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News: Das Paradoxon der Keramikproduktion geklärt

Während der Herstellung von Keramik werden feinpulvrige Preßkörper bis knapp unter den Schmelzpunkt erhitzt. Die Vorgänge während dieses als Sintern bezeichneten Prozesses wurden bislang falsch gedeutet. Elektronenmikroskopische Untersuchungen zeigen, daß dabei Kristalle mit Ecken und Kanten bestehen bleiben.
Ein lange bestehendes Paradoxon in der Theorie über die Sinterung keramischer Erzeugnisse wurde jetzt von Alan W. Searcy von der Materials Sciences Division des Ernest Orlando Lawrence Berkeley National Laboratory gelöst. Searcys Arbeit, die er zusammen mit Jeffrey Bullard von der University of Illinois und W. Craig Carter vom National Institute of Standards and Technology durchführte, verspricht, Aufschluß über die Eigenschaften vieler keramischer Stoffe zu geben, darunter geschichteter Halbleiter und hitzebeständiger Siliziumnitride.

Bei der Sinterung, einem der wichtigsten Vorgänge bei der Keramikherstellung, werden feinpulvrige Preßkörper auf Temperaturen erhitzt, die nur knapp unter ihrem Schmelzpunkt liegen. Atome und Moleküle werden so in schnelle Bewegung versetzt, und die Partikel verschmelzen miteinander. Dieser Vorgang verringert die Porosität und erhöht die Festigkeit des Endproduktes.

Bei der „klassischen” Vorstellung von dem Verfahren geht man davon aus, daß die Partikel in den Preßkörpern kugelförmig sind und die Bewegung der Atome und Moleküle durch Unterschiede in der Oberflächenkrümmung verursacht werden. Es wurde angenommen, daß sich Atome aus Partikeln mit geringerem Radius zu Partikeln mit größerem Radius hin bewegen, um die freie Oberflächenenergie (die zur Oberflächenausbildung benötigte Arbeit) zu reduzieren . Die beim Kontakt zwischen den Partikeln entstehenden konkaven Gebiete würden dann mit Atomen von konvexen Oberflächen aufgefüllt werden.

In Wirklichkeit bewegen sich die Moleküle kristalliner Partikel mitunter in Richtungen, die diese Theorie gar nicht zuläßt. „Was nicht verwunderlich ist,” bemerkt Searcy, „denn die klassische Theorie versagt bei einer Erscheinung, die ich als single-particle sintering test bezeichne. Der Theorie nach, müßte ein isolierter Partikel von beliebiger Form sich langsam zu einer Kugel entwickeln. Doch im Gegensatz hierzu besitzen die meisten Einzelkristalle, wenn sie zur Entwicklung ausreichend Zeit hatten, Facetten.” Im Unterschied zur idealen Kugel hängen die Oberflächenenergien eines Kristalls von der unterschiedlichen Orientierung der Oberflächen gegenüber der zugrunde liegenden Kristallgitterstruktur ab.

„Wir haben hier also eine Theorie”, so Searcy, „die besagt, daß Sinterung nicht stattfinden kann, wenn die Partikel planare Oberflächen und Kanten haben. In Wahrheit behalten jedoch viele Festkörper wie Magnesiumoxid, Kobaltoxid, Kochsalz und Lithiumfluorid bei der Sinterung ihre facettierten Formen bei; ja, einige entwickeln diese bei der Sinterung sogar erst.”

Einen Anhaltspunkt zur Lösung dieses Rätsels fand Searcy, als er eine Fußnote in der Arbeit von Josiah Willard Gibbs las, dem im 19. Jahrhundert lebenden Begründer der chemischen Thermodynamik. Gibbs zeigt auf, daß Moleküle an den Rändern zwischen den Kristallfacetten ihre Plätze häufiger verlassen und wieder einnehmen als jene Moleküle, die sich mitten in den Kristallflächen befinden. Dem ist so, weil die Randmoleküle weniger stark gebunden sind.

Searcy wurde durch, wie er sich ausdrückt, Gibbs „qualitative Beschreibung des dynamischen Gleichgewichtes”, inspiriert und arbeitete mit Bullard und Carter, beide ehemalige Studenten des Lawrence Berkeley National Laboratory, zusammen an der Entwicklung von Gleichungen, die Formveränderungen während des Sinterns durch Energieunterschiede zwischen den unterschiedlich orientierten Oberflächen und Rändern erklären. Diese Gleichungen beruhen auf Searcys „statistischer thermodynamischer Beschreibung des instabilen inneren Gleichgewichts” in Kristallen jedweder Form.

Die neuen Gleichungen basieren auf zwei Hauptprinzipien: Erstens ist jede Formveränderung möglich, sofern sich hierbei die Gesamtenergie verringert. Dabei muß die Veränderung nicht unbedingt eine Minimierung der Energie erreichen, eine Reduzierung reicht aus. Zweitens wird von allen möglichen Formveränderungen stets jene eintreffen, bei der der Austausch von Atomen oder Molekülen und freien Kristallgitterplätzen von der Kinetik her am leichtesten möglich ist.

Die neuen Gleichungen machen klar, daß Partikel nicht deshalb schneller wachsen, weil sie gerundet sind. Statt dessen werden die scheinbar vorhandenen Rundungen durch das Wachstum neuer Kristallschichten produziert. „Abgerundete” Ecken, die sich beim Sintern einstellen, sind in Wahrheit kleine, zusätzliche Kristallflächen. Kinetisch betrachtet, ist bei diesen ein Wachstum am wahrscheinlichsten, weil hier die Wanderung von Atomen und Molekülen zu diesen Stellen leichter ist. Bei der Vermehrung der kleinen, schnell wachsenden Kristallflächen scheinen die Partikel klassisch gerundet zu sein, werden jedoch in den letzten Phasen des Sinterns wieder facettiert.

Stehen zum Beispiel zwei würfelförmige Magnesiumoxid-Kristalle miteinander in Kontakt, nimmt der kleinere schnell eine nahezu kugelförmige Gestalt an. Ein abgerundeter Hals bildet sich zwischen dem kleineren und dem größeren Partikel, welcher immer noch fast würfelförmig ist. Es entsteht eine Art schiefe Hantel. Nach einer genügend langen Zeit bildet sich ein einziger, großer Würfel mit leicht abgerundeten Rändern heraus. Während dieser gesamten Entwicklung entsprechen die stattfindenden Veränderungen den Anforderungen nach einer minimalen Oberflächenenergie: Gestattet sind nur Veränderungen, die zu einer Energieverringerung führen.

Vor kurzem nutzten Searcy, Bullard und Carter das Modell von Searcy, um ein Rätsel zu lösen, vom dem Forscher von Oak-Ridge berichtet hatten. Mit einem Transmissions-Elektronenmikroskop (TEM) wurden kastenförmige Partikel von Magnesiumoxid beobachtet, die während einer zwei Stunden dauernden Sinterung langsam Verbindungshälse ausbildeten. Dann, nach weiteren zwanzig Minuten, brachen die Hälse zusammen und verschwanden.

Nach den neuen Gleichungen waren drei thermodynamische Reaktionswege möglich, von denen einer exakt mit den Beobachtungen übereinstimmte. Hierbei wurde die chemische Reaktion der Magnesiumoxid-Partikel mit dem vermeintlich inerten Kohlenstoffsubstrat, auf dem sich die Partikel befanden, berücksichtigt. In der Vakuumkammer des TEM reagieren der Kohlenstoff und das Magnesiumoxid miteinander. Es werden Kohlenmonoxid und Magnesiumdampf freigesetzt, was die Gesamtenergie des Magnesium-Sauerstoff-Kohlenstoff-Systems reduziert.

Gegenwärtig erweitert Searcy sein Modell, um die Thermodynamik von Filmen auf und zwischen Festkörperoberflächen zu studieren. Diese Arbeit verspricht neue Erkenntnisse für Produktionsmethoden und Eigenschaften keramischer Stoffe. Hierzu zählen geschichtete Halbleiter und starke, zähe Motorteile, die mit Partikeln aus Siliziumnitriden hergestellt werden, welche durch Glasfilme von nur einem Milliardstel Meter getrennt sind.

Searcy and Bullard berichten von der Bestätigung des neuen Modells im Journal of the American Ceramic Society vom September 1997. Nach diesem Bericht sintern würfelförmige Partikel von Lithiumfluorid so leicht wie kugelförmige Partikel anderer keramischer Stoffe.

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