Direkt zum Inhalt

Geometrie: Das Rätsel um das kürzeste Möbiusband ist gelüftet

Wie lang muss ein Papierstreifen mindestens sein, damit man ihn verdreht zusammenkleben kann? Ein Mathematiker hat diese 50 Jahre alte Frage nun beantwortet.
Möbiusband
Es ist kinderleicht, ein Möbiusband zu basteln. Doch wie lang dafür ein Papierstück mindestens sein muss, war knapp 50 Jahre lang unklar.

Möbiusbänder sind kuriose mathematische Objekte. Dabei sind sie kinderleicht herzustellen: Man nehme einen Papierstreifen, verdrehe ihn einmal und klebe dann die Enden zusammen – fertig. Und dennoch sind die Eigenschaften dieser simplen Figur komplex genug, um das Interesse von Mathematikerinnen und Mathematikern zu wecken.

Die Entdeckung der Möbiusbänder im Jahr 1858 wird zwei deutschen Mathematikern zugeschrieben: August Ferdinand Möbius (1790–1868) und Johann Benedict Listing (1808–1882). Obwohl es Hinweise darauf gibt, dass auch Carl Friedrich Gauß (1777–1855) zu dieser Zeit von dem zylinderähnlichen Band wusste, sagt die Topologin Moira Chas von der Stony Brook University. Unabhängig davon, wer zuerst darüber nachgedacht hat – bis vor Kurzem verfolgten Fachleute eine scheinbar einfache praktische Frage: Welches ist der kürzeste Papierstreifen, aus dem sich ein Möbiusband basteln lässt?

Hierbei geht es natürlich nicht um die exakte Gesamtlänge des Papierstücks, sondern die Verhältnisse seiner Seiten. Aus einem Quadrat wird man zum Beispiel ohne Zerreißen kein Möbiusband falten können. 1977 stellten sich die Mathematiker Charles Sidney Weaver und Benjamin Rigler Halpern diese Frage und erkannten, dass man tricksen kann. Denn das Problem wird aus mathematischer Sicht einfach, wenn man zulässt, dass sich das Möbiusband durchdringen kann. »Es blieb also noch zu bestimmen, wie viel Platz man braucht, um Überschneidungen zu vermeiden«, sagt der Mathematiker Dmitry Fuchs von der University of California in Davis. Halpern und Weaver schlugen ein Seitenverhältnis von mindestens 1 zu √3 vor, konnten diese nach ihnen benannte Vermutung jedoch nicht beweisen.

Eine 50 Jahre alte Vermutung

Richard Evan Schwartz, ein Mathematiker an der Brown University, hörte 2019 zum ersten Mal von diesem Problem, als ihn sein Kollege Sergei Tabachnikov von der Pennsylvania State University darauf aufmerksam machte. Schwartz wurde neugierig und schlug das Thema direkt in einem Buch von Tabachnikov und Fuchs nach. »Ich habe das entsprechende Kapitel gelesen und war sofort Feuer und Flamme«, sagt er. Sein Interesse hat sich ausgezahlt: Er hat nun die lang ersehnte Lösung für das fast 50-jährige Problem gefunden. In einer noch nicht begutachteten Arbeit, die er am 24. August 2023 auf »arXiv.org« veröffentlicht hat, beweist Schwartz die Halpern-Weaver-Vermutung. Er konnte zeigen, dass Möbiusstreifen aus Papier ein Seitenverhältnis von mindestens 1 zu √3 (etwa 1,73) haben müssen.

Möbiusband als Regelfläche | Durch jeden Punkt eines Möbiusbands lässt sich eine Gerade ziehen, die ganz auf dem Band enthalten ist.

Um das Problem zu lösen, war Kreativität gefragt. Wenn man bei dieser Art von Aufgabe einen Standardansatz verwendet, stößt man schnell auf Hindernisse. »Es ist schwierig, mit Hilfe von Formeln zwischen sich überschneidenden und sich nicht überschneidenden Flächen zu unterscheiden«, sagt Fuchs. »Um diese Schwierigkeit zu überwinden, muss man Schwartz' geometrische Vision haben. Aber das ist selten!« In dem Beweis gelang es Schwartz, »das Problem in überschaubare Teile zu zerlegen, von denen jeder einzelne zur Lösung im Wesentlichen nur grundlegende Geometrie erfordert«, sagt Max Wardetzky, Mathematiker an der Universität Göttingen. »Dieser Ansatz verkörpert eine der reinsten Formen von Eleganz und Schönheit.«

»Ich hätte die Sache schon vor drei Jahren lösen können!«Richard Evan Schwartz, Mathematiker

Bevor er zu dieser erfolgreichen Strategie gelangte, probierte Schwartz jedoch einige Jahre lang vergeblich immer wieder verschiedene Ideen aus. Kürzlich beschlich ihn das Gefühl, dass ein Ansatz, den er im Jahr 2021 verfolgt hatte, eigentlich hätte funktionieren müssen. In gewisser Weise war sein Bauchgefühl richtig. Als er die Untersuchung des Problems wieder aufnahm, bemerkte er einen Fehler in einem »Lemma«, einem Zwischenergebnis, in seiner früheren Arbeit. Als er den Fehler korrigierte, konnte Schwartz schnell und einfach die Halpern-Weaver-Vermutung beweisen. Wäre dieser Irrtum nicht gewesen, »hätte ich die Sache schon vor drei Jahren gelöst!«, sagt Schwartz.

Möbiusband falten | Indem man einen Papierstreifen wie angegeben faltet, lässt sich ein Möbiusband basteln. Dafür muss das Stück Papier mindestens die Seitenverhältnisse 1 zu √3 haben.

Das betreffende Lemma ist ein entscheidender Bestandteil seines Beweises der Halpern-Weaver-Vermutung. Es hat mit so genannten Regelflächen zu tun: Auf jedem Punkt des Möbiusbands kann man eine gerade Linie ziehen, die entlang des gesamten Bands verläuft. Möbiusbänder sind nicht die einzigen Regelflächen, andere geometrische Objekte haben diese Eigenschaft ebenfalls. »Egal, wie man ein Stück Papier im dreidimensionalen Raum faltet, gibt es an jedem Punkt eine gerade Linie, die durch das Papier verläuft«, erklärt Schwartz.

Ein Trapez, kein Parallelogramm

2021 hatte Schwartz zwei Geraden identifiziert, die parallel zueinander in derselben Ebene verlaufen und auf jedem Möbiusband nach dem Zusammenkleben der Enden ein T-förmiges Muster bilden. »Es ist überhaupt nicht offensichtlich, dass so etwas existiert«, sagt Schwartz. Der Nachweis, dass es diese T-förmigen Strukturen gibt, war der erste Teil seiner Beweisführung. Der nächste Schritt bestand darin, ein Möbiusband in einem bestimmten Winkel entlang der T-förmigen Linie aufzuschneiden. Im Jahr 2021 kam Schwartz fälschlicherweise zu dem Schluss, dass die dabei entstehende Form ein Parallelogramm ist. Doch in Wirklichkeit handelt es sich dabei um ein Trapez.

Im Sommer 2023 experimentierte Schwartz mit Möbiusbändern aus Papier, die er flach zusammendrückte. »Wenn ich zeigen könnte, dass man sie in die Ebene drücken kann, ließe sich das Problem vielleicht vereinfachen«, erinnert sich Schwartz. Während dieser Versuche schnitt Schwartz ein Möbiusband auf und stellte fest: »Oh mein Gott, das ist gar kein Parallelogramm. Das ist ein Trapez.«

»Es erfordert Mut, ein Problem anzugehen, das so lange Zeit ungelöst blieb«Sergei Tabachnikov, Mathematiker

Als er seinen Fehler entdeckte, war Schwartz zunächst verärgert: »Ich hasse es, Fehler zu machen«, sagt er. Dann fühlte er sich aber angetrieben, die neuen Informationen zu nutzen, um seine Berechnungen erneut durchzuführen. So erhielt er das Seitenverhältnis, das der Vermutung entspricht. »Ich war erstaunt. Ich habe die nächsten drei Tage kaum geschlafen und mich nur dieser Sache gewidmet.«

Endlich war die fast 50 Jahre alte Frage beantwortet. »Es erfordert Mut, ein Problem anzugehen, das so lange Zeit ungelöst blieb«, sagt Tabachnikov. »Das ist charakteristisch für Richard Schwartz' Zugang zur Mathematik: Er greift gerne Probleme an, die relativ einfach zu formulieren sind und von denen man weiß, dass sie schwierig sind. Und typischerweise sieht er neue Aspekte in diesen Problemen, die anderen Forschern nicht aufgefallen sind.«

Was damit zusammenhängende Fragen angeht, wissen Mathematiker bereits, dass es keine Grenze für die Länge eingebetteter Möbiusstreifen gibt – auch wenn es irgendwann mühsam wird, sie herzustellen. Bisher unklar ist allerdings, wie lang ein Papierstreifen maximal sein darf, wenn man ein Möbiusband mit drei Windungen statt nur einer erzeugen will, sagt Schwartz. Ganz allgemein könne man die optimalen Größenverhältnisse von Möbiusbändern mit einer ungeraden Anzahl von Windungen untersuchen, sagt Tabachnikov. »Ich gehe davon aus, dass jemand dieses allgemeinere Problem in naher Zukunft lösen wird.«

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.