Usutu-Virus: Das stille Sterben der Amseln
Als Hanna Jöst im Jahr 2010 ein paar Mücken der Gattung Culex im Garten ihrer Eltern in Weinheim bei Heidelberg einfing, ahnte sie nicht, dass die Insekten für Schlagzeilen sorgen würden. Die Biologin sammelte für die »Kommunale Arbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage« (KABS), die am Oberrhein Stechmücken überwacht und bekämpft, sowie für das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNI) in Hamburg hunderttausende Mücken. Für ihre Doktorarbeit schaute sie sich in verschiedenen Gebieten Deutschlands an, welche Krankheitserreger die Tiere in sich tragen – und wurde fündig.
Acht Jahre später steht das Telefon bei Marco Sommerfeld nicht still. Der Referent für Vogelschutz beim Hamburger Landesverband des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) bekommt seit mehreren Wochen täglich Anrufe und Mails von Menschen, die kranke oder tote Amseln gefunden haben – mehr als 5000 Meldungen mit über 10 000 Vögeln hat der NABU-Bundesverband registriert. Besonders betroffen sind in diesem Jahr Hamburg und das westliche Niedersachsen, aber ebenso Bremen und Schleswig-Holstein. »Es wurden zwar auch andere Arten wie Blaumeisen, Gimpel, Zaunkönig, Rotkehlchen oder Heckenbraunelle gemeldet, doch gerade bei den Amseln haben wir sofort an das Usutu-Virus gedacht, weil dieses Virus ja schon seit 2011/12 in Südwestdeutschland viele dieser Vögel getötet hat.«
Vögel stecken sich während der Epidemien nicht direkt bei Artgenossen an, die Hausmücke Culex pipiens überträgt das Virus. Die Symptome: Die Vögel wirken apathisch, sie fliehen nicht mehr, wenn sich Menschen ihnen nähern, und sterben binnen weniger Tage. Dieser Zusammenhang ist inzwischen bekannt: Hanna Jöst wies mit ihren Doktorarbeitsbetreuern Norbert Becker und Jonas Schmidt-Chanasit in den Mücken aus dem Garten in Weinheim das Usutu-Virus nach. Der Erreger war kein Unbekannter. Forscher fanden ihn erstmals in den 1950er Jahren an den Ufern des Flusses Usutu in Swasiland in Südafrika. Von 2001 an fiel Wissenschaftlern und Naturschützern in Österreich auf, dass vermehrt Wildvögel starben, unter ihnen besonders viele Amseln. Ihr Bestand schrumpfte lokal um etwa 90 Prozent. Wissenschaftler fanden das Usutu-Virus, und bei Untersuchungen älterer Tierkadaver stellte sich heraus, dass schon 1996 ein Vogelsterben in Italien auf diesen Erreger zurückzuführen war.
Im Sommer 2011 starben im Raum Heidelberg tausende Amseln
»Durch den Fund aus Weinheim waren wir gut vorbereitet«, erinnert sich Jonas Schmidt-Chanasit, »und als dann die ersten Vögel gestorben sind, lag die Vermutung nahe: Das könnte das Usutu-Virus sein.« Der Verdacht bestätigte sich. In jenem Spätsommer starben zwischen Heidelberg, Mannheim und Karlsruhe Schätzungen zufolge 40 000 Amseln.
Jetzt im Spätsommer und beginnenden Herbst herrschen schwere Zeiten für die Vögel: Die anstrengende Brutsaison ist vorbei, die Tiere machen die Mauser durch, wechseln also ihr Federkleid. »In dieser Phase sind die Tiere besonders anfällig für Infektionen«, sagt Schmidt-Chanasit. Und die Stechmücke, die das Virus überträgt, ist ein Stadtbewohner – genau wie viele Amseln. Die Mücken sind um diese Jahreszeit vollgepackt mit Viren und übertragen die Erreger besonders effektiv.
Was genau die Tiere so anfällig macht, wissen die Forscher noch nicht. Auch in Haussperlingen und Staren haben sie das Virus entdeckt, doch diese Vögel wurden nicht häufiger verendet aufgefunden. Anders bei einer weiteren äußerst anfälligen Art: dem Bartkauz. In freier Wildbahn kommen diese Vögel nur in Skandinavien vor, aber hier zu Lande und in Österreich zum Beispiel werden sie in Wildparks und Zoos gehalten. Schon beim Ausbruch in Österreich beobachteten Ornithologen, dass in solchen Parks und Zoos vermehrt tote Bartkauze gefunden wurden. In Deutschland wiederholte sich das – zum Beispiel in Berlin. »Sogar in Gebieten, wo nur sehr wenig Mücken mit dem Virus infiziert sind, ist der Bartkauz sofort betroffen«, so Schmidt-Chanasit.
Und jetzt auch noch das West-Nil-Virus
Im Jahrhundertsommer 2018 kommt ein weiterer Erreger hinzu: Wie das Friedrich-Loeffler-Institut für Tiergesundheit (FLI) am 29. August 2018 meldete, haben die Wissenschaftler einen weiteren Erreger entdeckt, der für Deutschland neu ist: das West-Nil-Virus. Auch im Referenzlabor für diese Viren auf der Insel Riems bei Greifswald untersuchen Wissenschaftler dieser Tage tote Vögel. In einem Bartkauz, der in Halle an der Saale tot in seiner Voliere gelegen hatte, konnten sie den Erreger nachweisen.
West-Nil- und Usutu-Virus sind nahe verwandt. Sie gehören beide zu den Flavi-Viren. Die Erreger sind so ähnlich, dass Tests, mit denen Forscher zum Beispiel routinemäßig Blutspenden auf das West-Nil-Virus untersuchen, auch auf Usutu reagieren. Die Experten sprechen dabei von Kreuzreaktivität. Denn die beiden Viren können auch Menschen infizieren. Zwar bemerken die wenigsten überhaupt etwas von einer Ansteckung oder kommen mit Grippesymptomen davon. Bei Patienten mit schwachem Immunsystem können die Erreger aber schwer wiegende Komplikationen hervorrufen – bis zu Gehirnentzündungen. »Hier waren wir sicherlich auf einem Auge blind in den letzten Jahren«, räumt Jonas Schmidt-Chanasit ein: »Wir müssen aufpassen, dass uns auf Ebene der humanen Infektionen nicht etwas durch die Lappen geht, sowohl was Transplantationen und Blutspenden anbetrifft als auch die klinisch auffälligen Fälle zum Beispiel mit einer Gehirnentzündung, wo wir eben in den letzten Jahren nicht an Usutu gedacht haben.«
Meldeaktion
Der NABU ruft zu einer Meldeaktion auf: Wenn Sie tote oder kranke Tiere beobachten, so können Sie für die Wissenschaft aktiv werden – mit näheren Angaben zu Fundort, Funddatum und den Fundumständen sowie zu den Symptomen der Vögel. Tote Tiere können auch eingesandt werden. Aber bitte beachten Sie dazu die Hinweise und Vorsichtsmaßnahmen auf der Seite des NABU.
Wie der Fund des West-Nil-Virus die Lage verändert, lässt sich noch nicht zuverlässig sagen. Bislang ist nicht einmal bekannt, woher der Erreger stammt. Das Virus kommt in Afrika und verschiedenen europäischen Ländern vor allem rund um das Mittelmeer schon seit Jahrzehnten immer wieder vor. So schlimm wie bei seiner Einschleppung in die USA im Jahr 1999 dürfte es nach Einschätzung der Experten allerdings nicht werden: Damals sorgte das Virus unter den Vögeln in den Vereinigten Staaten für ein Massensterben. Im Central Park in New York City fielen tote Vögel von den Bäumen. In Wellen breitete sich das West-Nil-Virus über den ganzen Kontinent aus und hinterließ auf seinem Weg haufenweise tote Vögel. Denn kein Tier war jemals zuvor mit dem Erreger in Kontakt gekommen. Das ist in Deutschland anders: Forscher vermuten, dass Zugvögel aus Afrika den Erreger immer wieder nach Deutschland verfrachtet haben. Die Wissenschaftler hatten ihn lediglich noch nie nachweisen können.
Usutu ist eine Krankheit der Städte
Was Beobachter bei Usutu verwundert: Außerhalb von Städten fehlen Meldungen über tote Amseln oder Eulen. Das könnte nach Schmidt-Chanasits Ansicht verschiedene Gründe haben. Möglicherweise hängt es damit zusammen, dass die Überträgermücke in Menschennähe lebt und im Wald andere Mückenarten vorherrschen, die das Virus schlechter weitergeben können. Oder es kommt vom Flugverhalten der Mücken: »Wenn eine Eule sich in 20 Meter Höhe aufhält, während die Mücken, die das Virus übertragen, gar nicht so hoch fliegen können, dann ist die Eule sicher«, sagt der Virologe vom BNI. »Eine Amsel, die eher in Gebüschen nach Regenwürmern pickt, ist vielleicht dem Überträger viel stärker ausgesetzt.« Die Zusammenhänge seien ausgesprochen komplex, und vieles ist bislang ganz einfach unbekannt.
Marco Sommerfeld vom NABU schätzt, dass beim aktuellen Usutu-Ausbruch in Norddeutschland mehr Vögel betroffen sind als bei vorangegangenen Ausbrüchen. Von 2010 an hat sich der Erreger entlang des Rheins nach Norden und Süden ausgebreitet. Doch erst 2016 gab es erneut ein großes Amselsterben. Aus der Umgebung sind zwar wieder Amseln eingewandert. Doch Renke Lühken vom BNI hat in einer Studie ermittelt, dass die Amselpopulation in den Epidemiegebieten zumindest zeitweise um 15 Prozent geschrumpft ist.
Insgesamt haben die Ereignisse aber weder in den Amselzahlen für Baden-Württemberg noch für die ganze Bundesrepublik Spuren hinterlassen. Zwar wurden bei der bundesweiten »Stunde der Gartenvögel« und der »Stunde der Wintervögel« des NABU lokale Rückgänge verzeichnet. Der Dachverband Deutscher Avifaunisten hat in seinen Erhebungen, die bis zum Jahr 2016 ausgewertet sind, allerdings keinen Effekt festgestellt. Im Gegenteil: Dem DDA-Monitoring zufolge wachsen die Amselbestände in Deutschland sogar.
Der Artikel erschien zuerst unter dem Titel »Das Amselsterben ist in Norddeutschland angekommen« bei den »Riffreportern.«
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