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Stressforschung: Dauernd unter Strom

In der Entwicklungsphase reagiert das Gehirn besonders anfällig auf chronische Belastungen - selbst vor der Geburt. Spuren lassen sich noch nach Jahrzehnten nachweisen.
Stress in der Kindheit
Die A3 bei Nacht, ein einsamer Fahrer spult die letzten Kilometer seines Heimwegs ab. Es dauert den Bruchteil einer Sekunde, dann trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Das Fahrzeug vor ihm fährt nicht, es steht. Noch während er mit aller Macht auf die Bremse steigt, gibt sein Körper Vollgas. Signale werden die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) entlanggeschickt, Glukokortikoide wie das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet, Herzrasen, Schweißausbruch, die Sinne aufs Äußerste geschärft. In letzter Sekunde bringt er den Wagen zum Halten.

Bei Gefahr im Verzug reagiert der Organismus mit physiologischen Mitteln, die man zusammenfassend als Stress bezeichnet. So kann er auf die Auslöser reagieren, Reserveenergiequellen anzapfen oder Entzündungen unterdrücken. Doch so nützlich sie im Notfall ist, die Antwort des Körpers erweist sich als zwiespältig. Wird der Ausnahmezustand zur Dauereinrichtung, sind vergrößerte Nebennieren, Magengeschwüre oder eine stärkere Infektanfälligkeit nur einige der Folgeerscheinungen. Und in jüngster Zeit kristallisiert sich eines immer mehr heraus: Ständiger Druck hat auch Folgen für die Hirnentwicklung – vor allem in der frühen Kindheit und in den reifen Jahren.

Bereits vor der Geburt macht sich konstante Belastung bemerkbar. Wissenschaftler um die Neurobiologin Djoher Abrous von der Université Victor Segalen Bordeaux 2 sorgten bei trächtigen Rattenweibchen für Unruhe, indem sie die Tiere in der letzten Schwangerschaftswoche mehrmals am Tag hellem Licht aussetzten [1]. Als der Nachwuchs geboren war, untersuchten sie das Gewicht seiner Nebennieren, um zu schauen, wie rege dessen HPA-Achse war. Tatsächlich waren die Hormondrüsen beim Nachwuchs der gestressten Mütter im Schnitt schwerer als bei der Kontrollgruppe – ihre "Stressachse" lief auf Hochtouren.

Der Hippocampus leidet schon im Mutterleib

Außerdem markierten sie bei den Nachkommen chemisch Zellen im Hippocampus, genauer im Gyrus dentatus, wo auch noch bei erwachsenen Säugetieren neue Nervenzellen – so genannte Körnerzellen – entstehen. Im Allgemeinen gehen Forscher davon aus, dass dies der Langzeitspeicherung von Erinnerungen dienlich ist. Auch hier ließ sich wieder der schädliche Einfluss der unruhigen Schwangerschaftszeit demonstrieren: Die Zellvermehrung nahm stärker ab als bei den Kontrolltieren, und die Ratten brauchten länger, um eine versteckte Plattform in einem Pool zu finden.

Psychische Belastung kann bei Tieren darüber hinaus zu ängstlichem oder "depressivem" Verhalten führen. Ähnliches lässt sich beim Menschen beobachten. Litten Mütter während der Schwangerschaft unter Angstzuständen oder Depressionen, haben ihre Kinder häufiger eine hyperaktive Stressachse. Sie neigen eher zu unsozialem Verhalten und schlagen sich vermehrt mit Schlaf- und Angststörungen herum.

Schon vor dem eigentlichen Start ins Leben beeinflusst Stress Hirnregionen wie den Hippocampus, die Amygdala und den frontalen Kortex – alles Regionen, die wiederum die Aktivität der HPA-Achse steuern. Wie ein Team um die Psychiaterin Sonia Lupien von der Université de Montréal in einer Überblicksstudie von 2009 berichtet, durchlaufen Kinder eine Phase, in der die Stressachse einige Gänge herunterschaltet und weniger auf Stressoren reagiert [2]. Möglicherweise lässt sie sich in diesem Zeitraum von sozialen Einflüssen oder elterlicher Pflege steuern. Das bedeutet aber auch: Kümmern sich die Eltern nur dürftig um ihren Nachwuchs oder fehlen den Kindern soziale Kontakte, kann das psychische Belastung auslösen.

Stress steckt in den Genen

Eine besonders dramatische Variante untersuchten Forscher um Michael Meaney von der kanadischen McGill University in Montreal 2009 [3]. Sie schauten sich das Hippocampusgewebe von Selbstmördern an, die als Kind missbraucht worden waren. Die Forscher konzentrierten sich auf das Gen NR3C1, das für einen Rezeptor kodiert, an den Glukokortikoide wie Cortisol binden. Beim Vergleich mit einer Kontrollgruppe von Selbstmördern ohne Missbrauchserfahrung zeigte sich, dass ihr Gen NR3C1 teilweise blockiert war. Methylgruppen hatten an die betreffende Erbanlage angedockt und dadurch das Ablesen und den Bau der Rezeptoren behindert. Die wenigen zur Verfügung stehenden Andockstellen konnten die stressbedingte Aktivität der HPA-Achse der Betroffenen nicht effektiv dämpfen.

Schlimme Erlebnisse und psychische Belastung in der Kindheit können also das Stresssystem entscheidend beeinflussen. "Davon ist unter anderem der Hippocampus betroffen, der bei Kindern noch vor der Pubertät besonders formbar ist", erklärt der Neuropsychologe Thomas Elbert von der Universität Konstanz. "Chronischer Stress kann in diesem Areal dazu beitragen, dass Nervenzellen degenerieren, ja sogar abgetötet werden." In der Jugend ist die Hirnregion dann vorschnell ausgereift – ein Selbstschutzreflex, der vor weiterer psychischer Anspannung schützen soll.

Dafür scheint dann allerdings der frontale Kortex in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Ein Team um den Psychiater Martin Teicher von der Harvard Medical School untersuchte 2008 mittels Magnetresonanztomografie die Gehirne von 26 Frauen, die als Kind sexuell missbraucht worden waren [4]. Durchlitten die Betroffenen diese traumatische Erfahrung in der frühen Kindheit, wies ihr Gehirn einen verkleinerten Hippocampus auf. Widerfuhr ihnen der Missbrauch dagegen in der Jugend – vor allem im Alter von 14 bis 16 Jahren – fiel bei ihnen der präfrontale Kortex vom Volumen her geringer aus. "Der Frontallappen vergrößert sich in der Jugendzeit und erweist sich daher in dieser Phase als besonders sensibel", fassen auch Lupien und ihre Kollegen zusammen.

Auf Bedrohung programmiert

Jede Hirnregion reagiert anders auf den psychischen Dauerstrom: Anders als der Hippocampus und der frontale Kortex vergrößert sich die Amygdala unter Stressbelastung – kein Wunder, ist sie doch daran beteiligt, Bedrohungen aufzuspüren.
"Chronischer Stress kann dazu beitragen, dass Nervenzellen degenerieren, ja sogar abgetötet werden"
(Thomas Elbert)
"Möglicherweise bot es evolutionäre Vorteile, wenn die Amygdala angesichts von Stress an Volumen gewann. So war sie besser in der Lage, bedrohliche Informationen zu registrieren", vermuten die Wissenschaftler um Lupien.

Die höhere Sensibilität hat ihre Schattenseiten: "Anhaltender Stress führt dazu, dass sich bestimmte Zellen in der Amygdala stärker verästeln und so vieles mit Angst und Schrecken verbinden. Menschen und Tieren, die unter chronischem Druck stehen, erscheint dann alles Mögliche als gefährlich", erklärt Thomas Elbert. In dieses Bild passt auch, dass ein erhöhter Stresshormonpegel hilft, sich an emotional gefärbte Inhalte zu erinnern, während er das Behalten neutraler Informationen erschwert. Auch hier sprechen die Wissenschaftler um Lupien der Amygdala eine entscheidende Rolle zu.

Mit fortschreitendem Alter gilt dann weiterhin: Jene Hirnregionen, die sich am meisten verändern – in der Regel also altersbedingt schrumpfen –, sprechen am stärksten auf psychische Belastung an. Im Erwachsenenalter und in den späten Jahren trifft es vor allem den Hippocampus, so das Team um Sonia Lupien. Ihre reifen Probanden, bei denen die Cortisolwerte mit dem Verstreichen der Jahre konstant angestiegen waren und auch aktuell hoch lagen, offenbarten vergleichsweise kleine Hippocampi und ein schlechteres Erinnerungsvermögen.

Vor den dramatischen Folgen von Stress ist man also in keiner Lebensphase gefeit. Doch die Forscher um Lupien hoffen vor allem darauf, dass aus den Studien die richtigen Schlüsse gezogen werden: "Mit diesen Erkenntnissen ließe sich eine Sozialpolitik entwickeln, die gerade die frühe Erfahrung von Stress an ihrer Wurzel packt: nämlich im Elternhaus."

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