Kosmische Strahlung: Das Tor zum Gamma-Himmel
Erst die neunte Fahrt brachte den Durchbruch. Diesmal war der Ballon auf über 5300 Meter gestiegen, und der junge luftelektrische Beobachter Victor Franz Hess hatte immerzu seine drei Messgeräte abgelesen. Nach der Landung am 7. August 1912 schrieb der 29-jährige Österreicher: "Die Ergebnisse der vorliegenden Beobachtungen scheinen am ehesten durch die Annahme erklärt werden zu können, dass eine Strahlung von sehr hoher Durchdringungskraft von oben her in unsere Atmosphäre eindringt."
Hess hatte eine Entdeckung gemacht, die das Weltbild der Astronomen auf den Kopf stellte: Jeden Flecken des Kosmos füllt ein Sammelsurium aus Gammastrahlen, Elementarteilchen und Atomkernen, von denen etliche jede Sekunde auf die oberen Luftschichten der Erdatmosphäre prasseln. Wegen ihr überwacht man die Strahlendosis von Flugpersonal ähnlich akribisch wie die von Arbeitern in einem Kernkraftwerk und bangt um die Gesundheit von Astronauten.
Pionierleistung
Victor Hess konnte die Höhenstrahlung nachweisen, weil sich ihretwegen die Elektroskope an Bord seines Ballons überraschend schnell entluden. Denn die Strahlen ionisieren die Luft – sie wird leitend. So konnte die elektrostatische Ladung aus den luftdicht abgeschlossenen Instrumenten im Ballon entweichen. Auf dem Boden hatte man diesen Effekt auf Grund strahlender Erze im Boden und radioaktiver Radongase schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts beobachtet. Wissenschaftler gingen jedoch davon aus, dass die Entladung mit steigender Höhe langsamer vonstattengehen würde – weil die Strahlung aus den Erzen von Luft abgeschwächt wird und sich das extrem flüchtige Radongas ausgedünnt hat.
Er war nicht der Erste, der die Existenz einer extraterrestrischen Strahlenquelle für möglich hielt. Schon Experimente in den Jahren 1909 und 1910 hatten gezeigt, dass sich Elektroskope auch auf hoher See, im Gebirge und in Ballonfahrten ähnlich schnell entluden wie auf dem Flachland. Aber erst Hess konnte nachweisen, dass sich die Entladung mit steigender Höhe immer schneller abspielt. Auch gelang es dem jungen Wissenschaftler aus Wien, auf Nachtflügen und während einer Sonnenfinsternis die Sonne als mögliche Quelle auszuschließen. Dennoch war seine These von der Höhenstrahlung umstritten. "Hess' Geräte waren noch relativ unzuverlässig, außerdem hatte er auf über 4000 Meter nur zwei Messungen durchgeführt", sagt Dieter Hoffmann vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
Erst als der Deutsche Werner Kolhörster in den Folgejahren mit Sauerstoffmaske und besseren Instrumenten in über neun Kilometer Höhe aufstieg und etliche weitere Messungen in den oberen Atmosphärenschichten durchführte, wurde Hess' These salonfähig. Kolhörster war es auch, der 1929 nachweisen konnte, dass es sich bei der kosmischen Strahlung vornehmlich um geladene Teilchen handelt – und nicht nur um elektromagnetische Wellen hoher Energie, wie man bis dahin geglaubt hatte.
Schwierige Spurensuche
Aber was ist ihr Ursprung? "Wo die Teilchen der kosmischen Strahlung herkommen, verstehen wir immer noch nicht wirklich gut", sagt Werner Hofmann vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Denn die meisten der Partikel sind Protonen, die wegen ihrer elektrischen Ladung von den Magnetfeldern der Milchstraße auf erratische Bahnen gelenkt werden. Millionen Jahre schwirren sie durchs All, ehe einige von ihnen mit der Erde kollidieren. Daher halten Astronomen vor allem nach ungeladenen Teilchen Ausschau, beispielsweise den geisterhaften Neutrinos oder hochenergetischen Quanten der Gammastrahlung. Sie entstehen als Beiprodukt überall dort, wo Atomkerne auf enorm hohe Energien beschleunigt werden. Neutrinos und Gammaquanten fliegen jedoch in einer geraden Linie zur Erde. Sie deuten somit eindeutig auf ihren Entstehungsort zurück.
"Wo die Teilchen der kosmischen Strahlung herkommen, verstehen wir immer noch nicht wirklich gut"
Werner Hofmann
Allerdings ist ihr Nachweis deutlich aufwändiger als der von geladenen Atomkernen. Neutrinos durchströmen herkömmliche Materie mühelos und müssen mit riesigen unterirdischen Detektoren nachgewiesen werden, etwa dem Ende 2010 fertig gestellten Experiment IceCube am Südpol. Es besteht aus insgesamt 5160 Sensoren, die an 86 Fäden 2450 Meter tief in das antarktische Eis eingelassen wurden. Dort können sie besonders gut hochenergetische Neutrinos nachweisen, die auf die nördliche Hemisphäre der Erde einfallen, da sämtliche anderen Elementarteilchen von der Erdkugel absorbiert werden.
Die andere Klasse von ungeladenen "Botenteilchen", die Photonen der Gammastrahlung, werden bereits von der Erdatmosphäre absorbiert. Das macht ihren Nachweis ähnlich aufwändig wie den von Neutrinos. Lange konnten Gammaquanten nur mit teuren Satellitenexperimenten nachgewiesen werden, die mit ihren keinen Quadratmeter großen Detektoren jedoch nur einen winzigen Teil des kosmischen Bombardements erwischten. Jedoch können sie auf indirektem Weg auch von der Erdoberfläche aus nachgewiesen und charakterisiert werden. So lassen sich Gammateilchen aus dem Weltall über eine Fläche nachweisen, die der Größe eines Fußballstadions entspricht.
Werner Hofmann ist Sprecher des "High Energy Stereoscopic System" (H.E.S.S.), das auf einer Hochebene in Namibia seit neun Jahren vier spezielle Spiegelteleskope einsetzt, um den Gamma-Himmel zu untersuchen. Sie halten nach so genannten Tscherenkow-Blitzen Ausschau. Wann immer eines ihrer Teilchen von der Atmosphäre absorbiert wird, tritt es eine Lawine aus Elektronen los, die in Richtung der Erdoberfläche rieselt. Jeder dieser Ladungsschauer bringt einen Ausschnitt des Himmels für den Bruchteil einer Sekunde zum Leuchten. Die Teleskope können dieses extrem schwache Leuchten in mondlosen Nächten auffangen – und so nachweisen, dass Gammastrahlung aus einer bestimmten Richtung die Erde getroffen hat.
Satellitenexperimente wie das NASA-Projekt Fermi sowie Tscherenkow-Teleskope wie H.E.S.S., MAGIC auf den Kanarischen Inseln oder das amerikanische VERITAS konnten mittlerweile weit über 100 Quellen von Gammastrahlen im All ausmachen. Oft handelt es sich um Schockwellen von Sternenexplosionen, die sich über tausende Jahre schnell ausdehnen und von der Erde aus wie gewaltige Blasen erscheinen. "Mittlerweile sind wir uns sicher, dass Supernova-Explosionen Teilchen auf sehr hohe Energien beschleunigen", sagt Werner Hofmann. Denn die Schockwellen wälzen Gaswolken im Kosmos so um, dass Atomkerne darin zu immer höheren Energien geschubst und anschließend hinausgeschleudert werden.
Anhaltend rätselhaft
Wirklich verstanden sind die nach dem italienischen Physiker Enrico Fermi benannten Beschleunigungsprozesse in Supernovae laut Hofmann aber noch nicht. Erst ein zukünftiges Großprojekt wird es den Forschern ermöglichen, den Prozess genauer zu studieren: Das Cherenkov Telescope Array (CTA) soll, wenn es Ende des Jahrzehnts fertig gestellt wird, aus Dutzenden Spiegelteleskopen bestehen (die teils auf der Nord-, teils auf der Südhalbkugel stehen sollen). Damit ließen sich sämtliche Supernova-Überreste der Milchstraße studieren – und somit die genauen Mechanismen hinter der Fermi-Beschleunigung entschlüsseln.
Ein Rätsel wird aber CTA voraussichtlich nicht lösen können. Denn Tscherenkow-Teleskope können kosmische Strahlung nur bis zu einer Energie von 100 Teraelektronvolt nachweisen. Das ist knapp das Zehnfache der Energie, mit der der Large Hadron Collider (LHC) am Genfer Kernforschungszentrum CERN Atomkerne aufeinanderschießt. Aber einige wenige der Teilchen aus der kosmischen Strahlung sind noch weitaus energiereicher. Mit bis zu 1020 Elektronvolt (zehn Millionen Mal mehr als die Energie des LHCs) schießen die energiereichsten von ihnen durchs All. Forscher kennen jedoch keinen Prozess in der Milchstraße, der diese "ultra-hochenergetischen" Teilchen angestoßen haben könnte. Selbst die Energie von Supernova-Schockwellen reicht dafür nicht. "Man geht davon aus, dass diese Teilchen außerhalb unserer Galaxis zu höchsten Engergien beschleunigt worden sind", sagt Olaf Reimer, Astroteilchenphysiker von der Universität Innsbruck.
"Man geht davon aus, dass diese Teilchen außerhalb unserer Galaxis zu höchsten Engergien beschleunigt worden sind"
Olaf Reimer
Da im Durchschnitt pro Jahrhundert nur eines dieser extrem energiereichen Teilchen einen Quadratkilometer der Erdatmosphäre trifft, braucht man riesige Detektorflächen, um sie überhaupt nachweisen zu können. Solche liefert etwa das argentinische Auger-Observatorium, das heute aus 1600 speziellen Wassertanks besteht, die über eine Fläche von 3000 Quadratkilometern verteilt sind. Auger konnte zwischen 2004 und 2008 insgesamt 21 extragalaktische Photonen mit dieser Höchstenergie nachweisen. Und es fand sogar einen Hinweis darauf, wo diese herkommen könnten: Der Großteil der Teilchen kam demnach aus einer Richtung, in der sich so genannte aktive Galaxienkerne befinden. Bei ihnen handelt es sich um supermassereiche Schwarze Löcher, wie etwa das im Zentrum der gut zehn Millionen Lichtjahre entfernten Radiogalaxie Centaurus A. Sie saugen immer wieder riesige Mengen Materie aus ihrer Umgebung auf und speien diese anschließend weit ins All hinaus.
Bis vor Kurzem hielten Forscher noch eine andere Ereignisklasse für eine ebenso plausible Quelle der höchstenergetischen Teilchen. So genannte Gammastrahlenausbrüche (gamma ray bursts) sind die Folge, wenn ein besonders schwerer Stern zu einem schwarzen Loch kollabiert oder wenn zwei so genannte Neutronensterne ineinanderrasen. Auch sie finden nur in weit entfernten Galaxien statt und könnten Atomkerne theoretisch auf bis zu 1020 Elektronvolt beschleunigen. Im April veröffentliche jedoch die IceCube-Kollaboration eine Studie, die das zweifelhaft erscheinen lässt: Die Detektoren hatten über zwei Jahre hinweg kein einziges Neutrino nachgewiesen, das sich einem Gammastrahlenausbruch zuordnen ließ.
Unter anderem mit Hilfe des H.E.S.S.-Experiments hoffen die Forscher nun, die Mechanismen hinter den gewaltigen Strahlenausbrüchen besser zu verstehen. Vor Kurzem wurde H.E.S.S. um ein fünftes Teleskop erweitert, das viel größer ist als die bisherigen vier und mit dem sich unter anderem besonders schnell vorübergehende Phänomene wie Gammastrahlenausbrüche besser beobachten lassen. Mit einer Spiegelfläche von der Größe zweier Tennisplätze ist es das größte Tscherenkow-Teleskop der Welt. Es deutet in Richtung einer Zukunft mit immer ausgefeilteren Instrumenten, die den physikalischen Prozessen hinter Victor Hess' Entdeckung auf die Schliche kommen sollen.
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