Epigenetik: "Das Humangenom ist nur die Inventarliste"
Die Genforschung steht vor einem Paradigmenwechsel: Nach euphorischen Anfangsjahren, in denen die Erbgutsequenz vieler Lebewesen nach und nach entziffert wurde, gerät der Glaube an die alleinige Macht der Gene ins Wanken; die Analyse einzelner DNA-Bausteine verblasst in ihrer Bedeutung neben dem Zusammenspiel der Erbstrukturen und der Beobachtung komplexer Regulationsmechanismen des Genoms. Evelyn Hanzig-Bätzing befragt den deutschen Genforscher Thomas Tuschl, welche Konsequenzen der Richtungswechsel für die Forschergemeinde und die Gesellschaft haben könnte.
spektrumdirekt: Herr Tuschl, derzeit wird vermehrt diskutiert, ob das Geheimnis der Gesundheit nicht weniger im Text der Gene liegt als in der Regulation ihrer Aktivitäten – also auf einem hochkomplexen Steuerungssystem fußt, das zudem direkt mit Umwelteinflüssen interagiert. Wie würden Sie diese neue Sicht auf die Entstehungsursachen von Krankheiten beurteilen?
Auch äußere Einflüsse wirken also – gelegentlich unvorhersehbar – auf das komplizierte selbstregulatorische Netzwerk, das unsere Gene kontrolliert. Entzieht sich dieses Regulationssystem des Genoms sogar unserer Kontrollierbarkeit?
Ich beantworte das mal aus meiner täglichen Arbeit: Dass das Ganze komplex ist, darüber lässt sich nicht streiten. Dabei ist das Humangenom ja nur die Inventarliste; es sagt nicht, wie und zu welchem Zeitpunkt welche Gene aktiv sind und wie sie untereinander wechselwirken. Man hatte gedacht, das Ganze wäre einfacher zu verstehen, wenn man für eine Krankheit ein Gen verantwortlich machen könnte. Tatsache aber ist, dass ein Gen oder ein Genprodukt, das Protein also, immer in Kontakt mit anderen Proteinen steht, und daraus entsteht die Komplexität. Die Funktion eines Genprodukts kann man also vielleicht noch verstehen, das Hauptproblem aber liegt in der Regulation dieser Funktionen: Es gibt eine große Zahl regulatorischer Gene, und nur selten wirken sie auf einen isolierten Faktor, viel eher aber auf zahlreiche andere Gene. Und von denen sind wieder einige regulatorisch, die dann ihrerseits wieder zurückwirken.
Stößt man hierbei auf nichtlineare Prozesse und damit auf Veränderungen von Genen und deren Aktivitäten, die nicht mehr mit den herkömmlichen Theorien zu erklären und nicht mehr vorhersagbar sind?
Genau, das ist eines von den größeren Problemen in unserer Forschung: Man kann nicht alle Aktivitäten der Proteine erfassen, weil man ihre relative Zusammensetzung kennen muss, um wissen zu können, wie viel von einem Protein mit dem anderen wechselwirken kann und was sich dadurch verändert. In der Tat versteht man dieses regulatorische Netzwerk nicht gut; die Methoden, dieses System zu untersuchen, sind im Augenblick nicht besonders ausgereift. Dies ist aber eines der aktuellen Forschungsgebiete: Die Menge der Proteine wird genomweit erfasst und mit der Menge der zu Boten-RNA umgesetzten Informationen des Genoms verglichen. Und da gibt es deutliche Abweichungen von der erwarteten Linearität, das heißt von den direkten Korrelationen. Ich denke, die Hälfte unserer Genregulation lässt sich durch direkte Korrelation erklären und die andere Hälfte gehorcht anderen Gesetzen, denen von dynamischen, nichtlinear ablaufenden Prozessen.
Wie wichtig sind diese Abweichungen für bestimmte Krankheiten?
Wir kennen einige wenige Fälle, bei denen die Reduktion der Gendosis Krankheiten auslöst, z.B. bei der Neurofibromatose oder dem Cornelia-de-Lange-Syndrom. Sie geben uns schon heute deutliche Hinweise darauf, wie wichtig Regulationsmechanismen der Genproduktmenge sind und wie empfindlich manche Zellen auf deren Veränderung reagieren. In einigen bekannten Fällen ist Derartiges sogar vorprogrammiert: Wenn wir etwa eine der beiden Genkopien verlieren, die wir von Mutter und Vater erhalten, erhöht sich das Risiko bestimmter Krankheiten. Nicht alle Gene verfügen über einen Kompensationsmechanismus, der das System wieder stabilisiert. Aber dann gibt es auch den umgekehrten Fall, dass Menschen Mutationen in ihrem Genom tragen, die zu einer erhöhten Menge an Genprodukt oder einer erhöhten Aktivität des Genprodukts beitragen, welches ebenfalls mit Risiken verbunden ist. Niemand weiß genau, wie viele Genprodukte wir haben, deren gleichgewichtseinstellende Regulationsebene fehlt oder nicht flexibel genug ist.
Noch komplexer macht das Genregulationssystem die flexible Reaktion auf Umwelteinflüsse und somit auch auf unsere Lebensumstände. Beteiligt sind daran epigenetische Prozesse, die zuletzt immer mehr Forscherinteresse auf sich ziehen. Untersuchungen bestätigen etwa einen Zusammenhang von Epigenetik und Tumorentstehung: Werden Gene, die für die Kontrolle der Zellteilung zuständig sind, im Zug aus dem Ruder laufender epigenetischer Regulation methyliert und stillgelegt, dann entsteht häufig Krebs. Tumorforscher wollen hier medikamentös eingreifen, indem sie Methylriegel vom Erbgut der Krebszelle entfernen oder gezielt an verstummte Tumorsuppressorgene montieren. Lassen sich epigenetische Fehler auf solchen Wegen rückgängig machen?
Bei den epigenetischen Mechanismen taucht das gleiche Problem auf wie im Netzwerk der Genregulation: Sie haben es mit einem Vorgang zu tun, der immer viele Gene gleichzeitig erfasst. Wenn Sie versuchen, eine auf das epigenetische Netzwerk abzielende Therapie zu entwickeln, dann werden Sie auch sehr unspezifische Aktivierungen oder Stilllegungen von Genen auslösen. Ich bin mir da nicht so sicher, was das für Folgen hat. Nichtsdestoweniger ist dieses neue Forschungsgebiet interessant. Es gibt da bereits Wirkstoffe, die sich in klinischen Studien für die Tumortherapie befinden.
Sie sind eher skeptisch, was diese spezifische Form der Wirkstoffentwicklung und der Anwendung betrifft?
Mit den epigenetischen Therapien wird – wie bei einer normalen Chemotherapie – versucht, die Zelle aus dem Gleichgewicht zu bringen, indem viele Gene auf einmal dereguliert oder reaktiviert werden. Aber man hat wenig Einfluss auf einzelne Tumorsuppressorgene oder Onkogene, die ursächlich an der Tumorentstehung beteiligt sind.
Das Entfernen von falsch geschalteten Methylriegeln wird als ein neuer und zudem viel versprechender Ansatz in der Krebstherapie diskutiert. Das ist doch dann ein massiver Eingriff ins epigenetische Netzwerk?
Ja, denn da verändern Sie die Genregulation von vorn bis hinten. Ich weiß nicht, was da zu erwarten ist. Man bringt hier das komplette System aus dem Gleichgewicht: Diese extremen Veränderungen führen – was für die Tumortherapie indiziert ist – zu großen Mengen an Stress in der Zelle, was die Tumorzellen umbringt, aber leider auch für die gesunde Zelle von Nachteil ist. Bei anderen Krankheiten wird zur Behandlung manchmal das Hormon Kortison eingesetzt, welches ebenfalls viele Gene stark beeinflusst und das zelluläre System so veranlasst, sich wieder neu einzustellen – was in einigen Fällen gerade der Heilerfolg sein kann. Aber am Schluss wird man nicht genau verstehen, wie sich dieses komplexe Netzwerk wieder neu ins Gleichgewicht bringt. Ich meine, dass die gleichzeitige Veränderung vieler Komponenten – also wenn Sie viele auf einmal an- oder ausschalten – nicht vorhersehbare Folgen haben kann. Aber darin liegt ja gerade die Faszination und manchmal auch das Geheimnis neuer Wirkstoffe.
Man geht bei der Wirkstoffentwicklung also jeglicher Komplexität aus dem Weg?
Ja. Ziel ist es eigentlich, den genauen Schwachpunkt in dem gesamten Netzwerk zu treffen. Aber im Augenblick finden wir nicht einmal diese Netzwerke. Und insofern hat man nur die Möglichkeit, ein großes Schaltermolekül zu entfernen, und dann haben Sie eben 10 000 Wechselwirkungen, die Sie auf einmal stören. Und niemand versteht so richtig, was dann die Konsequenzen sind.
Einen anderen Ansatz beschreitet man mit der RNA-Interferenz-Methode, an deren Erfolgsgeschichte Sie entscheidend mitgeschrieben haben. Die RNA-Interferenz kann krankheitsauslösende Gene medikamentös stummschalten. Erlaubt sie eine Therapiealternative zu den notgedrungen massiven Eingriffen ins epigenetische Netzwerk?
Was steht dem Erfolg der Methode derzeit noch entgegen?
Am schwierigsten in der RNAi-Wirkstoffentwicklung gestaltet sich die gezielte Aufnahme des Wirkstoffs in die Zellen des erkrankten Gewebes. Beim Entwickeln von Tumortherapien geht es darum, Faktoren der Zellteilung zu unterbinden, und zwar vor allem in Tumorzellen. Bei der Chemotherapie besteht die Toxizität darin, dass sie unerwünscht auch in gesundem Gewebe wirkt. Unsere synthetischen RNAi-Moleküle gehen von selbst kaum irgendwo hinein. Wenn man sie mit bestimmten Antikörpern oder Lipiden verbindet, kann man sie auch nur in bestimmte Organe hineinbekommen, was eben von Vorteil ist, weil man so auf das Zielgen gehen kann.
Und was hat man bei aller Zielgerichtetheit in puncto Nebenwirkungen zu erwarten?
Zum einen macht man sich mit RNAi einen natürlichen, zelleigenen Mechanismus zu Nutze. Zum anderen ziehen Sie diesen in gewisser Weise aber auch in Mitleidenschaft, denn Sie bringen ja zusätzlich ein Molekül ein, das einen gewissen Einfluss auf das regulatorische Netzwerk nimmt, welches ansonsten der zelleigenen RNAi und ihren Regulatoren, den Mikro-RNAs, dient. Und die damit verbundenen Effekte können dann eventuell auch zu Nebenwirkungen dieser neuen Medikamentengeneration führen. Mit RNAi haben Sie einen Zugriff auf die ganzen komplexen regulatorischen Wechselwirkungen, den Sie bislang nicht hatten, mit dem Sie aber auch nicht erwartete Nebenwirkungen oder Resistenzen auslösen können.
Auch hier ist also die Komplexität des Geschehens ein Knackpunkt?
Je mehr man versteht von der Komplexität eines bestimmten Prozesses, desto interessanter wird für die Pharmawirkstoffentwicklung, dies auszunutzen. Man kann da derzeit nicht vorhersagen, wie das ausgehen wird. Die neuen Erkenntnisse bringen jedenfalls eine Komplexität ans Licht, die die Risikoabschätzung bei den Therapien schwierig macht. Man geht auch für diese neue Wirkstoffklasse den etablierten und gesetzlich geregelten Weg der Wirkstoffentwicklung und Zulassung im Interesse aller zukünftigen Patienten.
Herr Tuschl, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Thomas Tuschl: Bislang fehlen uns für solche Hypothesen noch die Beweise. Wenn man aber davon ausgeht, dass sich eine Krankheit auf eine Veränderung in der Regulation der Gene zurückführen lässt und nicht auf einen Defekt im Gen selbst, dann sollte man dies auch messen können – etwa anhand der Menge von Protein, dessen Regulation die Krankheit auslöst. Sind diese Veränderungen gering und nicht mit den herkömmlichen Methoden zu erfassen, bleibt es schwierig, Krankheitsursachen zu erkennen, vor allem auch wegen der Überlagerung mit Umwelteinflüssen, welche ebenfalls Gene regulieren.
Auch äußere Einflüsse wirken also – gelegentlich unvorhersehbar – auf das komplizierte selbstregulatorische Netzwerk, das unsere Gene kontrolliert. Entzieht sich dieses Regulationssystem des Genoms sogar unserer Kontrollierbarkeit?
Ich beantworte das mal aus meiner täglichen Arbeit: Dass das Ganze komplex ist, darüber lässt sich nicht streiten. Dabei ist das Humangenom ja nur die Inventarliste; es sagt nicht, wie und zu welchem Zeitpunkt welche Gene aktiv sind und wie sie untereinander wechselwirken. Man hatte gedacht, das Ganze wäre einfacher zu verstehen, wenn man für eine Krankheit ein Gen verantwortlich machen könnte. Tatsache aber ist, dass ein Gen oder ein Genprodukt, das Protein also, immer in Kontakt mit anderen Proteinen steht, und daraus entsteht die Komplexität. Die Funktion eines Genprodukts kann man also vielleicht noch verstehen, das Hauptproblem aber liegt in der Regulation dieser Funktionen: Es gibt eine große Zahl regulatorischer Gene, und nur selten wirken sie auf einen isolierten Faktor, viel eher aber auf zahlreiche andere Gene. Und von denen sind wieder einige regulatorisch, die dann ihrerseits wieder zurückwirken.
Stößt man hierbei auf nichtlineare Prozesse und damit auf Veränderungen von Genen und deren Aktivitäten, die nicht mehr mit den herkömmlichen Theorien zu erklären und nicht mehr vorhersagbar sind?
Genau, das ist eines von den größeren Problemen in unserer Forschung: Man kann nicht alle Aktivitäten der Proteine erfassen, weil man ihre relative Zusammensetzung kennen muss, um wissen zu können, wie viel von einem Protein mit dem anderen wechselwirken kann und was sich dadurch verändert. In der Tat versteht man dieses regulatorische Netzwerk nicht gut; die Methoden, dieses System zu untersuchen, sind im Augenblick nicht besonders ausgereift. Dies ist aber eines der aktuellen Forschungsgebiete: Die Menge der Proteine wird genomweit erfasst und mit der Menge der zu Boten-RNA umgesetzten Informationen des Genoms verglichen. Und da gibt es deutliche Abweichungen von der erwarteten Linearität, das heißt von den direkten Korrelationen. Ich denke, die Hälfte unserer Genregulation lässt sich durch direkte Korrelation erklären und die andere Hälfte gehorcht anderen Gesetzen, denen von dynamischen, nichtlinear ablaufenden Prozessen.
Wie wichtig sind diese Abweichungen für bestimmte Krankheiten?
Wir kennen einige wenige Fälle, bei denen die Reduktion der Gendosis Krankheiten auslöst, z.B. bei der Neurofibromatose oder dem Cornelia-de-Lange-Syndrom. Sie geben uns schon heute deutliche Hinweise darauf, wie wichtig Regulationsmechanismen der Genproduktmenge sind und wie empfindlich manche Zellen auf deren Veränderung reagieren. In einigen bekannten Fällen ist Derartiges sogar vorprogrammiert: Wenn wir etwa eine der beiden Genkopien verlieren, die wir von Mutter und Vater erhalten, erhöht sich das Risiko bestimmter Krankheiten. Nicht alle Gene verfügen über einen Kompensationsmechanismus, der das System wieder stabilisiert. Aber dann gibt es auch den umgekehrten Fall, dass Menschen Mutationen in ihrem Genom tragen, die zu einer erhöhten Menge an Genprodukt oder einer erhöhten Aktivität des Genprodukts beitragen, welches ebenfalls mit Risiken verbunden ist. Niemand weiß genau, wie viele Genprodukte wir haben, deren gleichgewichtseinstellende Regulationsebene fehlt oder nicht flexibel genug ist.
Noch komplexer macht das Genregulationssystem die flexible Reaktion auf Umwelteinflüsse und somit auch auf unsere Lebensumstände. Beteiligt sind daran epigenetische Prozesse, die zuletzt immer mehr Forscherinteresse auf sich ziehen. Untersuchungen bestätigen etwa einen Zusammenhang von Epigenetik und Tumorentstehung: Werden Gene, die für die Kontrolle der Zellteilung zuständig sind, im Zug aus dem Ruder laufender epigenetischer Regulation methyliert und stillgelegt, dann entsteht häufig Krebs. Tumorforscher wollen hier medikamentös eingreifen, indem sie Methylriegel vom Erbgut der Krebszelle entfernen oder gezielt an verstummte Tumorsuppressorgene montieren. Lassen sich epigenetische Fehler auf solchen Wegen rückgängig machen?
Bei den epigenetischen Mechanismen taucht das gleiche Problem auf wie im Netzwerk der Genregulation: Sie haben es mit einem Vorgang zu tun, der immer viele Gene gleichzeitig erfasst. Wenn Sie versuchen, eine auf das epigenetische Netzwerk abzielende Therapie zu entwickeln, dann werden Sie auch sehr unspezifische Aktivierungen oder Stilllegungen von Genen auslösen. Ich bin mir da nicht so sicher, was das für Folgen hat. Nichtsdestoweniger ist dieses neue Forschungsgebiet interessant. Es gibt da bereits Wirkstoffe, die sich in klinischen Studien für die Tumortherapie befinden.
Sie sind eher skeptisch, was diese spezifische Form der Wirkstoffentwicklung und der Anwendung betrifft?
Mit den epigenetischen Therapien wird – wie bei einer normalen Chemotherapie – versucht, die Zelle aus dem Gleichgewicht zu bringen, indem viele Gene auf einmal dereguliert oder reaktiviert werden. Aber man hat wenig Einfluss auf einzelne Tumorsuppressorgene oder Onkogene, die ursächlich an der Tumorentstehung beteiligt sind.
Das Entfernen von falsch geschalteten Methylriegeln wird als ein neuer und zudem viel versprechender Ansatz in der Krebstherapie diskutiert. Das ist doch dann ein massiver Eingriff ins epigenetische Netzwerk?
Ja, denn da verändern Sie die Genregulation von vorn bis hinten. Ich weiß nicht, was da zu erwarten ist. Man bringt hier das komplette System aus dem Gleichgewicht: Diese extremen Veränderungen führen – was für die Tumortherapie indiziert ist – zu großen Mengen an Stress in der Zelle, was die Tumorzellen umbringt, aber leider auch für die gesunde Zelle von Nachteil ist. Bei anderen Krankheiten wird zur Behandlung manchmal das Hormon Kortison eingesetzt, welches ebenfalls viele Gene stark beeinflusst und das zelluläre System so veranlasst, sich wieder neu einzustellen – was in einigen Fällen gerade der Heilerfolg sein kann. Aber am Schluss wird man nicht genau verstehen, wie sich dieses komplexe Netzwerk wieder neu ins Gleichgewicht bringt. Ich meine, dass die gleichzeitige Veränderung vieler Komponenten – also wenn Sie viele auf einmal an- oder ausschalten – nicht vorhersehbare Folgen haben kann. Aber darin liegt ja gerade die Faszination und manchmal auch das Geheimnis neuer Wirkstoffe.
Man geht bei der Wirkstoffentwicklung also jeglicher Komplexität aus dem Weg?
Ja. Ziel ist es eigentlich, den genauen Schwachpunkt in dem gesamten Netzwerk zu treffen. Aber im Augenblick finden wir nicht einmal diese Netzwerke. Und insofern hat man nur die Möglichkeit, ein großes Schaltermolekül zu entfernen, und dann haben Sie eben 10 000 Wechselwirkungen, die Sie auf einmal stören. Und niemand versteht so richtig, was dann die Konsequenzen sind.
Einen anderen Ansatz beschreitet man mit der RNA-Interferenz-Methode, an deren Erfolgsgeschichte Sie entscheidend mitgeschrieben haben. Die RNA-Interferenz kann krankheitsauslösende Gene medikamentös stummschalten. Erlaubt sie eine Therapiealternative zu den notgedrungen massiven Eingriffen ins epigenetische Netzwerk?
Auf RNAi basierende Therapien haben den Vorteil, dass sie genau ein Gen vorübergehend abschalten, indem sie dessen Boten-RNA zerstören. Weder genetische noch epigenetische Information wird also permanent zerstört; der durch RNAi inaktivierte Zustand in der Zelle hält bis zu zwei Wochen an und verliert sich während wiederholter Zellteilung. Großer Vorteil dieser Methode ist vor allem, dass man auch Faktoren, welche die Genexpression regulieren, gezielt abschalten kann, was den bislang herkömmlichen Wirkstoffentwicklungen unzugänglich blieb. Wir können nun beliebige Gene einzeln oder in Kombination kontrolliert verstummen lassen, und für einige Krankheiten laufen bereits klinische Studien: Man konzentriert sich auf die kranken Gewebe und darin auf Gene, von denen man weiß, dass sie ursächlich für diese Krankheit verantwortlich sind. Die Idee ist, direkt am Krankheitsherd maßgeschneiderte synthetische Moleküle zum Zielgen zu bringen, um die krankheitserregende Abschrift des Gens zu zerstören und dadurch das Gen stummzuschalten.
Was steht dem Erfolg der Methode derzeit noch entgegen?
Am schwierigsten in der RNAi-Wirkstoffentwicklung gestaltet sich die gezielte Aufnahme des Wirkstoffs in die Zellen des erkrankten Gewebes. Beim Entwickeln von Tumortherapien geht es darum, Faktoren der Zellteilung zu unterbinden, und zwar vor allem in Tumorzellen. Bei der Chemotherapie besteht die Toxizität darin, dass sie unerwünscht auch in gesundem Gewebe wirkt. Unsere synthetischen RNAi-Moleküle gehen von selbst kaum irgendwo hinein. Wenn man sie mit bestimmten Antikörpern oder Lipiden verbindet, kann man sie auch nur in bestimmte Organe hineinbekommen, was eben von Vorteil ist, weil man so auf das Zielgen gehen kann.
Und was hat man bei aller Zielgerichtetheit in puncto Nebenwirkungen zu erwarten?
Zum einen macht man sich mit RNAi einen natürlichen, zelleigenen Mechanismus zu Nutze. Zum anderen ziehen Sie diesen in gewisser Weise aber auch in Mitleidenschaft, denn Sie bringen ja zusätzlich ein Molekül ein, das einen gewissen Einfluss auf das regulatorische Netzwerk nimmt, welches ansonsten der zelleigenen RNAi und ihren Regulatoren, den Mikro-RNAs, dient. Und die damit verbundenen Effekte können dann eventuell auch zu Nebenwirkungen dieser neuen Medikamentengeneration führen. Mit RNAi haben Sie einen Zugriff auf die ganzen komplexen regulatorischen Wechselwirkungen, den Sie bislang nicht hatten, mit dem Sie aber auch nicht erwartete Nebenwirkungen oder Resistenzen auslösen können.
Auch hier ist also die Komplexität des Geschehens ein Knackpunkt?
Je mehr man versteht von der Komplexität eines bestimmten Prozesses, desto interessanter wird für die Pharmawirkstoffentwicklung, dies auszunutzen. Man kann da derzeit nicht vorhersagen, wie das ausgehen wird. Die neuen Erkenntnisse bringen jedenfalls eine Komplexität ans Licht, die die Risikoabschätzung bei den Therapien schwierig macht. Man geht auch für diese neue Wirkstoffklasse den etablierten und gesetzlich geregelten Weg der Wirkstoffentwicklung und Zulassung im Interesse aller zukünftigen Patienten.
Herr Tuschl, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
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