Mascot auf Ryugu: Das kurze, aufregende Leben des Asteroidenlanders
Die beiden Menschen, die am späten Mittwochnachmittag in die Kamera blicken, sehen nicht so aus, als hätten sie gerade Historisches geleistet. Sie sehen nicht einmal besonders glücklich aus. Ein wenig erleichtert vielleicht, vor allem aber müde. Doch wer will es ihnen verdenken: Mehr als 14 Stunden stecken Tra-Mi Ho und Ralf Jaumann, Projektleiterin und leitender Wissenschaftler der deutsch-französischen Mascot-Mission, bereits in den Knochen, als sie per Video ein erneutes Update aus dem Kontrollraum in Köln liefern. Dort haben die beiden seit vier Uhr in der Früh verfolgt, wie sich ihr Schützling, eine schuhkartongroße Sonde namens Mascot, mehr als 325 Millionen Kilometer von der Erde entfernt an einer großen, an einer historischen Aufgabe versucht: der sanften Landung auf einem Asteroiden – zusätzliche Hüpfer nicht ausgeschlossen.
Es sollte ein Kampf gegen die Uhr werden. Und ein Kampf gegen die Unwägbarkeiten des Weltraums. Dabei sieht kurz vor vier Uhr, genauer gesagt um 3.57 Uhr europäischer Sommerzeit, noch alles gut aus. Wie geplant trennt sich Mascot von seiner japanischer Muttersonde Hayabusa 2, die den nur zehn Kilogramm schweren Landeroboter gut 3,2 Milliarden Kilometer weit durchs All getragen hat – bis zu seinem Ziel, einem diamantförmigen Asteroiden namens Ryugu. Im Vorfeld der Landung hatte Projektleiterin Ho die Separation noch als eine der großen Unbekannten der Mission bezeichnet, als ein schwer zu kalkulierendes Risiko. Schließlich konnte niemand sagen, ob sich Mascot während seiner fast vier Jahre langen Reise nicht vielleicht verklemmt hatte.
Doch das ist nicht der Fall. »Unsere Daten deuten darauf hin, dass es sich bei der Separation um ein ganz tolles Manöver gehandelt hat«, sagt Operationsmanager Christian Krause. »Die japanischen Kollegen haben uns nicht nur sauber an die richtige Stelle gebracht, sie haben uns auch sauber herausgedrückt.« Genau 51 Meter über der Oberfläche befindet sich die Sonde zu diesem Zeitpunkt. Es folgt ein langsamer Abstieg hinunter zum Asteroiden mit durchschnittlich vier Zentimetern pro Sekunde (oder etwa 0,15 Kilometer pro Stunde). 20 Minuten später ist Mascot am Ziel. Dann beginnen die Unwägbarkeiten.
Bereits im Vorfeld des Anfluges war klar, dass die Oberfläche von Ryugu, eines etwa 4,5 Milliarden Jahre alten Himmelskörpers aus den Anfangszeiten des Sonnensystems, keine ebene Landepiste sein wird. Große Felsbrocken waren auf Bildern von Hayabusa 2 zu sehen. Aber auch dazwischen machte der Asteroid einen ziemlich rauen Eindruck.
Für den Fall, dass Mascot auf dem Kopf zur Ruhe kommt oder anderweitig ungünstig liegt, hat die Sonde daher einen klaren Auftrag bekommen: Sie soll vollautomatisch einen Schwungarm in ihrem Innern anwerfen, ihn abrupt abbremsen und dadurch einen schwachen Impuls auf die Kohlefaserstruktur der Sonde übertragen – gerade genug, um einen kleinen Hüpfer zu machen und anschließend richtig herum zu liegen. Eingriffe von der Erde wollen die Missionsmanager dagegen vermeiden, schließlich verstreichen bei der großen Entfernung zwischen Ryugu und Erde etwa 17 Minuten, bis Informationen vom Asteroiden im Kölner Kontrollzentrum aufschlagen – und genauso viel Zeit vergeht, um Kommandos zurück zu Mascot zu schicken.
Nur: Mascot macht, nachdem er schließlich auf dem Asteroiden zur Ruhe gekommen ist, keine Anstalten, nochmals zu hüpfen. Und das, obwohl lediglich zwei der vier Instrumente an Bord vernünftige Daten liefern. Wo liegt das Problem? Eine detaillierte Analyse ist schwer: Die Datenverbindung zwischen Landesonde und Erde, die über Hayabusa 2 als Relaisstation läuft, ist ähnlich schnell wie jene Modemleitungen aus den Anfangszeiten des Internets. Es gibt hier und da ein paar Spannungsspitzen, dort einige Datenbrocken, aber es gibt keine Rundumsicht und nicht einmal klare Informationen über die Orientierung der Sonde. »Es ist nicht viel, was wir haben«, sagt Krause. »Aber mit unserer Erfahrung schaffen wir es dann doch immer wieder, die Daten zu interpretieren.«
»Komm, das kannst du besser!«Christian Krause
Und die Interpretation ist klar: Mascot liegt irgendwie unglücklich, merkt es aber nicht. Er muss angestupst werden. Er braucht zusätzliche Motivation. Oder, wie Krause es formuliert: »Komm, das kannst du besser!« Das Missionsteam schickt ein Kommando ins All, einen kurzen Ruck mit dem Schwungarm. Und in der Tat, die Daten werden besser.
Doch da ist ein anderes Problem: Eigentlich sollte sich Mascot mit dem Schwungarm nicht nur aufrichten, er sollte später auch einen kleinen Hüpfer an eine andere Stelle auf der Asteroidenoberfläche machen, um Messdaten zweier unterschiedlicher Orte zu erhalten. Die Einsatzzeit auf Ryugu ist allerdings begrenzt: Lediglich 16 Stunden wird Mascots Akku durchhalten, so zumindest die Berechnungen im Vorfeld. Und durch das Aufrichten ist bereits einige Zeit verstrichen. Außerdem ist schon wieder Nacht auf Ryugu mit seiner knapp achtstündigen Rotationsdauer; alsbald werden die Temperaturen daher auf minus 63 Grad Celsius sinken. Trotzdem noch hüpfen? Oder alle Zeit darauf verwenden, die bereits vorhandenen Messdaten – wie Krause es nennt – »in Sicherheit zu bringen«, also zu Hayabusa 2 zu übertragen?
Die Entscheidung fällt am frühen Nachmittag. Und sie fällt eher unfreiwillig: Trotz des morgendlichen Minihüpfers, der Mascot eigentlich aus seiner misslichen Lage befreien sollte, liefert eines der vier Messinstrumente an Bord noch immer keine optimalen Werte. Und es ist ausgerechnet das Spektrometer – jenes Gerät, das die chemische Zusammensetzung des Asteroidenbodens untersuchen soll. Genau davon erhoffen sich die Forscher Hinweise darauf, ob auf Asteroiden wie Ryugu Wasser und organische Moleküle existieren, die einst mit ähnlichen Himmelskörpern auf die junge Erde gelangt sein könnten. Und sie wollen mit dem Spektrometer die Zusammensetzung des Himmelskörpers ergründen – nicht zuletzt, um eines Tages einen Asteroiden gezielter ablenken zu können, sofern er einen Kollisionskurs mit der Erde eingeschlagen hat.
Wieder müssen die Missionsmanager das machen, was sie eigentlich nicht machen wollen: Sie müssen von der Erde aus eingreifen. Sie müssen Mascot dazu bringen, sich ein klein bisschen zu bewegen, »damit das Spektrometer Kontakt zur Oberfläche bekommt«, so Jaumann. Die Aktion ist nicht ohne Risiko, schließlich sind zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 50 Prozent der gesammelten Daten heruntergeladen. Doch das Manöver zahlt sich aus. Das Spektrometer liefert plötzlich deutlich bessere Werte – so gute Daten, dass die Wissenschaftler gar nicht von ihm ablassen wollen.
Und auch die Energiesorgen sind offenbar nicht so schlimm, wie zunächst befürchtet. Bereits am Nachmittag kann, um Strom zu sparen, das Magnetometer abgeschaltet werden, das kleinste Instrument an Bord. Es hat dank seiner äußerst empfindlichen Messfühler nicht nur die Separation von Hayabusa 2 detailliert analysieren können und die Funktion aller anderen Instrumente, sondern auch Ryugus eventuell vorhandenes Magnetfeld. Das reicht. »Wir haben große Mengen an Daten zusammenbekommen«, freut sich Karl-Heinz Glaßmeier, der wissenschaftliche Leiter des Magnetometers von der Universität Braunschweig. »Jetzt sind wir müde, aber auch sehr, sehr glücklich.«
Sehr, sehr müde sind am fortgeschrittenen Abend ebenfalls die anderen Forscher. Erst nun, nach mehr als 17 Stunden und weit später als gedacht, geht Mascot irgendwann langsam der Saft aus – nach einem langen, anstrengenden und unwägbaren Tag. Für Ho und Jaumann hingegen, auch wenn sie die Freude zunächst nicht zeigen können, ist es vor allem ein erfolgreicher Tag. Ob die wissenschaftliche Qualität der Daten mithalten kann, muss sich allerdings noch erweisen. Ralf Jaumann rechnet damit, frühestens Freitagnachmittag die ersten Bilder auswerten zu können, die Mascots optische Kamera von der Oberfläche geschossen hat.
»Mascot« wird dann schon wieder mehrere Millionen Kilometer zurückgelegt haben. Dieses Mal allerdings nicht hüpfend, sondern als Weltraumschrott auf der Oberfläche eines Asteroiden. Allerdings: als historisch höchst bedeutender Weltraumschrott.
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