Medizindiagnostik: Das Kristallkugel-Molekül
Andrang in der Notaufnahme. Der Dienst habende, noch junge Arzt muss die Fälle priorisieren – doch bei manchem Patienten ist äußerlich nicht ersichtlich, ob es sich um ein ernstes, gar lebensbedrohliches Problem handelt. Wäre dies eine dänische Klinik, hätte der junge Arzt ein Hilfsmittel mehr: Denn dort hat es ein Biomarker-Test schon in vielen Krankenhäusern in den klinischen Alltag geschafft, der in Deutschland und den USA bislang nur ein heiß diskutiertes Forschungsobjekt ist: Die Bestimmung des "soluble urokinase-type plasminogen activator receptor", kurz "suPAR"-Werts. Der Marker scheint gerade zur Kristallkugel der Mediziner zu werden: Offenbar kann man mit ihm den Verlauf so unterschiedlicher Erkrankungen vorhersagen wie Sepsis, Krebs, Herz- und Nierenleiden sowie Infektionskrankheiten von Malaria bis HIV.
Jesper Eugen-Olsen, ein Biochemiker am Universitätsklinikum von Kopenhagen, forschte 1999 an HIV, als er erstmals auf suPAR-Moleküle stieß. Zuvor hatte er 314 HIV-Patienten über rund vier Jahre in einer Studie begleitet. Dabei hatte er festgestellt, dass sich die Zukunft eines Erkrankten an der Konzentration von suPAR im Plasma deutlich besser vorhersehen lässt als etwa an der Anzahl der Viren im Blut oder der Zahl der CD4-Immunzellen. Sieben Jahre später ermittelte er dann zudem einen aussagekräftigen Schwellenwert: Von 54 HIV-Patienten mit einem suPAR-Wert unter 6 Nanogramm pro Milliliter starb innerhalb von zwei Jahren nur einer. Von den 27 Patienten mit höheren Werten erlebten 13 das Ende des Beobachtungszeitraums nicht.
Ende der 1990er Jahre war über das 1991 erstmals beschriebene suPAR noch wenig bekannt. Forscher wussten gerade einmal, dass es drei Hauptformen des Moleküls gibt, und von denen wiederum Variationen hinsichtlich der angehängten Zuckermoleküle. Eugen-Olsen gründete die Firma Virogates, die einen Schnelltest entwickelte, der für rund 10 Euro in 20 Minuten die suPAR-Varianten erfasst.
Ein lösliches Prognose-Molekül
SuPAR ist die "lösliche" (soluble) Form des Moleküls "uPAR", das sich von der Zelle abgetrennt hat und im Körper zirkuliert. Produziert wird uPAR in einer Vielzahl verschiedener Zellen: neutrophilen Granulozyten, Lymphozyten, Monozyten/Makrophagen und Endothelzellen, aber auch in Tumorzellen. Die lösliche Form suPAR ist nun offensichtlich an der Kommunikation der Zellen bei Entzündungen beteiligt: Das abgespaltene Molekül findet sich im Blut und in anderen Körperflüssigkeiten aller Individuen. Es spielt bei immunologischen Funktionen, Chemotaxis, Proteolyse, Signalweiterleitung und einigem mehr eine Rolle, die noch nicht ganz klar ist.
Sicher ist aber mittlerweile, dass suPAR nicht nur bei HIV einen prognostischen Wert hat. Bei Tuberkulosepatienten ist die Höhe des suPAR-Werts ebenfalls mit dem Verlauf assoziiert. Deutlich zeigt das eine Studie von 2009: Sie untersuchte das Schicksal von rund 1000 Patienten, die nach einem Tuberkuloseverdacht als nicht infiziert unbehandelt nach Hause geschickt wurden. Innerhalb von drei Monaten starben im niedrigsten suPAR-Quartil zwei Personen – im höchsten waren es 38.
Andere Studien haben inzwischen gezeigt, dass suPAR auch bei Malaria eine prognostische Funktion hat. Und selbst der Verlauf bakterieller Infektionen kann mit suPAR wohl recht zuverlässig prognostiziert werden: Bei Bakteriämien mit Streptococcus pneumoniae, einem Erreger der Lungenentzündung, konnte allein ein suPAR-Wert über 10 Nanogramm pro Milliliter unabhängig von anderen Werten die Sterblichkeit vorhersagen. Ähnliches gilt für Infektionen mit Staphylococcus aureus und Escherichia coli.
Auch bei der koronaren Herzkrankheit, der Leberzirrhose, Krankheiten des Nierenfilters wie zum Beispiel bei der fokal-segmentalen Glomerulosklerose FSGS und Lungenkrebs haben Studien einen unzweifelhaften Zusammenhang zwischen der Höhe des suPAR-Werts und dem Ausgang der Erkrankungen gezeigt. Das führte Jesper Eugen-Olsen schließlich zu der Frage: Was sagt suPAR eigentlich in scheinbar gesunden Individuen aus?
Was sagt der suPAR-Wert?
Dazu griff der Biochemiker auf Daten aus der "MONICA10"-Studie zurück: Hier waren die medizinische Vorgeschichte, der Lebensstil und gesundheitlicher Risikofaktoren von Teilnehmern über Jahre hinweg dokumentiert worden; zudem konnte der Forscher rückwirkend anhand von alten Plasmaproben eine suPAR-Bestimmung von 2602 Personen durchführen. 2010 publizierte Eugen-Olsen das Ergebnis seiner Forschung: Wer als scheinbar gesunder Mensch zu Beginn der Studie erhöhte suPAR-Werte hatte, wies ein signifikant größeres Risiko auf, an Krebs, Herz-Kreislauf-Leiden oder Typ-2-Diabetes zu erkranken – oder zu sterben [1].
Das hat nicht wenige Mediziner überzeugt: Sie befürworten die suPAR-Bestimmung als bevölkerungsweiten Präventionstest. Auf der Basis der dabei gewonnenen Erkenntnisse könnten Betroffene schließlich rechtzeitig ihren Lebensstil anpassen – ganz ähnlich wie schon heute bei erhöhtem Cholesterinspiegel. Bedrohlich hohe Werte könnten spezifische Untersuchungen nach sich ziehen. Frank Tacke vom Aachener Uniklinikum, hat den Test auf suPAR in Studien erprobt: "Bei Sepsis", urteilt der Gastroenterologe, "ist suPAR der beste prognostische Marker, den wir haben." Und während andere Marker sofort nach der Gabe von Antibiotika abfallen – auch wenn es dem Patienten noch längst nicht besser geht – behält suPAR seine Aussagekraft. Auch bei Lebererkrankungen habe man mit suPAR sehr gut vorhersagen können, ob ein Patient Komplikationen entwickeln wird.
"Am hilfreichsten ist suPAR, wenn ein Patient sich frisch vorstellt und die Krankheit unklar ist", findet Tacke. Unerfahrene Ärzte in der Notaufnahme hätten so ein Werkzeug, um besonders schwer erkrankte Patienten schnell zu erkennen – auch wenn das einem erfahren Arzt wahrscheinlich auch anhand der Laborwerte gelänge. Auch Falsch-negative Befunde kämen im Einzelfall durchaus vor. "Aber ich habe noch nicht erlebt, dass suPAR eine schwere Krankheit generell 'übersehen' hat", bestätigt Tacke die Ergebnisse vieler Studien. In jedem Fall müsse ein hoher suPAR-Wert ein Alarmsignal sein. Weshalb hat suPAR – trotz der unzweifelhaften Datenlage – dann bislang nur in Dänemark, nicht jedoch in Deutschland den Weg in die Kliniken gefunden? Tacke vermutet den Grund vor allem darin, dass bislang Studien fehlen, die belegen, dass der Marker im klinischen Alltag auch tatsächlich zu besseren Behandlungen führt.
Signal für – oder Ursache von Krankheit?
Der Marker ist eine erstaunlich gute Kristallkugel – aber offenbar nicht nur das, wie sich allmählich herauskristallisiert. So war ein Forscherteam um Jochen Reiser von der Rush University in Chicago auf einen überraschenden Zusammenhang gestoßen: suPAR könnte nicht nur ein Marker für, sondern ein direkter Verursacher von Krankheiten sein. Das zeigte sich beim Nierenleiden FSGS: Denn hier verbessert sich der Zustand der Patienten, sobald suPAR aus dem Blut herausgefiltert wird [2].
Reiser und Kollegen fanden den Zusammenhang auch an menschlichen Zellkulturen bestätigt – und Studien an Mäusen zeigten, dass die Tiere kein Problem damit hatten, wenn das Gen für uPAR – und damit auch suPAR – gentechnisch ausgeschaltet wird [3]. Nun soll daher ein neuartiges Gerät unter dem Entwicklungsnamen "Suparex" für die menschliche Blutwäsche praxisreif erprobt werden: Noch 2015 sollen an vier deutschen Unikliniken die Tests beginnen. Bis sich erneut größere Mengen suPAR angesammelt haben, dürften die behandelten Patienten beschwerdefrei sein, so die Erwartung. Steigt der suPAR-Wert dann wieder auf ein hohen Wert, wird die nächste Blutwäsche fällig.
Wichtig ist ein Detail, das unlängst bei Reisers Forschungen zu Tage trat: Nicht die Gesamtmenge des suPAR, wie sie der Schnelltest misst, sondern nur eine oder mehrere bestimmte Varianten wirken schädlich. Das erklärt auch, weshalb beispielsweise nicht jeder Sepsispatient, dessen suPAR-Wert oft 10- bis 20-fach erhöht ist, an einem Nierenleiden erkrankt. Denkbar wäre, dass bei anderen Erkrankungen mit hohem suPAR-Wert ebenfalls spezielle Formen des Markers beteiligt sind, sagt Reiser – allerdings fehlen dazu noch Belege.
"In jedem Fall würde ich mir bei einem erhöhten suPAR-Wert Sorgen machen", bestätigt Reiser seine Kollegen. Wobei allerdings unklar ist, was genau ein "normaler" suPAR-Wert eigentlich ist. Reiser vermutet ihn bei einem Wert unter zwei Nanogramm pro Milliliter; einzelne Studien sehen den Wert ein halbes Nanogramm höher oder tiefer. Überhaupt aber wurden die meisten Untersuchungen mit Probanden europäischer Abstammung durchgeführt – andere ethnische Gruppen könnten aber durchaus abweichende Normalwerte haben. Auch zwischen Männern und Frauen scheint es Unterschiede zu geben – und warum nicht auch zwischen Individuen allgemein? Noch ist die Kristallkugel mancherorts trüb – und weitere Forschung nötig, um den Durchblick zu verbessern.
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