Naturkatastrophen: Das Zeitalter der Megabeben
In den letzten Jahren erschütterten außergewöhnlich viele schwere Beben die Erde: Sie traten deutlich häufiger auf, als Wissenschaftler erwartet hatten. Seit Dezember 2004 liegt die Rate der wirklich großen Beben – mit Stärke 8 oder größer – um das Zweieinhalbfache höher als im Durchschnitt des vergangenen Jahrhunderts. Seit dem Weihnachtsbeben vom 26. Dezember 2004 an der Westküste Sumatras, das einen verheerenden Tsunami mit insgesamt mehr als 230 000 Toten auslöste, ließen fünf Megabeben der Stärke 8,5 oder höher die Erde erzittern – zuletzt das Tohoku-Oki-Erdbeben vor Japan, das zusammen mit den nachfolgenden Flutwellen im März letzten Jahres schwere Zerstörungen anrichtete.
Völlig neu ist eine derart hohe Aktivität in der geologisch jüngeren Vergangenheit für die Menschheit jedoch nicht: Zwischen 1950 und 1965 plagten sieben Megabeben die Erdbevölkerung, darunter auch das Chilebeben 1960, das mit einer Stärke von 9,5 die schwerste Erschütterung war, die bislang von Seismologen aufgezeichnet wurde. Im Gegensatz zu diesen historischen Ereignissen können die Wissenschaftler heute jedoch die ursächlichen Prozesse besser quantifizieren und entschlüsseln. Viele der modernen Instrumente und Methoden, mit denen die Bodenbewegungen aufgezeichnet und analysiert werden können, wurden zwischen 1970 und 2000 entwickelt, einer relativ ruhigen Phase der Erdgeschichte mit wenigen großen Erdbeben, die die Stärke 8,5 nicht überschritten.
Fast alle Starkbeben des letzten Jahrzehnts verletzten dabei die gängigen Theorien, wo und wann derartige geotektonische Ereignisse auftreten und welche Folgen sie haben. Sie fanden durch die Bank in der Nähe von Subduktionszonen statt, an denen ozeanische Platten unter andere Krustenstücke abtauchen. Reibung sorgt hier dafür, dass das Gestein immer wieder hängen bleibt und vorwärtsruckelt, was wiederum mittlere Erschütterungen auslöst. Erwärmtes Gestein oder rutschige Sedimentlagen sollten entlang von bestimmten Abschnitten dieser Plattengrenzen jedoch verhindern, dass sich zu hohe Spannung aufbaut, die in schweren Erschütterungen abgebaut werden muss – so zumindest die theoretischen Annahmen vieler Geophysiker. Zudem sollten Zonen, die erst in jüngster Vergangenheit gebrochen waren, die nächsten Jahre stabil und ruhig bleiben. Die Forscher nahmen an, dass sich die Segmente am ehesten ruckartig nach vorne bewegen, an denen es lange nicht mehr heftig gebebt hatte. Und unterschätzt wurde auch, bis zu welchem Grad ein Erdbeben das nächste auslösen könnte. Die gängigen Methoden zur Analyse von Beben wurden außerdem für Ereignisse entwickelt, die nur Sekunden dauern und nicht Minuten, wie es mehrmals der Fall war.
Geowissenschaftler versuchen seit Langem rationale Entscheidungen zu fällen, welche Verwerfungszonen am stärksten beachtet werden sollen, um die begrenzten Ressourcen für die Katastrophenvorsorge auf diese Gebiete zu konzentrieren. Da aber wirklich detaillierte Daten nur für die letzten 100 Jahre vorliegen, wurden offensichtlich manche Regionen ignoriert, in denen potenziell extreme Plattenbewegungen vorkommen können. Deshalb müssen die Forscher möglichst rasch möglichst viel aus den jüngsten Starkbeben lernen. Denn das Bevölkerungswachstum sorgt dafür, dass heute und zukünftig viel mehr Menschen bedroht sind als zwischen 1950 und 1965.
Wann brechen die Urkräfte los?
Stehen die Starkbeben der letzten Zeit in enger Beziehung zueinander, löste also eins das andere aus? Die Aufzeichnungen der letzten 110 Jahre legen nahe, dass derartige Serien im Rahmen statistischer Schwankungen liegen. Tatsächlich findet parallel dazu keine Serie erhöhter Aktivität von mittelschweren Beben statt, so wie beispielsweise die katastrophale Erschütterung der Stärke 7, die am 12. Januar 2010 Haiti heimsuchte. Große Erdbeben können aber zumindest auf regionaler Ebene interagieren. Das Sumatrabeben 2004 etwa hat sehr wahrscheinlich weitere heftige tektonische Ereignisse entlang der Plattengrenze am Sundagraben 2005 und 2006 nach sich gezogen. Zwischen diesen vorgerückten Krustenblöcken liegt ein Abschnitt, der sich wohl seit 1797 nicht bewegt hat, womöglich feststeckt und deshalb große Spannung aufbaut – hier muss man sich also sorgen, dass es zukünftig krachen könnte.
Ob aber Megabeben weiter reichen und noch Jahre später extreme seismische Aktivitäten auf der anderen Seite des Planeten auslösen können, wird kontrovers diskutiert. Bislang weiß man nur, dass seismische Wellen eines entsprechend gewaltigen Starkbebens in weiter Ferne nur noch kleine Erschütterungen initiieren. Es erscheint aber denkbar, dass dadurch eine dynamische Ereigniskette in Gang gesetzt wird, an deren Ende ein weiteres Megabeben in der Ferne früher losbricht, als es ursprünglich der Fall gewesen wäre.
Ohnehin bestehen noch große Verständnislücken, was ein Erdbeben auslösen kann: Am 15. November 2006 brach beispielsweise entlang der Kurileninseln die Grenze zwischen der absinkenden Pazifischen Platte und der sich darüber bewegenden Eurasischen Platte mit einem Beben der Stärke 8,4. Das regte 100 Kilometer vor der Küste im Pazifik kleinere Erschütterungen an – ein völlig normaler Vorgang. Doch zwei Monate später erzitterte die gleiche Region unter einem Beben der Stärke 8,1. Keine Theorie kann bislang erklären, wie oft und wann ein derart starkes Nachbeben auftreten kann. Ein sogar noch exotischerer Fall ereignete sich am 29. September 2009: der Doppelschlag zweier Beben der Magnitude 8 am Tongagraben entfesselte einen großen Tsunami, der großflächige Schäden auf Samoa, Amerikanisch-Samoa und Tonga anrichtete. Noch während die Bruchzone an der einen Stelle aufriss und sich weitete, schlug 50 Kilometer südlich die zweite Katastrophe zu.
Andere Vorfälle brachten den Fachleuten ebenfalls schmerzhafte Lektionen bei: Einige Forscher hatten argumentiert, dass Starkbeben aus ersten Rissen entstehen, die in einer Art Signatur andeuten können, wie viel Energie beim endgültigen Bruch der Plattengrenzen freigesetzt wird. Doch diese Hoffnung trog. Starkbeben vor Peru 2007 (Stärke 8) und 2001 (Stärke 8,4) basieren offensichtlich auf Brüchen der Stärke 7,7, die nach einer kurzen Pause in angrenzenden Gebieten noch heftigere Erschütterungen initiierten. Das Tohoku-Oki-Beben (Stärke 9) letztes Jahr begann wohl sogar mit einem winzigen Auslöser der Stärke 4,9. Frühwarnsysteme werden durch dieses sprunghafte Muster auf eine schwere Probe gestellt.
Die Mechanik hinter den Urgewalten
Das erste überraschende Megabeben des letzten Jahrzehnts entlang des Sundagrabens 2004 ereignete sich unerwartet an einer 1300 Kilometer langen Plattengrenze, von der Seismologen annahmen, dass die Platten dort zumindest teilweise horizontal aneinander vorbeigleiten, statt zu subduzieren. Es dauerte außergewöhnlich lang, und die Bruchlinien bewegten sich für siebeneinhalb Minuten. Die meisten Analysemethoden, mit denen Plattenbewegungen bei Erdbeben ausgewertet werden, können nur 30 Sekunden lange, kleinere Ereignisse erfassen. Seismografen zeichnen dazu zwei unterschiedliche Signale auf: Primärwellen (P-Wellen), denen nach wenigen Minuten Sekundärwellen folgen (S-Wellen).
Auf Sumatra zeichneten die Instrumente noch immer neue P-Wellen auf, als bereits die ersten S-Wellen von den ersten Rissen eintrafen, so dass sich beide vermischten und überlagerten. Es dauerte allerdings nur wenige Wochen, bis die Geophysiker ihre Algorithmen angepasst hatten. Mittlerweile sind diese Methoden weit verbreitet, so dass Forscher und Regierungsbehörden selbst noch die größten Beben innerhalb weniger Minuten bis Stunden nach dem Schlag auswerten können.
Auch das Solomonen-Beben der Stärke 8,1 vom 1. April 2007 entwickelte sich an einer ungewöhnlichen Stelle: in einem Gebiet, in dem ein mittelozeanischer Rücken eine Subduktionszone durchschneidet. Da sich an einem Rücken neue ozeanische Kruste bildet, ist das Gestein dort normalerweise heiß und relativ elastisch. Es sollte sich deshalb nicht genügend Spannung aufbauen, die ein Starkbeben erlaubt. Die Auswertung der seismischen Wellen erbrachte jedoch Hinweise, dass hier zwei absinkende Platten in unterschiedliche Richtungen unter die überlagernde Pazifische Platte abtauchen. Der Bruch erstreckte sich über diese Dreierkreuzung hinweg. Nun werden die Risiken für andere Regionen mit derartigen Konstellationen neu bewertet – von Peru bis Tonga und Vanuatu.
Die Erschütterung der Magnitude 8,8, die am 27. Februar 2010 Chile traf, ging wiederum von einem Plattenteil aus, das zuletzt 1835 aktiv war – Charles Darwin wurde damals Augenzeuge. Laut dem gängigen Konzept bestehen die Plattengrenzen aus stark segmentierten Krustenblöcken, die immer wieder von annähernd gleich starken Beben heimgesucht werden – eine Überlegung, die auch auf historischen Daten basiert. Doch diese Regel trifft nicht immer zu. So nahm das Chile-Beben zwar im zentralen Bereich der Bruchzone von 1835 seinen Ausgang, wo die Experten die größte Bewegung erwarteten. Tatsächlich rutschte jedoch unerwartet vor allem der Abschnitt nördlich davon, der erst 1928 aktiv war.
Tsunamis an überraschenden Orten
Ebenfalls überraschend kam ein riesiger Tsunami, den ein Beben der Magnitude 7,8 vor Sumatras Küste am 25. Oktober 2010 erzeugte. Hier gab der flachste Teil der Subduktionszone nach. Die kaum verfestigten, leicht verformbaren Sedimente, die hier auf der in geringer Tiefe verlaufenden Plattengrenze lagern, sollten verhindern, dass sich zu hohe Spannung aufbaut und in einem schweren Schlag entlädt. Das war aber nicht der Fall. Große Flutwellen können also ebenso in unmittelbarer Nähe zu Ozeangräben verursacht werden, was man bislang nicht vermutet hatte – ein Aspekt, der in neue Risikoanalysen einfließen muss.
Ähnliches gilt für das Tohoku-Oki-Ereignis, das letztlich auch die Reaktorhavarie in Fukushima bedingte. Sein Epizentrum lag in einem Gebiet, in dem es in der jüngeren Geschichte stets nur kleine Brüche gab. Entlang des flachen Abschnitts der Verwerfung sollte sich eigentlich keine große Belastung aufbauen. In der Realität schnellte gerade hier die abtauchende Platte jedoch 40 bis 80 Meter nach vorne und löste weitere Rutschungen in benachbarten Segmenten aus, die sich erst wenige Jahre zuvor bewegt hatten. Das steigerte die Wirkung des Schlags und führte zu einem Tsunami, auf den keiner vorbereitet war.
Bittere Lektionen
Doch die Fachleute ziehen ihre Lehren aus diesen bitteren Erfahrungen. Man kann immer noch nicht prognostizieren, wann genau ein Erdbeben losbricht. Allerdings versteht die Wissenschaft inzwischen immer besser, mit welchen Gesamtrisiken man in einer Region rechnen muss. Mit Hilfe geodätischer Messungen begannen Geophysiker gefährdete Regionen vor Sumatra, Chile und Japan zu kartieren, noch bevor die Megabeben dort stattfanden. Untersuchungen des nordjapanischen Meeresbodens deuteten bereits an, dass dort eine große Gefahr lauert – nur schlugen die Naturgewalten zu früh los. Mit etwas mehr Zeit für die Untersuchungen und Analyse der Daten wären Stärke des Bebens und Tsunamis vielleicht nicht derart überraschend gewesen. Immerhin: Dank der schnellen Erfassung und Auswertung durch die lokalen Seismometer konnten die japanischen Behörden relativ früh die Bevölkerung warnen, auch wenn sich dieses System noch verbessern lässt.
Dazu müssten die Messstationen auf ein noch größeres Gebiet verteilt werden. Das dichte Netz von Seismometern und GPS-Sendern in Japan hat extrem dazu beigetragen, tektonische Aktivität exakt zu erfassen und die letztjährige Katastrophe zu verstehen. Andere Weltgegenden müssen dagegen erst noch entsprechend ausgestattet werden, vor allem im Meer. Gegenwärtig läuft dazu bereits ein Projekt vor der nordamerikanischen Küste von Washington und Oregon, wo 1700 ein Megabeben der Stärke 9 losbrach.
Obwohl uns auch zukünftig noch derartige Katastrophen überraschen werden, hat der wichtigste Paradigmenwechsel in unserem Denken bereits stattgefunden: Geophysiker rechnen nun auch in Gebieten mit schweren Erschütterungen, denen sie das bislang nicht zugetraut hatten. Zumindest diese bittere Lektion hat die Wissenschaft verinnerlicht.
Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Why giant earthquakes keep catching us out" in Nature 483, S. 149–150, 2012.
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