ICARUS: Das Internet der Tiere
An einem Mittwochnachmittag im August konnte der Biologe Martin Wikelski nur hilflos zusehen, wie 17 Jahre seines Berufslebens drohten, den Bach runterzugehen. Schuld war ein versehentlich vertauschtes Kabel.
Rund 400 Kilometer über der Erde bastelte der Kosmonaut Oleg Artemjew an einer elektrischen Verbindung herum, während Wikelski die Operation von einer Kommandozentrale in Moskau aus überwachte. Gerade schwebte der Kosmonaut außerhalb der Internationalen Raumstation (ISS) und mühte sich ohne große Erfolgsaussicht, mit seinen dicken, steifen Raumanzughandschuhen zwei ungleiche Kabelenden zusammenzufummeln. Das ging schlecht voran, während die ISS mit mehr als 27 000 Kilometern pro Stunde durch den Weltraum schoss.
Wikelski, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell, hatte in Moskau den Höhepunkt des Werkes erleben wollen, das ihn über die längste Zeit seiner Karriere beschäftigt hielt – und das nicht selten schon gescheitert schien. Nun aber installierte Artemjew tatsächlich eine drei Meter lange Antenne an der Außenseite der Raumstation. Sie sollte Teil eines Systems werden, mit dem Forscher aus dem All die Wildtiere auf der Erde beobachten können – auch die kleinsten, nicht nur große, die schon jetzt Sender für eine Ortung per Satellit herumtragen können.
Am Ende, so die Vorstellung Wikelskis, sollte das System einmal so viele Individuen vernetzen – von Elefanten über Grasmücken bis hin zu kleinen Meeresschildkröten –, dass etwas wie ein »Internet der Tiere« geknüpft wird. Damit könnten aus den Bewegungen und Gewohnheiten der Wildtiere Muster abgeleitet werden – wie es analog mit Handydaten passiert, mit denen die Verkehrssituation erfasst oder die sozialen Netzwerke der Menschen ausgeleuchtet werden.
Zunächst aber müsste der Kosmonaut der ISS erst einmal die Antenne anschließen. Der Weltraumspaziergang am 15. August 2018 war von Anfang an quälend. Zum ersten Mal war Wikelski im Nebenzimmer der Moskauer Kommandozentrale zusammengezuckt, als er Artemjew die 120-Kilogramm-Antenne packen und aus der Luftschleuse der Station herauswuchten sah – wobei der zerbrechliche Empfänger prompt gegen die Außenseite des Raumschiffs stieß. Dann vergingen Stunden, während Artemjew und sein Kosmonautenkollege Sergej Prokopjew über die ISS krochen und akribisch Kabelstrippen über dem unübersichtlichen Antennenäußeren drapierten.
Schließlich, als die Russen noch darum kämpften, die Antenne mit einer Stromquelle zu verbinden, kamen Wikelski schlagartig Zweifel: Hatte sein Team etwas irgendwie fatal falsch verkabelt? Irgendetwas, was den Kosmonauten gerade jetzt auf die Füße fällt? War all die Arbeit zum Scheitern verurteilt?
Mit einer kleinen Crew von Ingenieuren der Deutschen Weltraumorganisation und dem eigenen Institut drängelte er sich vor den Monitor und beobachtete Artemjew, der immer wieder die Verbindung herzustellen und gleichzeitig Schaltpläne zu checken versuchte, um nicht doch irgendwo versehentlich an ein falsches Kabel zu geraten. Noch eine Chance, das war Wikelski klar, würde das langwierige Projekt nicht mehr bekommen.
Dann, nach Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, fand Artemjew das richtige Kabelende und stöpselte die Antenne in die Stromversorgung der Station. Ingenieure in Moskau knipsten die Antennencomputer an, ein System nach dem anderen ging online, und als die eine letzte Bildschirmzeile auf dem Monitor von Rot auf Grün umsprang, konnte sich auch Wikelski entspannen. Endlich.
Tage später, zurück am Max-Planck-Institut, das er in den letzten zehn Jahren geleitet hat, stand der 53-jährige Forscher dann vor seinen versammelten Mitarbeitern. »Der nominelle Betrieb sollte Anfang November beginnen«, kündigte er ausgelassen an und hob sein Glas für einen Toast: »Jetzt sind wir Raumfahrer!«
Hoch hinausfliegen
Das Tracking von mit GPS-Sendern markierten Wildtieren hat unser Verständnis vom Tierverhalten in den letzten Jahrzehnten entscheidend verbessert: Heute können Wissenschaftler von Walen im offenen Meer bis zu Jaguaren unter dem Dschungelblätterdach alles mit Hilfe von Tags beobachten, die über Satelliten-, Handy- und Funknetze kommunizieren. Aber: Unsichtbar bleiben bei den meisten Arten Langstreckenwanderungen. Zudem können Tiere, die selbst weniger als 100O Gramm wiegen, auch die kleinsten verfügbaren Satellitenanhänger nicht verlässlich tragen. Somit sind 75 Prozent aller Vogel- und Säugetierarten und alle Insekten durch diese Art des Monitorings nicht zu erfassen. Zudem kosten gängige Tags selbst Tausende von Dollar pro Stück – sie im großen Stil bereitzustellen, ist immer kostspielig.
Mit seinem Projekt ICARUS (International Cooperation for Animal Research Using Space) – im Ganzen weit mehr als nur eine einzelne ISS-Antenne – will Wikelski all das ändern: Er plant innerhalb von zehn Jahren ein Satellitennetzwerk aufgebaut zu haben, das Hunderttausenden von Tieren in Echtzeit folgen kann. Wikelski schwebt mit seiner Idee vom »Internet der Tiere« vor, dass damit womöglich Fragen beantwortet werden, von denen Forscher selbst nicht ahnen, dass sie sie haben. ICARUS könnte aufklären, warum Zugvögel und Fledermausarten verschwinden, meint Wikelski, oder die Ausbreitung von Krankheitserregern wie der Vogelgrippe und Ebola kartieren. Es könnte sogar als Frühwarnsystem vor Schädlingsausbrüchen und möglicherweise Erdbeben fungieren. »Aus dem höheren Blickwinkel im Orbit schauen wir ganz anders auf den Globus – und entwickeln daraus andere ökologische Ansätze«, sagt er.
Wikelski hat einen Großteil seines Berufslebens damit verbracht, ICARUS zum Abheben zu bringen. Bereits 2001 hatte er die Idee eines Funkempfängers auf der ISS, seitdem wirbt er bei Geldgebern und anderen Biologen – und wartet darauf, dass deren Vorstellungskraft seine eigene einholt und technischer Fortschritt die Vision realistisch macht.
Das war nicht einfach. Im Johnson Space Center in Houston, Sitz der ISS-Missionen, haben ihn die NASA-Mitarbeiter erst einmal ausgelacht. Dann hat er schließlich einen Platz für ICARUS auf dem russischen ISS-Modul eingeworben – nur um jahrelang fürchten zu müssen, dass Streitereien der internationalen Politik diese Chance zunichtemachen würden. Er konzentrierte sich so sehr auf ICARUS, dass irgendwann seine Position am Max-Planck-Institut für Ornithologie gefährdet war. Auch nachdem er ICARUS zu einem Projekt mit Dutzenden von Menschen, Partnern in fünf Ländern und acht großen Förderinstitutionen ausgebaut hatte, war er, erzählte Wikelski im Januar 2018 seinen Kollegen, kurz davor aufzugeben – und nicht bereit, weitere Jahre seiner Forscherkarriere einem exotischen Traum zu widmen. Aufgegeben hat er am Ende nicht – vielleicht konnte er schlicht nicht.
»Normalsterbliche hätten das gar nicht geschafft«, sagt der Ornithologe David Winkler von der Cornell University in Ithaca, New York: »Er verdient jede Menge Anerkennung dafür, dass er so viel von seinem Leben in diese Sache investiert hat. Es war eine gewaltige Investition.« Und dabei fängt die eigentliche Arbeit wohl gerade erst an.
Oben in der Luft
Als Junge im ländlichen Bayern hatten Wikelski Rauch- und Mehlschwalben fasziniert, die unter dem Dach der Scheune seiner Familie Unterschlupf fanden. Seine Fantasie war geweckt, als ihm ein Lehrer erzählte, dass die kleinen Vögel jedes Jahr bis nach Südafrika wandern. Als Teenager fotografierte er Vögel und übte sich im Beringen, er fixierte winzige Metallstreifen an jungen Schwalben und staunte, wenn sie Jahre später zurückkehrten – manchmal in dieselben Nester. »Wenn man ein Tier beringt und es nach einer Weltreise zurückkommt, ist es wirklich unglaublich«, erzählt er.
Damit begann ein lebenslanges Streben nach größtmöglicher Nähe zu wandernden Tieren. Während des Militärdienstes Anfang der 1980er Jahre meldete sich Wikelski freiwillig für die Frühschicht als Transportfahrer – er stand um 5 Uhr morgens auf, um den Arbeitstag bis zum frühen Nachmittag beenden zu können. Kaum außer Dienst machte sich Wikelski dann mit einem Gleitdrachen im Gepäck auf in die bayerischen Alpen: »Ich hatte ein Jahr lang täglich die Gelegenheit zum Drachenfliegen.« Hoch über dem Boden schwebend, konnte er die Luftströmungen spüren, die Vögel und Fledermäuse hinauftragen. »Es hat etwas verändert«, meint Wikelski. »Ich wollte verstehen, was Vögel tun – und man kann es nicht verstehen, wenn man es nicht selbst macht.«Wikelski promovierte in Deutschland in Verhaltensökologie, ging dann für den Postdoc in die USA und bald zum Smithsonian Tropical Research Institute in Panama, bevor er eine Stelle an der University of Illinois in Urbana-Champaign antrat. Im topfebenen Mittleren Westen der USA tauschte er seinen Drachen gegen einen alten Oldsmobile-Gebrauchtwagen mit lila Velourssitzen samt hochragender Dachantenne: das Batmobil, wie seine Doktoranden das Gerät tauften.
Es machte äußerlich vielleicht nicht viel her, das Batmobil war aber höchster Stand der Technik, wenn es darum ging, Zugvögel verstehen zu lernen. Forscher benutzten ähnliche Systeme schon in 1960er Jahren, seitdem der US-amerikanische Biologe William Cochran als Vorreiter mit winzigen Funkmarkern ziehende Singvögel wie die Swainson-Drossel (Catharus ustulatus) verfolgt hatte. Diese Sender waren leicht genug, um von den kleinen Singvögeln getragen zu werden, dabei allerdings wenig reichweitenstark: Cochran und später Wikelski mussten den Vögeln in einem Abstand von wenigen Kilometern folgen, um die Funksignale noch zu empfangen.
Da Swainson-Drosseln bei Nacht fliegen und sich bei günstigem Wind mit bis zu 112 Kilometern pro Stunde bewegen können, erfordert die Vogelortung die Fähigkeiten eines Rallyefahrers und die Ausdauer eines Marathonläufers. »Das Ding hebt irgendwo zwischen Abenddämmerung und 2 Uhr morgens ab, und sobald sich der Piepton ändert, fährst du wie verrückt, weil du den Vogel nicht verlieren willst«, erinnert sich Wikelski. Das Batmobil bot die nötige Beschleunigung. Allerdings hat die örtliche Polizei das ungewöhnliche, um 3 Uhr morgens herumrasende Gefährt mit der eigentümlichen Antenne regelmäßig auch zwei- bis dreimal pro Nacht angehalten.
Im Jahr 2004 wollten Wikelski und Cochran zusammen mit dem Biologen Henrik Mouritsen herausfinden, wie die Drosseln bei Dunkelheit navigieren. Sie platzierten gefangene Vögel in magnetisierten Käfigen, um ihren inneren Kompass künstlich neu auszurichten, und ließen sie dann frei. So rasten sie dann Nacht für Nacht hinter ihnen her – auch einmal bei einer 1100 Kilometer andauernden Odyssee durch die amerikanischen Great Plains, immer einem kaum faustgroßen Vogel folgend. Am Ende konnten sie zeigen, dass die Vögel eine Kombination von Magnetfelddaten und Licht einsetzen, um ihre Flugbahn zu kalibrieren.
Wikelski hat die Technik seither angepasst, um immer kleinere Organismen tracken zu können: Erfolgreich platzierte er Funketiketten an Zikaden, Libellen und sogar Hummeln und folgt markierten Vögeln und Fledermäusen in ganz Europa. Er hat gelernt, dass weite Wanderungen viel häufiger sind, als man dachte, und dass einige Insekten kilometerweit fliegen, um Nahrung zu finden. Die Arbeit zeigt, dass die Migration für Tiere in Bezug auf die Energieproduktion viel billiger ist, als es sich die Forscher je vorgestellt haben: Fledermäuse und Vögel schweben bei Aufwinden, Schmetterlinge »schwimmen« im Luftstrom, und einige Vögel haben im Flug die gleichen Herzfrequenzen wie im Sitzen, erklärt der Forscher.
Die Arbeit bestätigte ihn im Glauben, dass Tierwanderungen im natürlichen Umfeld zu verfolgen ein Schlüssel zum Verständnis ihres Verhaltens ist. »Versteht man nicht, was sie in der Natur tun, dann versteht man die Biologie nicht«, erklärt Wikelski. Klar war aber auch, dass das Hinterherhecheln hinter einem Tier und dann dem nächsten nur begrenzte Erkenntnisse liefern würde. Wenn man die Welt wirklich verstehen will, so Wikelski, »muss man es von oben aus tun«.
Aufspüren im Dschungel
Ende der 1990er Jahre hat Wikelski das zum ersten Mal versucht: auf Barro Colorado, einer 16 Quadratkilometer großen Insel vor der Küste Panamas. Er und der Biologe Roland Kays, jetzt an der North Carolina State University in Raleigh, wollten Dschungelbewohner auf ihrem Weg durch das Dickicht verfolgen: Jaguare, Agutis oder Faultiere. Die GPS-Technik steckte allerdings noch in den Kinderschuhen, und das massive Dach der Baumkronen blockte die Sender der Tags ab. Also adaptierten Wikelski und Kays das System und installierten ein Netzwerk mit sieben mehr als 40 Meter hoch aufragenden Funkmasten für eine Dreieckspeilung der Signale umherwandernder Tiere. Die von ihnen entwickelte Software zur Verarbeitung und Speicherung ihrer Daten wurde zur Grundlage für ein System namens Movebank, mit dem Biologen auf der ganzen Welt Bewegungsdaten analysieren und austauschen können. Das System wurde 2007 eingeführt und hat im September 2018 nun seine erste Milliarde Datenpunkte geliefert – als Grundlage für Hunderte von wissenschaftlichen Publikationen. Einige der Informationen über Tierbewegungen kann jedermann über eine Handy-App namens Animal Tracker abrufen.
»Aus dem höheren Blickwinkel im Orbit schauen wir ganz anders auf den Globus«Durch die Kombination von ICARUS und Movebank will Wikelski ein leistungsfähiges Instrument schaffen, das Forscher wie Öffentlichkeit nutzen können. Ganz in der Nähe seines Arbeitsplatzes, einen Steinwurf entfernt vom Schloss Radolfzell, demonstriert Wikelski mit seinem Smartphone, wie das funktionieren soll: Er ruft in der Animal-Tracker-App eine bestimmte Pfeifente (Anas penelope) auf, die von den Forschern den Rufnamen Guillaume verpasst bekommen hat. Guillaume trägt einen Tag, der sich mit Mobilfunknetzen verbindet – und so verrät, dass die Ente in den letzten zwei Wochen auf einem Teich in Kasachstan herumgepaddelt ist.
Per Knopfdruck kann die App bequem und schnell die Zeitleiste zurückverfolgen: Sie zeigt Wikelski Guillaumes Zickzackkurs durch Europa vom Stadtrand Amsterdams aus, wo die Ente sechs Monate zuvor gefangen und markiert wurde. In einer Zeit, in der Menschen Livestreams von Adlernestern beobachten und eine Beziehung zu einzelnen Tierindividuen aufbauen, verschwinden tausende weitere unbemerkt – und Wikelski glaubt, dass Tracking-Daten ein Weg sind, Tierschutz zu personalisieren. »Endlich haben wir eine Möglichkeit, mit einem wilden Haustier mitzuleben, endlich zu verstehen, wie schwierig und gefährlich das ist. Du kannst die Ente auf deinem Teich daheim sehen, die gerade aus Russland zurückgekommen ist«, schwärmt er – wobei kurz der Junge zum Vorschein kommt, der früher einmal Schwalben beobachtet hat.
Das Tracking von Tieren, so Wikelski, sei ein Weg, den Naturschutz zu »cecilisieren«. Cecil war ein berühmter männlicher Löwe (Panthera leo) und eines der meistfotografierten und beliebtesten Tiere im Hwange Nationalpark in Simbabwe. Im Jahr 2015 wurde Cecil von einem Zahnarzt aus den USA außerhalb des Parks gejagt und getötet – wobei Daten des Trackers von Cecil belegen, dass er aus dem Schutzgebiet gelockt wurde. Cecils Tod löste einen internationalen Aufschrei und den Ruf nach einem Verbot der Trophäenjagd aus.
Wikelski sieht die Chance, eine ähnliche Aufmerksamkeit für die Probleme anderer Wildtiere zu wecken – etwa für den rapiden Rückgang der Singvögel in Europa. Gerne würde er hier das Bewusstsein schärfen, indem er deutlich macht, was mit den Vögeln geschieht: »Wir haben 420 Millionen Singvögel verloren, und niemanden kümmert's«, sagt er. »Ein ›Cecil, der Würgervogel‹ könnte das ändern.«
Die in Panama und den USA beim Tier-Tracking gemachten Erfahrungen veranlassten Wikelski, nach besseren Methoden zu suchen. Warum Funktürme bauen oder Vögeln im Auto oder Flugzeug nachjagen, wenn man einen Empfänger im Weltraum platzieren könnte – wo er unberührt von geografischen Besonderheiten Signale aus aller Welt empfangen kann?
Die Idee schien derart überzeugend und naheliegend, dass – vermutete er zumindest – kaum Überzeugungsarbeit nötig sein würde, als er sie 2001 erstmals vorschlug. »Ich dachte: Drei Jahre, dann haben wir's auf der Raumstation«, erinnert er sich. Stattdessen dauerte es Jahre, bis Wikelski, dann schon Assistenzprofessor an der Princeton University in New Jersey, überhaupt einen Termin bei der NASA bekam. Als er schließlich 2004 ins Raumfahrtzentrum in Houston spazierte, wurde der junge und eher nüchtern wirkende deutsche Biologe von Büro zu Büro geschickt. Schnell war klar: Vögel und Fledermäuse hatte die NASA nicht wirklich auf dem Schirm.
Wikelski weigerte sich, sein Projekt zu beerdigen. »Nachdem die NASA gesagt hatte: ›Es wird nie fliegen‹, taufte ich es ICARUS« – nach der todgeweihten mythologischen Gestalt der griechischen Antike, die flog, der Sonne zu nahe kam und abstürzte. Wikelski wandte sich weltweit an Kollegen, weckte ihr Interesse und sammelte exemplarische Szenarien, um zu verdeutlichen, wie leichtere und kostengünstigere Satelliten-Tags Forschungsvorhaben überhaupt erst möglich machen – vom Schutz der Großsäuger bis zur Erforschung von Meeresschildkröten.
Frucht der Bemühungen war 2008 ein von dutzenden prominenten Biologen unterzeichnetes Whitepaper, das 32 mögliche Anwendungen der Technologie auflistete. In der Szene wurde die Idee leichterer, billigerer Satelliten-Tags zum Hit. »Die Herausforderung war nun, die Experten in der Raumfahrt zu überzeugen, dass sich die Sache lohnt«, sagt Kays, einer der Gründungspartner des Projekts: »In den letzten zehn Jahren hat er immer und immer wieder mit den Weltraumleuten geredet.«
Dann, etwa zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Whitepapers, wurde Wikelski eine der begehrtesten Positionen in der Wissenschaft angeboten: die Leitung eines Max-Planck-Instituts. Im Jahr 2008 wechselte er von Princeton in das Landschloss bei Konstanz, in dem das Max-Planck-Institut für Ornithologie untergebracht ist.
Der Übergang, sagt er, war holprig. Wikelski stoppte alle Vogelberingungsaktivitäten des Instituts – eben jene, die er als Teenager kennen gelernt hatte –, was ihm die Gegnerschaft vieler traditioneller Vogelbeobachter in Deutschland einbrachte. Und selbst die berüchtigt unerschöpfliche Ausdauer Wikelskis kam an Grenzen, als er darum kämpfte, ein Institut zu leiten, an der nahe gelegenen Universität Konstanz zu lehren und ICARUS weiter voranzutreiben. Prompt gaben ihm externe Gutachter einige Jahre nach seiner Übernahme schlechte Noten als Führungskraft, erinnert sich Wikelski: ICARUS und Movebank seien Ablenkungen. Die Gefahr bestand, dass ihm Gelder gekürzt oder seine Leitungsfunktion beschnitten würde. Herbert Jaeckle, der damalige Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, sagt, Wikelski habe die Gesellschaft davon überzeugt, ihm und seinen ICARUS-Plänen zu vertrauen. »In Bezug auf diese Idee war er nahezu fanatisch«, erzählt Jaeckle. »Wir waren überzeugt, dass er es schaffen würde – und hatten Recht.«
ICARUS nahm Fahrt auf, als der Leiter der Deutschen Weltraumorganisation (DLR) einen Pitch von Wikelski hörte und ihn aufforderte, sich um eine Finanzierung zu bewerben. Das DLR war enthusiastischer als die NASA, tat sich aber schwer damit einzuordnen, welche Priorität ein Tierverfolgungsprojekt für eine Raumfahrtagentur haben sollte, berichtet Johannes Weppler, der als Projektleiter am DLR für das ICARUS-Programm verantwortlich ist.
Schließlich vereinbarte das DLR 2012 die Finanzierung von ICARUS als technologischem Experiment und gab mehr als 27 Millionen Euro für die Entwicklung, den Test und den Bau der ICARUS-Antenne auf der ISS aus. Russland, der andere nationale Partner des Projekts, stellte den Raum auf der Station, die Crew für die Installation und die Rakete für den Transport ins All zur Verfügung. Der Start wurde vorläufig für 2015 veranschlagt. Während die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen eisiger wurden, verzögerte sich der Start immer wieder. »An einem bestimmten Punkt habe ich mich gefragt, ob es billiger wäre, einfach aufzugeben«, sagt Wikelski. Anfang 2018 schwor er sich: »Wenn die Antenne im Februar nicht hochgeht, geben wir der Sache noch ein paar Monate und hören dann auf.«
Plötzlich begannen sich die Dinge zu bewegen. Im Februar 2018 war Wikelski im russischen Weltraumzentrum in Baikonur, Kasachstan, um zu sehen, wie die Antennenanlage von ICARUS die Erde verlässt. Und Mitte August des Jahres beobachtete er von Moskau aus, wie das System seine ersten Signale zurück zur Erde schickte.
Im Flug
Nur ein paar Tage später: Wikelski biegt mit seinem Fiat-500-Cabrio auf eine holprige Landebahn am Rand von Konstanz ein, hüpft die Stufen des zweigeschossigen Kontrollturms hoch und umarmt den einsamen Fluglotsen vom Dienst. Wikelski verbringt hier viel Zeit – er sitzt mindestens 200 Stunden im Jahr am Steuer der institutseigenen Cessna. Er zieht ein Hangartor auf und schiebt das kleine rot-weiße Propellerflugzeug nach draußen. Nach dem Pre-Flight-Check und einem holprigen Start über die zerfurchte Wiese steuert er nordwärts über das blaue Wasser des Bodensees. Auf halbem Weg zum bewaldeten hügeligen Nordufer schaltet Wikelski eine Antenne ein, die an einer der Flügelstreben montiert ist, einen Tabletcomputer auf dem Schoß balancierend. »So«, meint er, »wir simulieren im Prinzip die ISS.«
Irgendwo weiter unten seien fünf Amseln, schreit er beim Brüllen des Motors, die mit die ältesten in freier Wildbahn eingesetzten ICARUS-Tags tragen. Die Fünf-Gramm-Geräte enthalten jeweils ein Thermometer, einen Beschleunigungssensor, einen GPS-Empfänger, einen Sender, der ein Signal in den Weltraum senden kann, und eine solarbetriebene Batterie, die alles mit Strom versorgt.
Die geringe Größe des Geräts, sagt Wikelski, macht einen großen Unterschied. Tags, die mehr als drei Prozent des Körpergewichts eines Tieres wiegen, könnten womöglich sein Verhalten verändern und lebensgefährlich sein. Deshalb ist die überwiegende Mehrheit der Tiere von Standard-Tags mit Mobil- oder Satellitentechnik ausgeschlossen. Sobald das ICARUS-System vollständig in Betrieb ist, werden die Tags Datenpakete von 220 Byte bis zur ISS übertragen. Das reicht für 20 GPS-Positionen – und somit immerhin für Skizzen der Tierbewegungen an einem bestimmten Tag.
Dank einer solargespeisten Batterie erreichen die ICARUS-Tags theoretisch die Lebensdauer der Tiere, die sie tragen – und können wieder eingesammelt und wiederverwendet werden. Im Tag ist auch ein Speicherchip integriert, der bis zu 500 Megabyte an Daten fasst – genug, um Zugverhalten, Bewegungen und Energiekosten eines Tierlebens aufzuzeichnen.
Für eine schnellere Datenübertragung können Forscher die Informationen eines Tages auch mit einem handlichen Gerät mobil herunterladen, wenn sie nah genug an das Tier herankommen – wobei das, je nach Geografie und Vegetation, zwischen einigen hundert Metern und 15 Kilometern sein kann. »Das ist sehr aufregend«, sagt Emily Shepard, eine Spezialistin für Vogelenergetik an der Swansea University, Großbritannien.
Während das Flugzeug einen Kilometer über den bewaldeten Hügeln rund um das Radolfzeller Institut fliegt, erscheinen auf Wikelskis Tablet Informationen: die Position der Amsel-Tags, ihre Batterierestleistung und der Zeitpunkt der letzten Kommunikation mit dem Empfänger. Jedes zum Himmel gesendete Byte liefert Details über die Gewohnheiten der Vögel. Forscherkollegen erkennen Potenzial in der Vielzahl der Sensoren auf den Tags: Sie könnten knifflige, aber entscheidende Fragen zum Verhalten der Tiere beantworten helfen. Wenn man die Messdaten zur Beschleunigung, die Anzahl der Flügelschläge und die GPS-Positionen mit Windgeschwindigkeits- und Niederschlagsdaten kombiniert, könnte zum Beispiel ermittelt werden, warum Vögel ganz bestimmte Flugrouten wählen: Der Abgleich erlaubt Wissenschaftlern, den unterschiedlichen Energiebedarf auf unterschiedlichen Routen zu ermitteln.Das Monitoring des Vogelzugs ist nur der Anfang. Um der Politik eine 27 Millionen Euro teure Tierortungsantenne schmackhaft zu machen, hat Wikelski auch mögliche Vorteile für die Menschheit betont. Fluggeschwindigkeit und Temperatur mit Tausenden von Vögeln zu messen, das könnte, so argumentiert er, am Ende in einem kostengünstigen, verteilten globalen Wetterüberwachungssystem münden.
»In Zukunft werden wir jede Art Flugtier als meteorologische Drohne einsetzen«, sagt er. »Es ist unmöglich, mitten im Pazifik die Temperatur in 20 Meter Höhe zu messen – Vögel machen das aber ständig.« Mit Wetterbeobachtung soll das nicht aufhören, findet Wikelski: Einer der ambitioniertesten Pläne soll ICARUS-Tags in erdbebengefährdeten Gebieten zum Einsatz bringen. Der Volksmund kennt allerlei Tiere mit der Gabe, seismische Aktivitäten vorhersagen zu können – und inspirierte Wikelski zu testen, ob man mit getaggten Tieren möglicherweise ein Erdbebenfrühwarnsystem auf der Basis ihrer Beschleunigungssensordaten entwickeln kann.
2012 testete Wikelski die Idee mit halbwilden Ziegen an den Hängen des Ätna, dem aktiven Vulkan auf Sizilien: Sie trugen Datenlogger-Tags, mit denen er ihre Bewegungen nach dem Einsammeln analysieren konnte. Über mehrere Jahre hinweg beobachtete er, dass die Ziegen stets vier bis sechs Stunden vor größeren Ausbrüchen deutlich mehr in Bewegung waren als vorher. Ziemlich simpel, meint er: Man hat ein verteiltes Netzwerk von Ziegen auf dem Berg, und in manchen Nächten spielt das einfach komplett verrückt.
Bei allem Potenzial des »Internets der Tiere«: Wikelski ist klar, dass Kollegen noch Bedenken haben, ein solches System aufzubauen. Würde es in dem von Wikelski angedachten Maßstab aufgespannt, dann könnten nicht wieder eingesammelte Tags zu Hightech-Schrott in bis dato kaum berührten Gegenden der Erde werden. Und egal, wie leicht die Tags sind: Tiere zu fangen und mit Trackern auszurüsten, setzt sie einem erhöhten Risiko aus. »Man muss sich schon fragen, ob man alles markieren muss, was man markieren kann«, findet Shepard. »Wenn die Kosten fallen und die Gelegenheiten wachsen, sollte man das als relevanten Punkt im Hinterkopf behalten.«
Am Ende steht und fällt alles damit, viele ICARUS-Tags einzusetzen, sagt Wikelski – die in ihrer ersten Generation etwa 500 Dollar gekostet haben, in den nächsten Jahren aber immer billiger und kleiner werden könnten. Zudem muss das System von der einen Einzelantenne auf der ISS in ein Netzwerk von Satelliten hochskaliert werden, um das Auslesen und Überwachen in Echtzeit möglich zu machen. Ein Drei-Satelliten-System dürfte zwischen 80 und 100 Millionen US-Dollar kosten, schätzt Wikelski – und allerlei Beteiligungen von Dritten erfordern: »Wir müssen belegen, dass das Wissen um Tierwanderungen und -verhalten wichtigen Input bei globalen Entscheidungsprozessen bietet.«
Bis dahin hofft er auf Biologen auf der ganzen Welt, die ICARUS in Massen adoptieren – und zwar bald. Denn das russische Modul der ISS soll nach derzeitiger Planung nur noch sechs weitere Jahre in Betrieb sein – obwohl eine Verlängerung denkbar ist. Das DLR plant indes, die Mission nur bis 2024 zu finanzieren. »Was danach kommt, ist die große Frage«, sagt Weppler. Und so haben Wikelski und seine Mitarbeiter höchstens ein Jahrzehnt Zeit, die Forschungsgemeinschaft und die Weltraumbehörden davon zu überzeugen, dass ICARUS es wert ist, zu einem globalen Satellitennetzwerk ausgebaut zu werden.
Tage nach seinem Flug über den Bodensee saß Wikelski wieder im Flieger – diesmal nach Vancouver in Kanada, wo er vor dem Weltornithologenkongress vom Start von ICARUS erzählte. Im Lauf des nächsten Jahres wird Wikelski um die ganze Welt reisen, um ICARUS auf den Weg zu bringen: Er wird dabei helfen, Bären im ostrussischen Kamtschatka, Geier in Bhutan, Flughunde in Sambia und Zugvögel im Kongobecken zu markieren. »Wir müssen global werden«, sagt er eindringlich: Ab in die Wildnis, und auf geht's.
Dieser Artikel ist im Original »The internet of animals that could help to save vanishing wildlife« in »Nature« erschienen.
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