Antarktis: Unberührtes Paradies für Kälte-Fans
Noch konnte James Clark Ross nicht ahnen, dass diese Welt aus Eis und Wasser einmal seinen Namen tragen würde. Geschweige denn, dass im Jahr 2017 hier das größte Meeresschutzgebiet der Erde entstehen würde. Doch vorerst hatte er auch ganz andere Sorgen. Scheinbar endlose Meilen hatte sich der Brite 1841 mit den beiden Schiffen "Erebus" und "Terror" durch Sturm, Schneetreiben und gefährliches Packeis gekämpft, um diesen Teil des Südpolarmeers zu erkunden. Das war schon schwierig genug gewesen. Nun aber bot sich vor dem Bug ein neuer Anblick: eine weiße Linie, die kein Ende nehmen wollte. "Es war eine außergewöhnliche Erscheinung", notierte Ross am 28. Januar 1841 in seinem Expeditionsbericht. "Als wir näher herankamen, wurde sie allmählich immer höher, bis sie sich schließlich als senkrechte Wand aus Eis entpuppte."
Die Männer waren auf das Ross-Schelfeis gestoßen, dessen Anblick bis heute kaum einen Besucher kalt lässt. Die gewaltige Eisplatte, die sich vom Land her über das halbe Rossmeer schiebt, ist mit 525 000 Quadratkilometern fast so groß wie Frankreich. "Auf ein solches Hindernis zu stoßen, war für uns alle eine große Enttäuschung", schrieb der Expeditionsleiter. Denn ihm war sofort klar, dass es nicht weiterging. Die weißen Massen waren undurchdringlich: "Mit den gleichen Erfolgsaussichten hätten wir versuchen können, durch die Kliffs von Dover zu segeln."
Den Traum, auf diesem Weg bis zum Südpol vorzustoßen, musste James Clark Ross also begraben. Frustrierend genug. Doch er wollte zumindest näher an die gefrorene Mauer heran. Auch auf die Gefahr hin, dass die tückischen Eismassen die Schiffe einschließen und nicht wieder freigeben könnten. "Sogar bis zum Fuß der Barriere war freies Wasser zu sehen", schrieb er. "Eine so gute Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen. Ich muss allerdings zugeben, dass das ein größeres Risiko war, als man vernünftigerweise eingehen sollte." Sein Forscherdrang war geweckt. Und der Faszination der Eiswelt konnte er sich nur schwer entziehen.
Das Schutzgebiet am Ende der Welt
Generationen später geht das vielen Naturschützern und Wissenschaftlern ganz ähnlich. So gefährlich wie zu Ross‘ Zeiten ist eine Expedition in diese Breiten heute zwar nicht mehr. Doch leicht macht es das Rossmeer seinen Besuchern noch immer nicht. Klirrende Kälte und peitschende Stürme, raue See und unberechenbare Eisverhältnisse können auch mit modernen Schiffen und Hightechausrüstung zur Herausforderung werden. Dafür hat die Region aber auch viel zu bieten. Schätzungen zufolge sollen dort rund 40 000 Paare der eindrucksvollen Kaiserpinguine und sogar eine Million Paare der kleineren Adeliepinguine brüten. Dazu kommen noch zahlreiche Sturmvögel, Raubmöwen und andere gefiederte Bewohner.
Auch für Meeressäuger ist das kalte, nährstoffreiche Wasser ein Schlaraffenland. Neben vier Robbenarten sind dort etliche verschiedene Wale unterwegs. Und auch den größten bisher gefangenen Koloss-Kalmar haben neuseeländische Fischer 2007 aus dem Rossmeer gezogen . Der gewaltige Tintenfisch brachte fast 500 Kilogramm auf die Waage, und seine Augen waren mit einem Durchmesser von 27 Zentimetern die größten, die Biologen bisher überhaupt entdeckt haben. All diese eindrucksvollen Polarbewohner werden am südlichen Ende der Welt künftig noch etwas ungestörter leben können als bisher. Denn 2017 tritt ein Beschluss der internationalen Kommission zur Erhaltung lebender Meeresressourcen der Antarktis CCAMLR) in Kraft, der das Rossmeer zum weltweit größten Meeresschutzgebiet macht. Mit 1,55 Millionen Quadratkilometern ist es so groß wie Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen.
"Die eisigen Gewässer der Antarktis werden künftig zum Rückzugsraum für Kälte liebende Arten werden"Julian Gutt
"Der südliche Ozean gehörte zwar auch bisher schon zu den am besten geschützten Meeresregionen überhaupt", erklärt Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut (AWI), dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Immerhin gab es den bereits 1961 in Kraft getretenen Antarktis-Vertrag und verschiedene andere Übereinkünfte, die einer zu intensiven Nutzung der Region einen Riegel vorschieben. Die Fischerei aber war unter bestimmten Auflagen erlaubt. Und genau das wird sich nun ändern. Auf mehr als 70 Prozent der Schutzgebietsfläche werden Fischer in den nächsten 35 Jahren gar nichts mehr aus dem Wasser holen dürfen, der Rest bleibt dem regulierten Fang von Fisch und Krustentieren für wissenschaftliche Zwecke vorbehalten.
Dieser lange und hart umkämpfte Beschluss ist aus Sicht von Naturschützern ein großer Erfolg. Stephan Lutter von der Naturschutzorganisation WWF spricht von einer "historischen Entscheidung". "Die eisigen Gewässer der Antarktis sind die Grundlage des dortigen Lebens", betont der Meeresschutzexperte. "Und sie werden künftig zum Rückzugsraum für Kälte liebende Arten werden". Den werden sie seiner Einschätzung nach auch dringend brauchen. Denn Biologen befürchten, dass viele Antarktisbewohner künftig ohnehin schon genügend mit den Folgen des Klimawandels zu kämpfen haben werden. Da können sie keinen weiteren Stress gebrauchen.
Jagd nach Seehechten hat Folgen für das Ökosystem
Dabei hatte es lange so ausgesehen, als würde die abgelegene Eiswelt gar kein größeres Problem mit diesem Wirtschaftszweig bekommen. Zwar hatte James Clark Ross mit seiner Expedition das Gebiet auf die Weltkarten gesetzt. Und er ahnte auch schon, wer sich als Nächstes dorthin auf den Weg machen würde: "Wann immer wir uns dem Rand des Packeises näherten, sahen wir massenweise Wale, die meisten davon sehr groß", schrieb der Entdecker. "Und ich habe keinen Zweifel daran, dass unsere Walfangschiffe dieses Gebiet bald häufig ansteuern werden". Zunächst aber blieben die Wal- und Robbenfänger die Einzigen, die in das komplexe Ökosystem am südlichen Ende der Welt eingriffen. Von weiteren Aktivitäten einschließlich der Fischerei blieb das Rossmeer zunächst verschont.
Bis 1997 die ersten neuseeländischen Fischer kamen, die es auf den Antarktischen Seehecht Dissostichus mawsoni abgesehen hatten. Dieser bis zu zwei Meter lange und 100 Kilogramm schwere Raubfisch lebt in Tiefen zwischen 600 und 1800 Metern und schwimmt dabei häufig auch unter das Meereis. Das Rossmeer hat sich inzwischen zum weltweit wichtigsten Fanggebiet für diese Art entwickelt. Neben neuseeländischen Schiffen operieren dort auch Fischer vieler anderer Nationen, die pro Jahr insgesamt um die 3000 Tonnen dieser Art aus dem Wasser holen.
"Dabei kann der Fang von Seehechten für das Ökosystem zu einem echten Störfaktor werden", sagt Julian Gutt. Die kilometerlangen und mit Tausenden von Haken bestückten Langleinen, die dabei zum Einsatz kommen, gelten zwar als relativ verträgliche Form von Fischerei. Anders als Grundschleppnetze wühlen sie zumindest nicht den gesamten Meeresboden mitsamt seinen Bewohnern um. Doch auch sie können Schaden anrichten. Solange sie gerade im Wasser hängen, ist die Bodenfauna zwar sicher. "Wenn solche Leinen aber bei schlechtem Wetter schräg über den Grund gezogen werden, rasieren sie Schwämme, Nesseltiere und andere Tiere regelrecht ab", erklärt Julian Gutt.
Doch selbst wenn keine anderen Arten direkt zu Schaden kämen, könnte die Seehechtfischerei die Beziehungen zwischen den Bewohnern des Südpolarmeeres massiv verändern. Denn Antarktische Seehechte spielen als Räuber wie auch als Beute eine zentrale Rolle in diesem Ökosystem. "Ihr Verschwinden kann deshalb das ganze Nahrungsnetz beeinflussen", betont der Ökologe. "Und zwar in verschiedene Richtungen und mit unerwarteten Folgen." Ein Bild von diesem komplexen Geschehen versuchen Matt Pinkerton und seine Kollegen vom Nationalen Institut für Wasser- und Atmosphärenforschung (NIWA) in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington zu zeichnen. Aus zahllosen ökologischen Puzzleteilen haben sie ein Computermodell entwickelt, mit dem sich die Nahrungsbeziehungen im Rossmeer simulieren lassen.
Seehecht als Kalorienbombe für Robbenmütter
Auf dem Speisezettel ihrer Feinde scheinen Antarktische Seehechte demnach gar kein besonders großer Posten zu sein. Es gibt einfach nicht genug von diesen Fischen, um all die Pottwale, Orcas und Weddell-Robben im Südpolarmeer das ganze Jahr über am Leben zu erhalten. In speziellen Regionen oder zu bestimmten Zeiten aber kann die Art offenbar durchaus zur lebenswichtigen Beute werden. Untersuchungen anderer Forscher bestätigen das. Weibliche Weddell-Robben zum Beispiel brauchen nach dem Abstillen ihrer Jungen besonders energiereiche Kost. Schließlich müssen sie nach der strapaziösen Elternzeit nicht nur wieder an Körpergewicht zulegen, sondern gleichzeitig auch noch ihr Fell wechseln. Da kommen ihnen die Seehechte gerade recht. Die sind nämlich deutlich größer und energiereicher als der Antarktische Silberfisch Pleuragramma antarctica, von dem sich Weddell-Robben hauptsächlich ernähren. Ohne die schuppigen Kalorienbomben können sich die Weibchen womöglich nicht gut genug erholen, um im nächsten Jahr wieder neuen Nachwuchs zu gebären. Mit Computermodellen haben Leo Salas von der Forschungsorganisation Point Blue Conservation Science im kalifornischen Petaluma und seine Kollegen durchgespielt, welche Folgen das haben kann. In einigen Szenarien schrumpften die virtuellen Robbenbestände dabei um mehr als zehn Prozent pro Jahr.
Doch kann es nicht auch Profiteure der Seehechtfischerei geben? Schließlich sind diese Fische selbst auch Räuber. Sie stellen zum Beispiel den Antarktischen Silberfischen nach, die auch bei Adeliepinguinen beliebt sind. Gibt es für die Vögel also mehr Beute, wenn die Fischer die Seehechte aus dem Spiel nehmen? Ist das vielleicht sogar die Erklärung dafür, dass sich die Zahl der Adeliebrutpaare im südwestlichen Rossmeer zwischen 2001 und 2013 mehr als verdoppelt hat? Matt Pinkerton und das Team von NIWA sind mit ihren Modellen auch dieser Theorie nachgegangen. Demnach sind durch den Seehechtfang im Jahr 2013 geschätzte 128 Tonnen mehr Silberfische für die Pinguine übrig geblieben. Das sind nicht einmal zwei Prozent der Menge, die pro Jahr im Magen dieser Vögel landen. Selbst wenn die Fischer die Hälfte aller Seehechte aus dem Wasser gezogen hätten und wenn sich diese nur von Antarktischen Silberfischen ernähren würden, hätte das nicht ausgereicht. Bei einem solchen Szenario tauchten auf den Bildschirmen der Forscher zwar zusätzliche Adeliepaare auf. Allerdings nur halb so viele, wie Biologen im Jahr 2013 tatsächlich beobachtet haben. Die neuseeländischen Forscher halten es daher für unwahrscheinlich, dass der Pinguinboom auf das Konto der Seehechtfischerei geht.
Was aber steckt dann dahinter? Bisher weiß das niemand. Denn Adeliepinguine lassen sich nur schwer in die Karten schauen. Ihre Lebenszyklen sind so komplex wie variabel, und sie reagieren auf die verschiedensten Einflüsse – von Störungen durch den Menschen über Klimaschwankungen bis hin zur Verteilung der Eisberge. Das alles überlagert sich auf bisher undurchsichtige Weise und macht es extrem schwierig, die künftige Entwicklung der Bestände vorherzusagen. "Schon deshalb ist die Einrichtung des Schutzgebietes im Rossmeer für die Wissenschaft ein Glücksfall", meint Julian Gutt vom AWI. Denn zu so einem Schutzgebiet gehört nicht nur ein Managementplan, es sind auch Erfolgskontrollen vorgeschrieben. Kontinuierlich müssen Biologen also beobachten, wie es den Adeliepinguinen und Antarktischen Seehechten, Antarktischen Silberfischen und anderen Bewohnern des Rossmeeres geht. Die dabei erhobenen Langzeitdaten können zahlreiche neue Puzzleteile für das Bild von der komplizierten Ökologie des Südozeans liefern.
Im Rossmeer aber gelten noch die Grundgesetze der Wildnis
Doch der wissenschaftliche Nutzen des neuen Schutzgebietes geht noch weiter. "Das Rossmeer ist eine der Regionen auf der Erde, die in den letzten 1000 Jahren am wenigsten vom Menschen beeinflusst wurden", erklärt Julian Gutt. "Deshalb können wir dort natürliche Prozesse untersuchen, die es anderswo schon längst nicht mehr gibt." Ein Meer wie die Nordsee ist für ihn nicht viel mehr als ein Acker an Land: ein Ökosystem, bei dem der Mensch die Strippen zieht. Im Rossmeer aber gelten noch die Grundgesetze der Wildnis. Und die sind bisher noch keineswegs ausreichend erforscht.
Da ist zum Beispiel die Sache mit den Eisbergen. Gerade das Rossmeer ist dafür bekannt, dass immer wieder gewaltige Brocken vom Schelfeis abbrechen. Der Megaeisberg B-15, der sich im März 2000 auf die Reise machte, war mit einer Fläche von 11 600 Quadratkilometern mehr als halb so groß wie Hessen. Was solche Kolosse bewirken können, hat schon James Clark Ross erlebt. Im Februar 1842 stießen er und seine Männer bei ihrer Expedition auf eine ganze Reihe von gefrorenen Riesen – und gerieten prompt in Schwierigkeiten. "Es gab keinen Zweifel daran, dass diese Kette von Eisbergen das Packeis auf seinem Kurs nach Norden aufgehalten und weit nach Westen gedrängt hatte", notierte Ross. "Einige Stunden lang waren wir ziemlich in Sorge. Wir wussten schließlich nicht, wie weit die Eisbergkette nach Westen reichen mochte. Denn der Schnee fiel so dicht, dass wir vor uns kaum etwas sehen konnten. Die Wellen, die über die Schiffe schwappten, gefroren auf den Decks und bedeckten unsere Kleidung mit einer dicken Eisschicht, so dass unsere Leute heftig litten, während der Sturm weiter tobte."
"Wir wollen ja immer Prognosen über die Folgen des Klimawandels machen. Dazu müssen wir aber erst einmal verstehen, wie so ein Ökosystem von Natur aus funktioniert"Julian Gutt
Am eigenen Leib haben die damaligen Entdecker also erfahren, wie groß der Einfluss der Eisberge auf die Strömungs- und Eisverhältnisse im Rossmeer ist. Inzwischen wissen Ökologen, dass die Kolosse auch ganze Nahrungsnetze durcheinanderbringen können. Manchmal verändern sie die Lebensbedingungen für die Algen und damit auch das Nahrungsangebot für das Zooplankton. Von diesen Minitieren wiederum hängen direkt oder indirekt zahllose weitere Arten ab – bis hin zu den Robben und Pinguinen. In anderen Fällen wirken Eisberge aber auch als direkte Barrieren, die Arten von ihren Nahrungsgründen fernhalten. Vor diesem Problem stehen mitunter auch die Adeliepinguine. Die Mitglieder der betroffenen Kolonien müssen dann entweder verhungern oder in andere Regionen abwandern.
"Bisher wissen wir aber noch zu wenig darüber, was solche natürlichen Störungen für die Populationen und das Ökosystem bedeuten", sagt Julian Gutt. Wie häufig kommen solche Ereignisse vor? Was genau bewirken sie? Wie lange hält ihr Einfluss an? Und wie unterscheiden sie sich von Störungen durch den Menschen? Solche Fragen findet Julian Gutt besonders spannend. "Wir wollen ja immer Prognosen über die Folgen des Klimawandels machen", sagt der Ökologe. "Dazu müssen wir aber erst einmal verstehen, wie so ein Ökosystem von Natur aus funktioniert." Und das lässt sich in der beinahe unberührten Wildnis des Rossmeeres besonders gut untersuchen. Allerdings nicht nur dort. Julian Gutt und seine Kollegen vom AWI hoffen, dass auch das Weddellmeer auf der gegenüberliegenden Seite des antarktischen Kontinents künftig einen ähnlichen Schutzstatus bekommen wird. Einen entsprechenden Vorschlag will die EU bei der nächsten CCAMLR-Konferenz im Herbst 2017 einbringen. Die AWI-Forscher haben dafür die wissenschaftlichen Grundlagen geliefert. "Wir haben diesen Vorschlag sehr gut vorbereitet", sagt Julian Gutt. Deshalb ist er einigermaßen optimistisch, dass sich die Entscheidung nicht wieder über Jahre hinziehen wird wie beim Rossmeer. "Diese antarktischen Lebensräume sind einzigartig", betont der Ökologe. "Und sie müssen unbedingt geschützt werden."
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben