Ökologie: Das neue Alphatier
Kurz vor dem Ende der Zeit rettete ein Kojote die Geschöpfe der Erde, so erzählt die Legende des Nez-Percé-Stammes aus Idaho. In ihrer Mythologie schlich das Monster Kamiah in die Region und verschlang alle Tiere einzeln nacheinander. Der listige Kojote entkam ihm zwar, wollte aber seine Freunde nicht verlieren. So ließ er sich doch von Kamiah fressen, zerriss das Herz des Monsters und befreite seine Gefährten. Das Monster zerstückelte er und verstreute seine Teile in alle Winde, wo aus ihnen die Völker der Erde geboren wurden.
Die Kolonialisten aus Europa betrachteten die Kojoten (Canis latrans) und übrigen Raubtiere Nordamerikas dagegen weniger freundlich. Die Siedler rotteten die Wölfe in den weitaus meisten der US-Bundesstaaten aus, vernichteten viele Puma- und Rotluchspopulationen und griffen auch die Kojoten an. Im Gegensatz zu den anderen Beutegreifern konnten die Kojoten ihre Bestände in den letzten 150 Jahren jedoch eher noch vergrößern. Ursprünglich lebten sie nur in den Ebenen des Westens; inzwischen bevölkern sie schon fast den gesamten Kontinent und dringen immer weiter auf Farmland und in Städte vor. Ihr übliches Nahrungsspektrum haben sie auf Eichhörnchen, Haustiere und Fastfoodreste ausgeweitet.
Kojoten sind schon lange als Meister der Anpassung bekannt. Die Forschung der vergangenen Jahre zeigt, wie diese unscheinbaren Verwandten der Wölfe und Hunde dort überleben, wo andere nur leiden. Die Kojoten nutzen dazu opportunistisch die vom Menschen verursachten Umweltveränderungen; eine Flexibilität, die ihnen seit Jahrtausenden beim Überleben hilft. In den letzten zwei Jahrhunderten haben sie zum Beispiel teilweise die ökologischen Nischen der Wölfe übernommen: Sie jagen und erbeuten nun sogar Rotwild und bedrohen eine dem Aussterben gefährlich nahe Unterart des Karibus. Die Kojoten aus dem Nordosten Amerikas etwa sind größer als ihre Cousins andernorts und tragen Wolfsgene in sich, weil sich ihre Vorfahren mit diesen paarten, wie genetische Analysen zeigten. Dieses Erbe befähigt sie nun, selbst erwachsene Hirsche zu schlagen – eine Meisterleistung, die den kleineren Kojoten aus dem Westen nur selten gelingt.
Modellorganismus der Raubtierökologie
Von diesem agilen Fleischfresser können Wissenschaftler ableiten, wie andere mittelgroße Raubtiere reagieren, wenn größere Konkurrenten ausgerottet werden. In Afrika südlich der Sahara beispielsweise führte die intensive Jagd auf Löwen und Leoparden zur Bestandsexplosion bei Pavianen, die nun wiederum Jagd auf kleinere Primaten und Antilopen machen, welche dadurch stark dezimiert werden. Doch selbst unter Opportunisten sind die Kojoten offensichtlich eine Klasse für sich. "Wir dürfen diese Tiere nicht länger als statische Wesen ansehen", meint der Säugetierkundler Roland Kays vom North Carolina Museum of Natural Sciences in Raleigh. "Sie entwickeln sich weiter." Und das in rasantem Tempo.
Vor zwei Jahrhunderten noch führten die Kojoten ein ganz anderes Leben: Damals jagten sie im Weideland der Great Plains Kaninchen, Mäuse und Insekten und wogen im Schnitt zwischen zehn und zwölf Kilogramm. In den Wäldern wurden sie schnell von den größeren Grauwölfen (Canis lupus) vertrieben oder gar erledigt, wenn sie versuchten, ihnen ihre Beute zu stehlen. Doch als die Siedler in den Westen vordrangen und die dort ansässigen Wölfe ausrotteten, kam die große Chance der Kojoten. Sie überlebten, weil sie schneller Nachwuchs bekamen und ein breiteres Nahrungsspektrum hatten, und ihr Speiseplan ist wie ihr Verbreitungsgebiet seitdem noch größer geworden. Mit Ausnahme vom Norden Alaskas und Kanadas besiedeln sie nun fast ganz Nordamerika.
Und auch an ihrer Statur ist die Entwicklung abzulesen: Die Tiere, die seit den 1940er und 1950er Jahren den Nordosten der USA und Kanadas bevölkern, sind im Schnitt wesentlich größer als ihre Verwandten aus den Great Plains und wiegen zum Teil mehr als 20 Kilogramm. Kays und seine Kollegen untersuchten anhand von rund 100 Tieren aus den New-England-Staaten die raschen Veränderungen im Körperbau der Kojoten, indem sie die mitochondriale DNA der Zellen und die Schädelgrößen analysierten. Dabei entdeckten sie Gene von Wölfen aus dem Gebiet rund um die Großen Seen [1]. Die zwei Arten haben sich somit gekreuzt, als die Kojoten hier auftauchten. "Im 19. Jahrhundert, als die Wolfspopulation durch die Jagd der Siedler dezimiert war, bekamen Kojoten und Wölfe gemeinsamen Nachwuchs", meint Kays. Damals gab es nur sehr wenige Wolfsweibchen, so dass sich die Rüden mit den Verwandten begnügen mussten.
Im Vergleich zu den Kojoten aus den Great Plains haben diese Hybriden größere Schädel mit stärkeren Ansatzpunkten für ihre Kaumuskulatur, so dass die bulligen Abkömmlinge größere Beute reißen können. Im Jahr 2009 haben sie in Neuschottland in Kanada sogar eine 19-jährige Wanderin getötet. Die Kojoten aus dem Nordosten weiteten ihr Verbreitungssgebiet fünfmal schneller aus als ihre normalwüchsigen Artgenossen aus dem Südosten der USA, die auf ihrer Reise in den Westen nicht mit Grauwölfen in Kontakt kamen.
Neu in der Stadt
Die schlauen Hundeartigen sind sogar schon bis nach Washington D. C. vorgedrungen und tauchten dort 2004 im Rock Creek Park auf, nur wenige Meilen vom Weißen Haus entfernt. Wie Christine Bozarth, eine Naturschutzgenetikerin von der Smithsonian Institution in Washington, zeigen konnte, stammen einige dieser Neuankömmlinge von den großen nordöstlichen Tieren ab und tragen Wolfs-DNA in sich [2]. Ihrer Meinung nach werden die Kojoten dort bleiben. "Sie können sich an alle städtischen Landschaften anpassen und ziehen ihre Jungen selbst in Entwässerungsgräben und alten Kanalrohren auf." Bozarth hofft nun, dass die Kojoten zur Kontrolle des rasant wachsenden Hirschbestands der Region beitragen. Nach Meinung von Kays wurden die Wildpopulationen im Nordosten aber nicht wesentlich durch die Kojoten dezimiert. "Sie füllen nur einen Teil der freien Nische, aber sie werden die Wölfe nicht völlig ersetzen", kontert er.
Erstaunlicherweise nehmen eher die kleinen Kojoten aus dem Südosten der USA Einfluss auf die Pflanzenfresser: Sie haben eine ähnliche Größe wie die Kojoten aus dem Westen und schließen langsam eine Lücke, welche die fast ausgestorbenen Rotwölfe (Canis rufus; von manchen Biologen auch als Unterart Canis lupus rufus betrachtet) hinterlassen haben: Sie hatten sich auf die lokale Ausgabe der Weißwedelhirsche spezialisiert, die kleiner als jene aus dem Nordosten sind. Der Wildtierbiologe John Kilgo vom US Forest Service in New Ellenton, South Carolina, beschrieb im Jahr 2010 mit seinen Kollegen, wie die Hirschpopulation in South Carolina zurückging, als die Kojoten in den 1980er Jahren hier eindrangen [3].
Vor Kurzem untersuchten sie forensisch Todesfälle unter Hirschkälbern – mit Techniken, die normalerweise zur Überführung von Mördern eingesetzt werden [4]. Sie analysierten Bisswunden auf den Kadavern und sequenzierten DNA aus dem auf den Wunden zurückgelassenen Speichel. Auch Kot und Fährten der Jäger sowie Beutereste wurden untersucht. Mehr als ein Drittel der toten Jungtiere waren demnach sicher Kojoten zum Opfer gefallen, und Indizien bei anderen Opfern deuteten an, dass es sogar bis zu 80 Prozent gewesen sein könnten. "Kojoten sind hier also die Hauptprädatoren des Rotwilds und bestimmen ihre Zahl", meint Kilgo. Anfangs wollten das viele Wissenschaftler kaum glauben, weil ihrer Meinung nach Kojoten zu klein dafür wären, so Kilgo. Er möchte nun erkunden, wie die neu eingewanderten Kojoten andere Tiere im Ökosystem des Südostens beeinflussen, etwa die wilden Truthühner oder kleine Beutegreifer wie Waschbären, Füchse und Opossums.
Niemand muss befürchten, dass die Kojoten im Südosten der USA den Hirschen völlig den Garaus machen – zu groß sind deren Bestände. Aber im äußersten Norden ihres Ausbreitungsgebiets, in Quebecs Gaspésie-Nationalpark, bedrohen sie mittlerweile die ohnehin schon stark geschrumpfte Herde von Waldkaribus (Rangifer tarandus caribou), eine gefährdete Unterart dieser Hirsche. Abholzung und andere Veränderungen haben ihnen bereits schwer zu schaffen gemacht, noch bevor die Kojoten 1973 in das Gebiet eindrangen und sich in frisch gerodeten Bereichen niederließen. Nun jagen die Kojoten zusätzlich deren Jungtiere, was ihre Zahl noch weiter abstürzen ließ.
Nach einer Studie aus dem Jahr 2010 [5] sind die Kojoten für knapp zwei Drittel der toten Karibus verantwortlich, und deren Bestand umfasst inzwischen nur noch 140 Tiere. Nach Meinung von Dominic Boisjoly, einem Wildtierbiologen vom US Ministry of Sustainable Development, Environment and Parks, ließen sich die Karibus am besten durch einen Rodungsstopp schützen, denn nur durch diese Abholzungen konnten die Kojoten überhaupt so erfolgreich werden.
Zurück zu alter Größe
Die Kojoten profitieren seit Jahrtausenden von derartigen Umweltveränderungen, berichtet eine in diesem Jahr veröffentlichte Studie über Fossilienfunde der Evolutionsbiologin Julie Meachen vom National Evolutionary Synthesis Center in Durham [6]: Zusammen mit Kollegen hatte sie die Größenentwicklung der Kojoten während der letzten 25 000 Jahre untersucht. Schon in der letzten Eiszeit waren Kojoten wesentlich größer als die meisten ihrer modernen Verwandten und ähnelten den größten heute lebenden Kojoten-Wolfs-Hybriden aus dem Nordosten. Sie ergatterten wahrscheinlich Aas, das von Riesenwölfen (Canis dirus) oder Säbelzahntigern zurückgelassen wurde, und machten Jagd auf die Jungtiere großer Pflanzenfresser wie der riesigen Bodenfaultiere, wilder Kamele und Pferdeverwandten, die Nordamerika damals noch bevölkerten.
Als die Eiszeit vor etwa 13 000 Jahren endete, verschwand ein Großteil der Megafauna, weil sie die Klimaänderung nicht verkrafteten und die ersten menschlichen Bewohner Nordamerikas sie erfolgreich niederstreckten. Mit den Pflanzenfressern starben auch die großen Raubtiere aus, stattdessen füllten nun die kleinen Grauwölfe die verwaisten Nischen. Dort konkurrierten die Rudel mit den größeren Kojoten, die in der Folge auf die heute üblichen Ausmaße schrumpften – innerhalb von nur 1000 Jahren.
Nun verändern sich die schlauen Verwandten unserer Hunde wieder, indem sie sich an die moderne Landschaft Nordamerikas anpassen. Wie genetische Analysen [7] zeigen, kreuzen sich manche Kojoten sogar mit Haushunden, was womöglich zu einem neuen Hybridtier führt. Die Forscher müssen sich daher mächtig anstrengen, um die sehr dynamische Entwicklung der Tiere zu verfolgen, während diese in immer neue Regionen vorstoßen. "Da die Kojoten nun vielerorts in Landschaften ohne Wölfe eindringen, kann ihre Evolution in eine ganz neue Richtung laufen", meint der Ökologe Bill Ripple von der Oregon State University in Corvallis. "Ihre Invasion wird die anderen Arten des Ökosystems beeinflussen. Aber wie, ist noch völlig unklar."
Der Artikel erschien unter dem Titel "The new top dog" in Nature 485, S. 296-297, 2012.
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