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News: Das 'neue' Berlin - ein alter Hut

Schon zur letzten Jahrhundertwende - um 1900 - wurde die noch junge deutsche Hauptstadt als das 'neue' Berlin bezeichnet. Sie galt überdies als 'amerikanische' Stadt und wurde vielmals von Autoren - wie Mark Twain oder Werner Sombart - mit Chikago als dem damaligen Inbegriff der Moderne verglichen. Doch die heutige Spree-Metropole hat sich von dem Vergleich gelöst, meinen Wissenschaftler, die einen Rückblick in die Zeit des ersten 'neuen' Berlin unternommen haben.
Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) geht dieser "Amerikanisierung" Berlins und dem Vergleich mit Chikago nach.

Chikago war am Ende des letzten Jahrhunderts die exemplarische amerikanische Metropole, was heute wohl Los Angeles ist. Bei einem Großfeuer war 1871 die gesamte Innenstadt Chikagos abgebrannt; der sofortige Neuaufbau machte es zur jüngsten und modernsten Stadt der Neuen Welt. Vom selben Jahr – nach der Reichsgründung – datiert Berlins immenser Aufschwung. In den 1890er Jahren hatten beide Städte jeweils rund 1,5 Millionen Einwohner.

Berlin und Chikago lagen in einer weiten, flachen Ebene und konnten sich fast unbegrenzt ausdehnen. Dank ihrer Verkehrslage stiegen sie nahezu ohne Konkurrenz zu großen Handelszentren empor. Schnurgerade Straßen und ein rechtwinkliges Blocksystem waren typisch für die Zentren beider Städte, wenn auch Chikago in die Höhe und Berlin in die Tiefe der Grundstücke (mit seinen typischen Seiten- und Quergebäuden) baute.

Zuerst brachte wohl Mark Twain den Städtevergleich auf. Nach seiner Deutschlandreise, die ihn im Oktober 1891 auch nach Berlin führte, veröffentlichte er 1892 in der New York Sun einen Aufsatz mit dem Titel "The German Chicago". Das alte barocke Berlin war fast vollständig verschwunden, Twain erkannte bei seinem Besuch die Traditionslosigkeit der Stadt, er entdeckte die Industriemetropole, die technische Fortschrittlichkeit, die Entscheidungsfreude und Kompetenz der Berliner Verwaltung. Den Pragmatismus der Berliner bewunderte er und ihre Bereitschaft, Altes und Überkommenes auszulöschen. Für Mark Twain ist an Berlin alles "neu".

Wie die WZB-Studie von Ralf Thies und Dietmar Jazbinsek zeigt, greifen andere Autoren am Anfang des 20. Jahrhunderts den Vergleich Berlin/Chikago auf und bezeichnen die deutsche Hauptstadt ebenfalls als "neu": "Es [Berlin] ist ganz neu, zu neu, neuer noch als eine amerikanische Stadt, neuer als Chikago..." (Charles Huard, 1907).

Auch deutsche Intellektuelle jener Zeit folgen diesem Muster, bewerten den Städtevergleich aber anders. Walter Rathenau (1902) rechnet mit der Berliner Baukunst ab: "Spreeathen ist tot und Spreechikago wächst heran!" Werner Sombart, der 1904 in den USA war, sah Berlin als durch und durch amerikanische Stadt, deren kulturellen Werte durch die kapitalistische Wirtschaft bedroht waren.

Besonders vom amerikanischen Geist geprägt waren die neugebauten Stadtviertel des Berliner Westens ("Berlin W."). Hier herrschten rastloser Geschäftsgeist, Schnellebigkeit und ein babylonisches Völkergemisch – kurzum Unübersichtlichkeit. Insbesondere das deutsche Bildungsbürgertum hatte mit der ungestüm vorwärtsschreitenden Metropole seine Schwierigkeiten.

Anders hingegen die Autoren der "Großstadt-Dokumente", deren 50 Bände zwischen 1904 und 1908 von dem Berliner Schriftsteller Hans Ostwald herausgegeben wurden. Sie wollten "das modernste Leben" dokumentieren und die neue Unordnung ausloten. Der letzte (50.) Band von Edmund Edel mit dem Titel "Neu-Berlin" (!) schildert aufgrund genauester Beobachtung und sorgfältiger Recherche das geschäftliche und gesellschaftliche Leben in Berlin W.

Die 50 Bände der Großstadt-Dokumente kamen schließlich 1914 nach Chikago in die Universitätsbibliothek. Die Gründergeneration der Chicago School of Sociology nutzte sie als einen frühen Versuch systematischer Stadtforschung aus dem amerikanischen Berlin.

Selbst heute, wo "Amerikanisierung" anderes – etwa die Privatisierung öffentlicher Räume – meint, wurde noch einmal der Städtevergleich bemüht: Bei der Diskussion um den Ausbau des Flughafens Schönefeld nach dem Vorbild von Chicago O'Hare Airport, dem größten und verkehrsreichsten der Welt – ein Titel, den Berlin mit seinem Flughafen Tempelhof einmal innehatte. Aber heute ist Berlin nicht mehr Chikago.

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