörde und machte vor drei Jahren eine große Rechnung auf. Je nach Methode koste die Sanierung zwischen 126 und 600 Millionen Dollar – allein in Bien Hoa. Schließlich versprach der damalige Präsident Barack Obama im Mai 2016 eine Beteiligung an der Beseitigung der Altlasten.
Jetzt ist die Sanierung endgültig beschlossen, fast 500 000 Kubikmeter Boden sollen von dem Dioxin befreit werden. Die sicherste und beste Methode hierfür wäre eigentlich die Verbrennung. Bei Temperaturen von 870 bis 1200 Grad Celsius bleibt von der Verbindung nichts mehr übrig; in speziellen Drehöfen würde TCDD vollständig zerstört. Doch es gibt ein Problem – die Kosten. Die Oxidation des gesamten Materials ist die teuerste Sanierungsmethode und würde sich wohl auf deutlich mehr als eine Milliarde Dollar belaufen. Daher kommt nun eine andere, billigere Methode zum Einsatz. Gering belastetes Bodenmaterial kommt auf die Deponie, und nur die stark belasteten Flächen werden in speziellen Öfen bei 335 Grad Celsius saniert. Es handelt sich um dieselbe Methode, die auch beim Flughafen Da Nang eingesetzt wurde. Sie gilt nach Expertenmeinung als ähnlich geeignet wie die Hochtemperaturverbrennung. Am Ende entscheiden allerdings die Messwerte über den Erfolg.
50 Jahre nach Ende der Mission Agent Orange ist immerhin ein Anfang gemacht, um gegen das vorherrschende Umweltproblem vorzugehen. Doch es ist auch höchste Zeit: Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Hälfte der hochgiftigen TCDD-Verbindungen noch immer im Boden ist.
Anm. d. Red.: In der ersten Version des Artikels wurde mit Tetrachlordibenzodioxin mit TCCD abgekürzt. Richtig ist jedoch TCDD. Wir haben dies korrigiert.
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