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Mathematisches Verständnis: Dehnbare Freiräume

Wer Zahlen von eins bis zehn auf einer Skala eintragen soll, macht dies meist linear. Ein indigenes Volk in Amazonien jedoch zeigt, dass es auch andere Formen der Aufteilung gibt - und verdeutlicht so, wie Bildung unser Denkvermögen strukturiert.
Zahlenformate
Als die Munduruku 2006 das erste Mal auf Pierre Pica trafen, dürften sie sich sehr gewundert haben. Über beschwerliche Wege war der Forscher vom französischen Forschungsverbund CNRS und der Université Paris 8 mit einem Übersetzer in das abgelegene Dorf des indigenen Volkes gekommen, das zurückgezogen von der Zivilisation im brasilianischen Amazonasgebiet lebt. Doch statt die ursprünglichen Riten der Ureinwohner zu studieren, die Tätowierungen und festlichen Federkleider zu fotografieren oder sich in ihrer Mythologie unterrichten zu lassen, stellte Pica einen Laptop auf und wollte über Zahlen reden.

Auf einer Linie sollten die Munduruku zeigen, wo sie verschiedene Zahlen zwischen eins und zehn oder zehn und einhundert platzieren würden.
pug pogbi ebadipdip bodi
(in der Sprache der Munduruku etwa: "eine Handvoll und vier daneben")
Die niedrigste Zahl war dabei immer ganz links, die höchste ganz rechts bereits vorgegeben – in Form von Punktmengen, die auch jenseits von Sprachbarrieren verständlich waren. Pica und seine Forscherkollegen von der Harvard University und dem Collége de France wollten herausfinden, ob die Munduruku, die – wenn überhaupt – nur über eine sehr rudimentäre Bildung verfügen, Zahlen im Raum ähnlich anordnen wie Menschen in den Industrienationen.

In unserem Kulturkreis tragen wir Zahlen auf einer Linie meist in linearen, gleichwertigen Abständen ein. Von der eins zur zwei gibt es auf einer Linie genau so viel Platz wie von der sieben zur acht. Diese Fertigkeit der räumlichen Anordnung der Zahlen ist jedoch keineswegs selbstverständlich. Kindergartenkinder etwa strukturieren die Zahlen auf einer Linie anders: Niedrige Zahlen erhalten bei ihnen wesentlich mehr Raum als hohe – grafisch dargestellt wirkt ihre Aufteilung nicht linear, sondern wie eine Kurve, ein Logarithmus.

Wenn die Kinder älter werden, passen sie die Aufteilung jedoch dem Gebrauch der Älteren an. Die Frage ist nur: Lernen sie dies durch kulturelle Bildung – oder gibt es eine neurologische Entwicklungsphase, die von der logarithmischen Darstellung wegführt und die lineare Aufteilung begünstigt? Der Versuch bei den Munduruku sollte dies aufklären.

Über dreißig Ureinwohner nahmen vor dem Bildschirm des französischen Forschers Platz – ältere und jüngere, Menschen mit ein oder zwei Jahren Schulbildung und solche ohne. Damit die Untersuchung nicht durch Sprachbarrieren verzerrt wurde, zeigte Pica ihnen die jeweiligen Zahlen als Punkte auf dem Bildschirm und spielte sie als Töne vor. Auch die Zahlwörter der Munduruku wurden abgefragt – von pug ma für eins über pug pogbi ebadipdip bodi (übersetzt etwa: eine Handvoll und vier daneben) bis xep xep pogbi für zehn. Die Ureinwohner mit Schulbildung wurden zudem auch mit portugiesischen Zahlwörtern befragt. Anschließend zeigten die Munduruku dem Wissenschaftler am Bildschirm, wo sie die jeweiligen Zahlen auf dem Grafen anordnen würden.

Doch egal wie die Ureinwohner des Amazonas-Gebietes die Zahlen wahrnahmen – sie ordneten sie grundsätzlich nicht linear an. Wie bei Kindergartenkindern in den Industrienationen gaben auch sie den niedrigen Zahlen mehr Freiraum. Auf der Mitte des Grafen stand bei ihnen nicht die fünf, sondern die drei oder vier. Die höheren Zahlen mussten sich mit weniger Platz begnügen.

Interessanterweise änderte sich das Bild bei den Probanden, die portugiesische Zahlwörter zuordnen mussten. Mit der fremden Sprache konfrontiert, wählten sie eher eine lineare Abfolge.
"Menschen haben zwei unterschiedliche Methoden, Zahlen räumlich anzuordnen"
(Stanislas Dehaene)
Bei ihrer Muttersprache jedoch wandten sie wie gewohnt die logarithmische Anordnung an. Eine Vergleichsgruppe amerikanischer Versuchspersonen jedoch ordnete die Zahlen grundsätzlich linear auf dem Grafen an.

Die Fähigkeit, Zahlen räumlich anzuordnen, scheint also angeboren zu sein, folgern Pica und seine Kollegen – die Methoden verschiedener Kulturen jedoch sind erst einmal unterschiedlich. "Es scheint, dass Menschen zwei unterschiedliche Methoden haben, Zahlen räumlich anzuordnen", erklärt Arbeistgruppenleiter Stanislas Dehaene vom Collége de France in Paris. "Die logarithmische, verhältnisbezogene Methode ist die intuitivere." Die lineare Abfolge jedoch scheint anerzogen.

Auch Schulkinder halten das ursprüngliche Konzept noch eine Weile bei – bis es dann im Laufe der Jahre vollständig hinter dem anerzogenen linearen System verschwindet.
  • Quellen
Dehaene, S. et al.: Log or Linear? Distinct Intuitions of the Number Scale in Western and Amazonian Indigene Cultures. In: Science 320, S. 1217–1220, 2008.

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