DDR-Umweltbewegung: Gegen verdreckte Flüsse, tote Bäume und die Stasi
Die Stimmung war angespannt, die Volkspolizei hatte Mannschaftswagen postiert, versuchte die Menschen aufzuhalten, nahm einzelne Personen fest. »Zugeführt« hieß das, wegen »unerlaubter Zusammenrottung«. Gisela Kallenbach verwendet bewusst die Begriffe der DDR-Organe, wenn sie vom zweiten Pleiße-Gedenkmarsch in Leipzig erzählt. Am 4. Juni 1989, vor 35 Jahren, fand der friedliche Protestzug statt. Mit rund 500 Teilnehmern gehörte er zu den prägenden Aktionen der DDR-Umweltbewegung.
Ende der 1980er Jahre waren die Stimmen zunehmend lauter geworden, die auf die teils katastrophalen Zustände der Wälder, der Gewässer und der industrie- sowie bergbaugeschundenen Landschaften hinwiesen. »Die Leipziger Flüsse Pleiße und Weiße Elster, das war eine schwarze, stinkende Brühe mit weißen Schaumkronen«, sagt Kallenbach. Darauf haben sie und ihre Mitstreiter der Arbeitsgruppe Umweltschutz aufmerksam machen wollen.
Nach einem Friedensgebet im Leipziger Stadtteil Connewitz liefen sie los in Richtung Auwald. Kallenbach sah die Polizei, einsatzbereit. Ihr war über Jahre mehrfach gedroht worden – von mutmaßlichen Stasispitzeln: »Als Mutter von drei Kindern würde ich mir an Ihrer Stelle genau überlegen, was ich tue.« Sie war damals alleinerziehend, als sie mit ihren Kindern in Richtung Pleiße lief, und wusste nicht, welche »Maßnahmen« ihnen drohten, sollte es zum Zugriff kommen. Kurz vor dem Auwald bogen sie ab, sicherheitshalber.
Umweltdaten waren in der DDR Verschlusssache
Die Polizeipräsenz, die Drohungen und dutzende Festnahmen an diesem Tag hatten die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit einmal mehr offenbart. »Die Umweltgesetze der DDR waren gut, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen war in der Verfassung verankert«, berichtet Kallenbach. Doch im Land sah es anders aus, mit den toten Bäumen im Erzgebirge, den übel riechenden Flüssen, der dreckigen Luft. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsinstitut für Wasserwirtschaft sah sie täglich, wie schlecht es um die Umwelt stand. »Ich wollte mich für die Einhaltung der Gesetze einsetzen«, erklärt sie ihre Motivation.
1982 schloss sie sich der Arbeitsgruppe Umweltschutz beim Jugendpfarramt Leipzig an. Die Gruppe pflanzte Bäume, sammelte Abfall, versuchte zu Umweltthemen zu informieren: von »mobil ohne Auto« bis zu Umweltschutz im Haushalt. Die Arbeit war mühsam, Umweltdaten waren Verschlusssache und Vervielfältigungen von Informationen kaum möglich. Hinzu kamen die Einschränkungen durch die Stasi. Kallenbach fühlte sich bedroht – zu Recht, denn das Ministerium für Staatssicherheit hatte sie tatsächlich ins Visier genommen. Später las sie in ihrer Akte über einen »Maßnahmeplan zur Zersetzung der Persönlichkeit«, der sie zermürben sollte.
»Angst war der tägliche Begleiter«, sagt der Umweltautor Ernst Paul Dörfler. »Ich habe immer abgewogen, welches Wort ich wo und in welcher Lautstärke sagen kann.« Smog, Vergiftung und Waldsterben schon mal gar nicht, denn diese Begriffe galten als staatsfeindliche Hetze. Auch Dörfler hatte nach der Wende aus den Akten erfahren, dass seine Wohnung verwanzt worden war und wie er bei öffentlichen Auftritten zu unbedachten Äußerungen provoziert werden sollte.
Dem Verlag das kritische Buch untergeschoben
Dörfler wurde mit dem Buch »Zurück zur Natur?« aus dem Jahr 1986, das er gemeinsam mit seiner Frau Marianne verfasst hat, in der Umweltszene weithin bekannt. Bis dahin war es ein weiter Weg. »Ich hatte mich schon immer für die Natur interessiert, war in einem kleinen Dorf aufgewachsen und viel draußen«, erzählt er. Nach Studium und Promotion in Chemie arbeitete er in den 1970er Jahren am Institut für Wasserwirtschaft. Dörfler erstellte Studien über die Belastung von Gewässern mit Pestiziden, Nitrat und Schwermetallen. »Die wurden an den Umweltminister abgeliefert und sofort als Verschlusssache eingestuft«, erzählt er. Selbst die Abfälle aus seinem Papierkorb mussten verschwinden.
»Ich wusste so viel und musste schweigen, das hat mich buchstäblich krank gemacht.« Mit 32 Jahren kündigt Dörfler, will »so frei sein, wie es ging in dem System«. Für DDR-Verhältnisse ist das außergewöhnlich, Freiberufler sind die Ausnahme. Dörfler will als Umweltautor in den Schriftstellerverband, der ihn nicht aufnimmt. Ohne Krankenversicherung, ohne mediale Bühne schlägt er sich durch, hält Vorträge bei Anglerverbänden und in Kirchen.
Mit seiner Frau Marianne schreibt er ein Umweltbuch, das zwar keine konkreten Zahlen für die DDR benennt, aber doch die Missstände ungewöhnlich klar darlegt. Undenkbar, dass es erscheinen darf, und so bat der Lektor, ein neues Manuskript anzufertigen, erzählt Dörfler. »Das habe ich gemacht, mit ganz vielen Zitaten von Marx und Engels«, was bei der Zensur gut ankam. 1986 erfolgte endlich die Freigabe. Daraufhin, so schildert es der Autor, vertauschte der Lektor vor Drucklegung »versehentlich« die beiden Manuskripte, die den gleichen Titel trugen. »Binnen drei Tagen war das Buch ausverkauft, obwohl meine Frau und ich öffentlich nicht bekannt waren«, sagt er. »Das zeigt, dass der Buschfunk funktionierte.«
Wie die Umweltaktivisten Informationen im Land verteilten
Er funktionierte, obwohl sich die einzelnen Umweltgruppen in der DDR nur mit Mühe vernetzen konnten: Bloß wenige Menschen hatten ein Telefon; an heutige Medien wie Messenger und Mails war noch nicht einmal zu denken. Informationsschriften wurden oft mit so genannten Matrizen im Ormig-Verfahren vervielfältigt. Je nach Qualität der Matrize konnten dutzende bis einige hundert Abzüge erstellt werden. Für Texte war das Verfahren passabel, für Fotos jedoch ungeeignet. Verteilt wurden die Exemplare persönlich, man schickte aber auch Kuriere los oder versendete die Texte mit der Post in die gesamte DDR, wie Christian Halbrock berichtet.
Er und weitere Mitstreiter hatten 1986 in der Gemeinde der Berliner Zionskirche eine Umweltbibliothek gegründet. Aus heutiger Sicht ist die Bezeichnung Umweltbibliothek erklärungsbedürftig: »Der Umweltbegriff war sehr weit gefasst«, sagt Halbrock. »Es ging um alles, was den Menschen umgibt – Umwelt, Natur, aber auch soziale und gesellschaftliche Fragen wie Militarismus.« Man sammelte, was an Informationen zu bekommen war, in Fachaufsätzen, Büchern und Magazinen, auch aus dem Westen. Verliehen wurde kaum eine Publikation, zu groß war die Nachfrage, stattdessen konnten Interessenten die Schriften in den Räumen der Umweltbibliothek lesen.
Die Einrichtung war typisch für Umweltgruppen in der DDR – in zweierlei Hinsicht: Zum einen zog sie nicht nur Umweltinteressierte an, sondern war Treffpunkt für viele Oppositionelle, die das System der DDR aus verschiedenen Gründen kritisierten. Es waren Menschen, die politische Reformen wollten, die den Militärdienst verweigerten und die sich physisch sowie gedanklich eingesperrt fühlten.
Zum anderen war sie unter dem Dach der Kirche angesiedelt. Die Kirche bot einen gewissen Schutzraum, im Gegensatz zur »Gesellschaft für Natur und Umwelt« im staatlichen Kulturbund der DDR. »Dort hatten sich Umweltschützer mehr Spielräume erhofft, doch das war ein Trugschluss, sie wurden noch genauer überwacht«, sagt Kallenbach. Die Kirche wiederum verdankte den diskussionsfreudigen Oppositionellen viel frischen Geist in den Gemeinden, der nach der Wende wieder verloren ging.
»Als wir den Pfarrer angesprochen haben, war er sofort auf unserer Seite und hat uns drei Räume im Keller des Gemeindehauses angeboten«, erinnert sich Halbrock an die Gründung der Umweltbibliothek. Ganz hinten, da stand die Matrize, auf der die »Umweltblätter« gedruckt wurden. Davon wussten nur wenige, denn auch hier war die Angst vor der Stasi präsent. »Ich bin regelmäßig abgeholt und verhört worden.« Dazu kamen Geldstrafen wegen »staatsfeindlicher Zusammenkünfte«. Natürlich gab es Spitzel im Umfeld, aber nicht alle lieferten wie gewünscht, wie Halbrock später erfuhr. »Einer war Motorsportfan und bat darum, aus der Umweltgruppe abgezogen zu werden, ein anderer hatte dem Ministerium für Staatssicherheit erklärt, dass er nach genauer Beschäftigung mit der Gruppe die Seiten gewechselt habe.«
Die Stasi auf die falsche Fährte geführt
Manchmal gelang es den Umweltschützern, die Stasi zu narren. Zum Beispiel beim Weltumwelttag am 5. Juni 1989 in Halle. Matthias Waschitschka, Gründer der Umweltbibliothek an der dortigen Georgengemeinde, und seine Gefährten hatten zum Protestangeln an der Saale eingeladen. »Da trieben Phenolschäume auf dem Wasser, es war völlig unsinnig, da angeln zu wollen«, sagt er. Stattdessen hissten sie kleine Transparente mit Slogans: »Die Saale nach 40ig Jahr, die Fische sind noch rar.« Der Spruch sollte auf das 40-jährige Bestehen der DDR anspielen. Stasi und Wasserschutzpolizei waren damit beschäftigt, die Aktion zu beenden. Den Moment nutzten weitere Mitstreiter, um unbehelligt in der Stadt ein weitaus größeres Transparent an einer wichtigen Straße zu spannen – mit dem Spruch: »Wir haben diese Erde nicht geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen.«
Solche Erfolge gaben Auftrieb, waren eine kleine Genugtuung für Bespitzelungen bis in die Intimsphäre, Hausdurchsuchungen und Reiseverbote nach Berlin oder in die damalige Tschechoslowakei, von denen Waschitschka ebenfalls erzählt.
Wenige Monate nach den Aktionen an Saale und Pleiße fiel die Mauer. Die Akteure der Umweltbewegung suchten ihre Wege. Manche gingen in die Verwaltung oder in die Politik. So etwa Gisela Kallenbach für die Grünen, bis in den Sächsischen Landtag und das Europaparlament, während Matthias Waschitschka bald zur CDU wechselte, nachdem Grüne und SPD 1994 in Sachsen-Anhalt eine Minderheitsregierung gebildet hatten, toleriert durch die »Altkommunisten« – die damalige PDS. Für Waschitschka war das nicht tragbar, weshalb er sich für die CDU entschied. Ernst Paul Dörfler machte ebenfalls für die Grünen Politik, erkannte aber bald, dass »mein Platz« nicht in einer Partei ist. Er lebt weiterhin an der Mittelelbe, ist Naturführer, Referent und Buchautor. Christian Halbrock konnte nach der Wende endlich studieren und war lange Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter des Stasi-Unterlagen-Archivs. Heute bewirtschaftet er einen Hof in der Uckermark nach seinen ökologischen Vorstellungen.
Neunmalkluge Städter auf dem Land
Und was hat die Umweltbewegung bei den Menschen bewirkt? Kallenbach und Dörfler zeigen sich ernüchtert. Die Schäden seien nicht mehr so offensichtlich wie zu DDR-Zeiten, doch die Bedrohung der Umwelt sei noch immer da, etwa durch den Klimawandel. Aber das interessiere nur wenige, meinen die beiden, für viele Menschen seien andere Dinge wichtiger, vor allem Materielles. Sie versuchen dennoch, für ein Umdenken und vor allem nachhaltiges Handeln zu werben.
Halbrock, der aufs Land gezogen ist, sieht es nicht ganz so pessimistisch. »Es gibt hier erstaunlich viele, denen Umwelt- und Naturschutz bewusst ist.« Hitzige Diskussionen gebe es eher mit Leuten aus der Stadt, die erklären wollen, wie man es besser macht, »und nicht mal wissen, wo die Fernwärme für ihre Wohnungen herkommt«.
Auch Waschitschka ist verhalten optimistisch. »In meiner Wahrnehmung gibt es eine breite Sensibilität für Umweltthemen«, sagt er. Sie müsse sich jedoch nicht zwingend in einer Stimme für die Grünen ausdrücken, ergänzt der CDU-Mann.
Umfragen zeigen, dass über die Hälfte der Menschen hier zu Lande Umwelt- und Klimaschutz als wichtig erachten. Das stellte das Umweltbundesamt in seiner jüngsten Umweltbewusstseinsstudie von 2022 fest. Von den Befragten gaben 57 Prozent an, Umwelt- und Klimaschutz seien ihnen ein wichtiges Anliegen – beides lag damit an fünfter Stelle der für die Menschen bedeutsamsten politischen Themen in Deutschland. In einer weiteren Umfrage zur »Jugend in Deutschland« im Jahr 2024 gaben 49 Prozent der jungen Menschen an, der Klimawandel bereite ihnen Sorge. Allerdings verzeichneten beide Studien in den Vorjahren höhere Werte. Gesundheit, Bildung, Inflation und Krieg stellen zurzeit wohl für viele dringendere Probleme dar.
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