Politikverdrossenheit: »Die Art der Abstimmung macht einen Unterschied«
Frau Hausladen, Winston Churchill hat den Satz geprägt: »Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von allen anderen.« Würden Sie zustimmen?
Ich würde mich mit so einem Satz nicht zufriedengeben wollen. Mir drängt sich da die Frage auf: Welche Art von Demokratie ist gemeint? Und wie können wir sie so gut wie möglich gestalten?
Haben Sie einen Vorschlag?
Bei den Arten von Demokratie könnten wir beispielsweise verschiedene Formen der politischen Repräsentation miteinander vergleichen: Das Mehrheitswahlrecht, bei dem der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen den Wahlkreis gewinnt, ist schließlich etwas anderes als eine Repräsentation über Referenden, in denen die Bürger direkt an politischen Entscheidungen beteiligt sind – um nur zwei Beispiele zu nennen. Und unabhängig von den Formen gibt es dann auch noch unterschiedliche Methoden, wie die Menschen ihre Präferenzen zum Ausdruck bringen können. Sollen sie etwa ein Kreuz bei einer Partei machen? Oder sollen sie vielleicht allen zur Wahl stehenden Parteien jeweils Punkte von 0 bis 5 geben, je nachdem wie stark sie diese präferieren?
Wie lässt sich herausfinden, welche Art der Abstimmung eine Demokratie am ehesten stärkt?
Man könnte auf die Ergebnisse blicken, zum Beispiel auf die nach der Wahl verabschiedeten Gesetze. Oder man schaut sich an, inwieweit die Wählerinnen und Wähler verschiedene Entscheidungsprozesse als legitim empfinden: Vertrauen die Menschen darauf, dass der jeweilige Abstimmungsmechanismus, unter dem politische Beschlüsse gefasst werden, in der Breite der Wählerschaft als fair akzeptiert wird und dass die von den Wählerinnen und Wählern geäußerten Meinungen darin gut berücksichtigt sind?
»Wie Wahlregeln die Legitimität beeinflussen« haben Sie eine neue Studie überschrieben. Dem Titel nach muss eine Demokratie darauf achten, auf welche Weise sie die Menschen abstimmen lässt, damit das System als fair angesehen wird.
Vorsicht, wir haben keine Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen untersucht. Aber es ging in der Tat um die Frage, welche Abstimmungsregeln unter welchen Umständen von den Menschen als legitim und vertrauenswürdig empfunden werden. Wir haben dies im Jahr 2021, während der Pandemie, anhand von coronapolitischen Themen untersucht, und es ist durchaus möglich, dass man in größeren Zusammenhängen auf ähnliche Ergebnisse stößt. Solche Studien liegen aber noch nicht vor. Doch auf Basis unserer Analysen lässt sich immerhin sagen: Die Methode, nach der Menschen über ein gegebenes Thema abstimmen, spielt offenbar eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, ob die Leute eine Wahl als fair empfinden und ob sie die Ergebnisse akzeptieren werden.
Intuitiv erscheint das sinnvoll: Wenn man bei einer Wahl seine Stimme abgibt, aber die gewählte Partei am Ende nicht an der Spitze der Wählergunst steht, erscheint plausibel, dass man das Ergebnis eher akzeptiert, wenn ein Verhältniswahlrecht herrscht. Denn dieses verhindert, dass die siegreiche Partei gleich alle Plätze im Parlament auf sich vereint. Stattdessen erhalten alle Parteien gemessen an ihren Stimmanteilen Plätze im Parlament.
Das ist ein mögliches Beispiel. In unserer Untersuchung ging es bei der Abstimmungsmethode allerdings nicht darum, wie sich die abgegebenen Stimmen nach einer Wahl in Mandate übersetzen, sondern um die Art der Stimmabgabe als solche. Interessanterweise gibt es bisher nur wenige experimentelle Studien zum Vertrauen in unterschiedliche Abstimmungsmethoden. Das Thema Legitimität wird eher in der Moralphilosophie und politischen Theorie diskutiert.
Was genau haben Sie untersucht?
Wir haben 2021 fünf Themen definiert – vier zu pandemiepolitischen Maßnahmen plus ein Kontrollthema – und Probandinnen und Probanden gebeten, darüber abzustimmen. Das Ganze aber nicht nur einmal, sondern jeweils viermal, mit verschiedenen Abstimmungsmethoden. Danach haben wir die Teilnehmer gefragt, als wie legitim sie die Abstimmungsmethoden empfanden.
Worüber haben Sie konkret abstimmen lassen?
Wir haben möglichst kontroverse Fragen gestellt: wie Impfungen reguliert werden sollen, wie Plätze auf Intensivstationen vergeben werden sollen, welche Präventionsmaßnahmen die Regierung fördern sollte und was die Regierung in ihrer Coronastrategie neben der Infektionsvermeidung noch berücksichtigen sollte. Die Kontrollfrage war die nach der persönlichen Lieblingsfarbe.
Und zu all diesen Fragen mussten die Teilnehmer jeweils viermal auf unterschiedliche Weise ihr Votum abgeben?
Genau. Alle Fragen haben wir den Teilnehmenden in der exakt gleichen Reihenfolge und im exakt gleichen Wortlaut gestellt. Auch die Abfolge der vier Wahlmethoden war vorgegeben. Die erste war die typische »Mehrheitsabstimmung«: Aus mehreren Optionen kann genau eine ausgewählt werden. Bei der zweiten Methode, der »Zustimmungswahl«, mussten die Probanden hingegen für jede einzelne Option angeben, ob sie diese persönlich ablehnen, ihr zustimmen oder ihr neutral gegenüberstehen.
»Bisher gibt es nur wenige experimentelle Studien zum Vertrauen in unterschiedliche Abstimmungsmethoden«
Das Prinzip der Mehrheitsabstimmung ist den meisten Menschen nicht nur von Parlamentswahlen vertraut. Es ist generell die gängige Art, über alles Mögliche abzustimmen, etwa über den Ort der Weihnachtsfeier: Soll sie in Restaurant X, Y oder Z stattfinden? Der Mehrheitswille wird dann in der Regel befolgt. Die Zustimmungswahl hingegen dürfte weniger bekannt sein.
Sicher. Die beiden zusätzlichen Abstimmungsarten boten den Teilnehmern noch mehr Flexibilität. Bei der dritten Methode, der so genannten »Bewertungswahl«, musste man jeder Option einen Wert von 0 bis 4 zuordnen, je nach Grad der persönlichen Zustimmung. Und bei der »modifizierten Borda-Wahl« musste jeder Teilnehmer aus allen Optionen zunächst jene aussortieren, die er am stärksten ablehnte – woraufhin er in einem zweiten Schritt den verbliebenen Optionen numerische Werte je nach Grad der persönlichen Zustimmung verlieh. Dies war die komplizierteste Methode. Borda-Wahlen nennt man Wahlsysteme, bei denen Wähler und Wählerinnen ihre Präferenzen durch eine Rangliste ausdrücken. Natürlich gibt es noch viele weitere Abstimmungsarten. Mit unserer Auswahl haben wir versucht, eine möglichst große Bandbreite abzudecken, so dass die Abstimmenden ihre Präferenzen von wenig detailliert bis sehr detailliert ausdrücken konnten.
Und welche Art der Abstimmung ist nun die beste?
Zuerst einmal fiel uns auf: Wenn die Abstimmungsfrage stark polarisierte, brachten die vier Arten der Abstimmung durchaus unterschiedliche Ergebnisse hervor. In eine Parlamentswahl übersetzt hieße das: Wenn dieselben Personen nach unterschiedlichen Methoden abstimmen, würde der Wahlausgang wahrscheinlich jedes Mal anders ausfallen und sich auch in unterschiedlich geformte Regierungen übersetzen. Deshalb ist die Methode, wie wir abstimmen, von großer Bedeutung.
Was haben Sie noch festgestellt?
Ungefähr ein Drittel der Teilnehmenden stimmte inkonsistent ab: Je nach Abstimmungsmethode ordneten diese Probanden die verschiedenen zur Auswahl stehenden Optionen unterschiedlich ein. Eine naheliegende Erklärung hierfür ist, dass die Betreffenden bestimmte Nuancen ihrer persönlichen Meinung noch nicht vollständig für sich formuliert hatten. Das wäre im Kontext der Pandemie auch plausibel: Die Situation rund um Covid-19 war im Jahr 2021 sehr dynamisch. Es war noch nicht viel Studienwissen vorhanden, kaum jemand hatte zuvor schon einmal Erfahrungen mit einer Pandemie gemacht.
Haben die inkonsistent Antwortenden die Frage nach der Legitimität der vier Wahlmethoden auch anders beantwortet?
Das war tatsächlich der Fall. Es gab eine Tendenz, dass diejenigen Personen, die über die vier Abstimmungsmethoden hinweg konsistent abgestimmt haben, die detaillierteren Abstimmungsmethoden für legitimer hielten im Vergleich zu jenen Personen, die in ihrem Abstimmungsverhalten Widersprüche offenbarten. Die Bewertungswahl und die modifizierte Borda-Wahl stießen bei denjenigen auf höhere Zustimmung, die in der Lage waren, ihre Präferenzen auch nuanciert zum Ausdruck zu bringen. Bei der Entscheidung für eine bestimmte Abstimmungsmethode steht man demnach vor einer Herausforderung: Wenn man ein detailreiches Bild der allgemeinen Interessenlage innerhalb der Wählerschaft zeichnen möchte, zugleich aber auch eine hohe Legitimität bei den Wählern erzielen will, sollte man den Detaillierungsgrad der Abstimmungsmethode wohl besser nur schrittweise anheben.
Wie könnte man dieses Problem in der Praxis lösen?
Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, wie in unserem Experiment in derselben Abstimmung mehrere Methoden nacheinander einzusetzen. Zunächst könnte man mit einer einfachen Methode beginnen, wie etwa einer Einstufung in neutral, positiv oder negativ. Im zweiten Schritt könnte man dann eine detailliertere Punktbewertung einführen – wobei nur diese zweite Methode für die endgültige Entscheidung ausschlaggebend wäre. So hätten die Wählenden die Möglichkeit, ihre Präferenzen zunächst grob einzuordnen und sich ihrer Position klarer zu werden. Die zweite Methode bietet dabei eine höhere Flexibilität und wird als besonders legitim wahrgenommen.
»Die empfundene Legitimität beruht auch auf dem Abstimmungssystem, nicht allein auf dem Ergebnis«
Wie haben Sie das Experiment ganz praktisch durchgeführt, und wer waren die Probandinnen und Probanden?
Wir haben die Befragung über eine App organisiert und von 120 Personen vollständige Abstimmungsergebnisse erhalten. Die Teilnehmenden waren in einem Pool der Züricher Universitäten registriert, der für Experimente wie unsere eingerichtet ist. Streng genommen repräsentativ war unsere Befragung nicht: Wir hatten mehr Männer als Frauen in unserer Stichprobe, und die Teilnehmenden waren im Durchschnitt jünger und besaßen häufiger einen Universitätsabschluss als der Schweizer Bevölkerungsdurchschnitt.
Glauben Sie, dass sich trotzdem Rückschlüsse von diesen Ergebnissen auf die Gestaltung unserer Wahlsysteme ziehen lassen – wenn wir die Demokratie weiterentwickeln und stärken wollen?
Die empfundene Legitimität einer Abstimmungsmethode hängt immer vom Kontext ab. In der Schweiz haben wir bekanntlich mehr direkte Demokratie als in Deutschland, sprich: Volksentscheide. Und bei lokalen Themen, wie beispielsweise der Mittelverwendung in der Kommunalpolitik, werden in der Schweiz immer wieder neue Abstimmungsmethoden ausprobiert. So lernt die Gesellschaft Methoden kennen, die eben auch detailliertere Meinungsbilder zeichnen als ein schlichter Mehrheitsentscheid. Und sofern sich die Menschen eine differenzierte Meinung über das Abstimmungsthema gebildet haben, kann eine komplexere Methode ja auch eine hohe empfundene Legitimität erzielen, wie unsere Befunde nahelegen. Wenn das gelingt, fühlen sich auch diejenigen, die nach einer Abstimmung in der Minderheit sind, nicht als Verlierer. Denn die empfundene Legitimität beruht auch auf dem Abstimmungssystem, nicht allein auf dem Ergebnis. Am Ende wäre das ein großer Gewinn, denn ich denke, diese empfundene Legitimität würde eine solide Basis für ein konstruktives demokratisches Miteinander schaffen – sei es in der Entscheidungsfindung, der Diskussion oder der Lösungsfindung.
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