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Hirnforschung: Das Tor zum Hirn

Es klingt nach Science-Fiction: Ein ins Gehirn implantierter Chip soll Gelähmten wieder zum Gehen verhelfen. Doch die Technik scheint tatsächlich zu funktionieren.
BrainGate
Es geschah am 3. Juli 2001. Matthew Nagle kam von einem Feuerwerk zum Vorabend des amerikanischen Unabhängigkeitstags zurück, als er in eine Messerstecherei geriet. Der 21-Jährige überlebte die Attacke nur knapp, und als er im Krankenhaus erwachte, konfrontierten ihn die Ärzte mit der schrecklichen Wahrheit: Querschnittslähmung. Das Messer hatte Matthews Rückenmark im Hals getroffen, für den Rest seines Lebens wird er nur noch seinen Kopf bewegen können.

Matthews Schicksal – so schrecklich es auch sein mag – ist nicht ungewöhnlich. Zahlreiche Menschen verlieren durch Krankheit, Unfall oder Gewalteinwirkung die Kontrolle über ihre Gliedmaßen. Noch härter trifft es so genannte Locked-in-Patienten, die in einem vollkommen bewegungsunfähigen Körper eingeschlossen sind. Obwohl die Muskulatur einwandfrei arbeiten könnte, bleiben sie gelähmt, da die Befehle des Gehirns ihr Ziel nicht erreichen. Wie lässt sich solchen Menschen helfen?

Mit Gedankenübertragung! Die Idee ist nicht ganz so abstrus, wie sie zunächst klingen mag. Bereits 1999 hatte die Arbeitsgruppe um Niels Birbaumer von der Universität Tübingen einen "Gedankenübersetzungsapparat" entwickelt: Die Forscher maßen per EEG die Hirnströme von Versuchspersonen, während diese sich die Bewegung eines Cursors an einem Computerbildschirm vorstellten. Tatsächlich lassen sich die gemessenen Hirnsignale nach langem Üben in Cursor-Bewegungen umsetzen.

Ein fast unheimlich anmutendes Experiment wagten im Jahr 2000 Miguel Nicolelis und seine Kollegen von der Duke-Universität: Die Neurobiologen implantierten Elektroden in die Hirnrinde eines Affen und maßen damit die Hirnaktivität, sobald das Tier einen Hebel bewegte. Die gemessenen Signale wandelten die Forscher in Computer-Befehle um und schickten diese per Internet an ein tausend Kilometer entferntes Labor. Ein zweiter Computer setzte hier die Gedanken des Tiers um und bewegte – wie von Geisterhand – einen Roboterarm.

BrainGate | "BrainGate" besteht aus einem vier mal vier Millimeter großen Chip, der mit 100 Elekroden bestückt ist und in den motorischen Kortex implantiert wird. Über einen auf die Schädeldecke geschraubten Adapter gelangen die Messsignale in einen Computer, der die Hirnaktivität auswertet und in Bewegungsbefehle umsetzt.
Funktioniert das auch beim Menschen? John Donoghue ist davon überzeugt. Im Jahr 2001 gründete der Neurowissenschaftler von der Brown-Universität die Firma Cyberkinetics und ließ hier einen Chip entwickeln mit dem viel versprechenden Namen "BrainGate". Dieses vier mal vier Millimeter große "Tor zum Gehirn" besteht aus 100 Elektroden, welche – eingepflanzt im motorischen Kortex – die Aktivität einzelner Neuronen oder Neuronengruppen messen sollen. Über einen Adapter, der an einen in die Schädeldecke befestigten Metallsockel geschraubt wird, gelangen die Messsignale per Kabel zur Auswertung in einen Computer.

Bei Affen hatte BrainGate seine Einsatzfähigkeit bereits demonstriert, nun stellte sich Matthew Nagle als erstes menschliches Versuchskaninchen zur Verfügung: Im Juni 2004 setzten die Forscher um Donoghue den Chip in das Gehirn des Gelähmten ein und griffen neun Monate lang dessen Hirnsignale ab, bevor der Chip im Oktober 2005 wieder entfernt wurde.

Und tatsächlich: Während Matthew versuchte, sich bestimmte Bewegungen beispielsweise eines Bildschirm-Cursors vorzustellen, konnten die Forscher auswertbare Signale aus seinem motorischen Kortex ableiten – obwohl sich der Patient seit drei Jahren nicht mehr gerührt hatte. In wenigen Tagen lernte Matthew "kraft seiner Gedanken" den Cursor zu bewegen, virtuell Pingpong zu spielen, E-Mails abzurufen oder den Fernseher zu bedienen. Schließlich gelang es ihm sogar, eine Handprothese zu bewegen und näherungsweise einen Kreis zu zeichnen.

Allerdings versagte die aufwändige Apparatur bei einer zweiten Versuchsperson, und die Öffnung des Schädels birgt die hohe Gefahr von Infektionen. Dennoch ist Donoghue davon überzeugt, dass der riskante Eingriff ins Gehirn auf Dauer viel versprechender ist als nicht invasive Techniken. Schließlich seien EEG-Messungen, welche die Aktivität von Millionen von Nervenzellen gleichzeitig erfassen, zu ungenau, um Bewegungen gezielt zu kontrollieren.

Gehen konnte Matthew mit BrainGate noch nicht – bis Querschnittsgelähmte mit Hirnimplantaten tatsächlich einmal Arm- und Beinprothesen gezielt steuern können, bedarf es wohl noch erheblicher Tüftelarbeit. Doch mit dem "Tor zum Gehirn" könnte sich ein Weg öffnen.

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