Teilchenphysik: Das magnetische Moment des Myons gibt weiter Rätsel auf
Die Geheimnisse des Myons ziehen Physikerinnen und Physiker weltweit nach wie vor in ihren Bann. Erst vergangenes Jahr deutete ein Experiment darauf hin, dass das Elementarteilchen möglicherweise einen so unerklärlich starken Magnetismus besitzt, dass es aus den gängigen Theorien der Teilchenphysik, dem so genannten Standardmodell, ausbricht. Jetzt deuten überarbeitete Berechnungen mehrerer Gruppen jedoch darauf hin, dass die theoretische Vorhersage des Myonmagnetismus vielleicht doch nicht so weit von den experimentellen Messungen entfernt liegt.
Die neuen Vorhersagen sind vorläufig und passen noch nicht vollständig ins Bild des Standardmodells. Aber indem sie die Lücke zwischen Theorie und Experiment verkleinern, könnten sie es erleichtern, die Ungereimtheit zu lösen – und dabei direkt eine neue erzeugen.
Das Myon ist fast identisch mit dem Elektron, nur dass es 200-mal schwerer und extrem kurzlebig ist. Es zerfällt wenige Millionstelsekunden, nachdem es in Teilchenkollisionen entstanden ist. Wie das Elektron hat auch das Myon ein Magnetfeld, das es wie einen winzigen Stabmagneten wirken lässt. Auf ihrer Reise erzeugen die Myonen verschiedene Teilchen, die kurzzeitig auftauchen und wieder verschwinden. Diese flüchtigen Teilchen verstärken den Magnetismus des Myons, der als magnetisches Moment bezeichnet wird, geringfügig. Die große Frage ist: um wie viel?
Wenn das Standardmodell bereits alle Elementarteilchen des Universums umfasst, müsste es diesen zusätzlichen magnetischen Beitrag genau vorhersagen können. Sollten Experimente jedoch zeigen, dass die Natur von dieser theoretischen Vorhersage abweicht, würde dies auf die Existenz bisher unbekannter Teilchen hindeuten. Deren flüchtiges Auftreten würde das magnetische Moment des Myons stärker als erwartet verzerren. Forschende haben bereits früher Anzeichen für eine solche Abweichung gesehen. Doch sie mussten Jahrzehnte damit zubringen, die Genauigkeit von Theorie und Experiment zu verbessern, um zu beweisen, dass sie tatsächlich unterschiedliche Ergebnisse liefern.
Im Jahr 2020 veröffentlichten theoretische Teilchenphysiker ein Konsenspapier mit der bisher genauesten Vorhersage für das magnetische Moment des Myons. Die beruht zwar größtenteils auf den grundlegenden Prinzipien des Standardmodells; die Forscherinnen und Forscher mussten jedoch einige experimentelle Daten einbeziehen, um den magnetischen Einfluss von Teilchen wie Quarks und Gluonen zu berücksichtigen, der mit der Theorie allein nicht angemessen berechnet werden konnte.
Im April 2021 dann meldete das »Muon g-2«-Experiment am Fermilab in der Nähe von Chicago, dass das dort gemessene magnetische Moment des Myons deutlich über der theoretischen Vorhersage liegt.
Noch am selben Tag stellten Physiker der Budapest-Marseille-Wuppertal-Kollaboration (BMW) separate Berechnungen des magnetischen Moments vor, die ohne experimentelle Daten auskamen. Sie verwendeten eine Technik namens Gitter-Quantenchromodynamik, um das Verhalten von Quarks, Gluonen und anderen Teilchen zu simulieren. Dadurch wurde das magnetische Moment des Myons höher eingeschätzt als in der Berechnung des Konsenspapiers von 2020 und rückte näher an den Wert des »Muon g-2«-Experiments.
Die Gitter-QCD hatte in dem Konsenspapier keine herausragende Rolle gespielt, weil die Vorhersagen dieser Methodik zu dem Zeitpunkt noch nicht genau genug gewesen waren. Dank modernster mathematischer Techniken und enormer Supercomputerleistung gelang es dem BMW-Team aber, die Gitter-QCD-Simulationen so weit zu verbessern, dass sie den entscheidenden Sprung machen konnten. Seitdem haben sich mindestens acht Teams in aller Welt darum bemüht, die BMW-Vorhersage zu bestätigen oder sogar weiter zu verbessern. Sie konzentrierten sich dabei zunächst auf einen kleinen Bereich der Teilchenenergien, die BMW simuliert hatte.
Berechnungen sind noch vorläufig
Zwei vorläufige Ergebnisse aus diesem Energiebereich wurden im April 2022 auf dem Preprint-Server arXiv veröffentlicht: eines von einer Gruppe um Christopher Aubin von der Fordham University in New York City, das andere von einem Team um Gen Wang von der Universität Aix-Marseille in Frankreich. Anfang dieses Monats gaben zudem zwei weitere Forschungsgruppen – eine unter der Leitung von Hartmut Wittig von der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, die andere von Silvano Simula vom Nationalen Institut für Kernphysik in Rom – auf einer Myonenkonferenz in Los Angeles ihre Ergebnisse bekannt. Simulas Gruppe ist gerade noch dabei, eine Vorabveröffentlichung zu verfassen, Wittigs Gruppe hat ihre bereits eingereicht. Alle vier Berechnungen bestätigten die Ergebnisse der BMW-Kollaboration, obwohl die verwendeten Gittertechniken verschieden sind. »Ganz unterschiedliche Herangehensweisen an das Problem führen zu einem sehr ähnlichen Ergebnis«, sagt Christopher Aubin.
Davide Giusti, ein Physiker von der Universität Regensburg, der früher an der Simula-Kollaboration beteiligt war und jetzt mit einer anderen Gitter-QCD-Gruppe zusammenarbeitet, sagt: »Mit der Zeit nähern sich die verschiedenen Gruppen einem Ergebnis an, das mit dem von BMW übereinstimmt – zumindest in einem Übergangsbereich.«
Die Berechnungen sind jedoch noch vorläufig und könnten abweichen, wenn sie über das derzeitige Fenster hinaus angewendet werden. »Wir wissen noch nicht, ob die Gitterergebnisse anderer Kollaborationen mit dem BMW-Ergebnis für die erweiterte Berechnung übereinstimmen«, sagt Aida El-Khadra, Theoretikerin an der University of Illinois in Urbana-Champaign, die ebenfalls an einer Gitter-QCD-Arbeitsgruppe beteiligt ist.
Außerdem sei das experimentelle Ergebnis von »Muon g-2« immer noch höher als der von der Gitter-QCD berechnete Wert, so dass es noch zu früh ist, daraus zu schließen, dass das Standardmodell die ganze Zeit über richtig war. Die Forscher am Fermilab-Experiment rechnen damit, nächstes Jahr einen aktualisierten Wert für das magnetische Moment zu veröffentlichen, aber »selbst wenn die Lücke zwischen theoretischer Vorhersage und Experiment kleiner ausfallen sollte – selbst wenn sie nur halb so groß ist – wäre das immer noch eine deutliche Abweichung«, sagt der Mainzer Physiker Hartmut Wittig.
»Es ist schwer vorstellbar, dass alle unsere Gittersimulationen falsch waren«Christopher Aubin, theoretischer Teilchenphysiker
Und auch wenn am Ende die Gitter-QCD und die experimentellen Messungen auf denselben Wert kämen, müssten die Forschenden immer noch erklären, warum das Konsenspapier von 2020 so danebenlag, sagt Sven Heinemeyer, ein theoretischer Physiker am CERN, dem europäischen Labor für Teilchenphysik bei Genf in der Schweiz.
Im Moment können sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur den Kopf zerbrechen. »Es ist schwer vorstellbar, dass alle unsere Gittersimulationen falsch waren«, sagt Christopher Aubin. Aber es sei auch schwer vorstellbar, dass die datengesteuerten Berechnungen aus dem Jahr 2020 allesamt schiefgegangen sind, sagt er.
Dennoch sei bereits jetzt klar, dass die Gitter-QCD einen bedeutenden Einfluss auf die Frage des Myonmagnetismus haben wird, sagt Giusti. »Diese Berechnung ist wirklich aufregend, und wie auch immer die Antwort ausfällt, sie wird entscheidend sein.«
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