Coronavirus-Varianten: Bereit machen für Delta
Als Mitte April 2021 die ersten Fälle der Delta-Variante von Sars-CoV-2 in Großbritannien auftraten, bereitete sich das Land gerade auf seine Wiedereröffnung vor. Dank eines monatelangen Lockdowns und weil sein Impfprogramm zu den schnellsten der Welt gehört, waren die Zahlen der Covid-19-Fälle, Krankenhausaufenthalte und Todesfälle stark zurückgegangen. Zwei Monate später jedoch löste eine zunächst in Indien entdeckte Variante eine dritte Welle aus. Das zwang die britische Regierung, die ursprünglich für den 21. Juni 2021 geplante, vollständige Öffnung des gesellschaftlichen Lebens zu verschieben.
Nachdem sie den erschreckend schnellen Anstieg der Delta-Variante in Großbritannien beobachtet haben, bereiten sich andere Länder nun auf deren Auswirkungen vor, sofern sie diese nicht schon spüren. Länder in Europa – darunter Deutschland – und Nordamerika, die reichlich Zugang zu Impfstoffen haben, hoffen, dass die Impfungen den unvermeidlichen Anstieg von Delta dämpfen können. Für Afrika und andere Länder ohne große Impfstoffvorräte könnte die Variante verheerend sein, befürchten Wissenschaftler.
»Es wird echt schwer, diese Variante aufzuhalten«, sagt Tom Wenseleers, Evolutionsbiologe und Biostatistiker an der Katholischen Universität Leuven in Belgien. »Wahrscheinlich wird sie sich weltweit durchsetzen.«
Delta, auch bekannt als B.1.617.2, gehört zu einer Viruslinie, die erstmals während einer heftigen Infektionswelle im April und Mai 2021 in Indien identifiziert wurde. Die Variante breitete sich in einigen Teilen des Landes schnell aus und war teilweise resistent gegen die Impfstoffe. Für die Forschenden war es jedoch schwierig, die intrinsischen Eigenschaften des Virus von anderen Faktoren, zum Beispiel Massenansammlungen, zu trennen. All das ließ die Zahl der bestätigten Fälle in Indien auf über 400 000 pro Tag ansteigen.
Zwei Dosen des Biontech-Impfstoffs schützten zu 88 Prozent gegen Delta
Die Delta-Variante wird mit dem Wiederaufflammen von Covid-19 in Nepal, Südostasien und anderen Ländern in Verbindung gebracht, aber erst ihre Ausbreitung in Großbritannien hat Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein klares Bild der Bedrohung vermittelt, die sie darstellt. Delta scheint rund 60 Prozent übertragbarer zu sein als die ebenfalls hochinfektiöse Alpha-Variante, auch B.1.1.7 genannt, die Ende 2020 zunächst in Großbritannien auftrat.
Delta ist mäßig resistent gegen Impfstoffe, insbesondere bei Personen, die erst eine Dosis davon erhalten haben. Eine am 22. Mai 2021 von der Organisation »Public Health England« veröffentlichte Studie ergab, dass eine einzelne Dosis des Impfstoffs von AstraZeneca oder Pfizer das Risiko einer Person, auf Grund einer Infektion mit der Delta-Variante Covid-19-Symptome zu entwickeln, um 33 Prozent reduzierte. Bei der Alpha-Variante waren es 50 Prozent. Eine zweite Dosis des AstraZeneca-Impfstoffs erhöhte den Schutz gegen die Delta-Variante auf 60 Prozent, verglichen mit 66 Prozent gegen die Alpha-Variante. Zwei Dosen des Impfstoffs von Pfizer schützten zu 88 Prozent gegen Delta und zu 93 Prozent gegen Alpha.
Vorläufige Daten aus England und Schottland deuten darauf hin, dass Menschen, die mit Delta infiziert sind, etwa doppelt so häufig ins Krankenhaus müssen wie solche, die sich mit der Alpha-Variante angesteckt haben.
»Die Daten aus Großbritannien sind so gut, dass wir eine genaue Vorstellung davon haben, wie sich die Delta-Variante verhält«, sagt Mads Albertsen. Er ist Bioinformatiker an der Universität Aalborg in Dänemark. »Das hat uns die Augen geöffnet.«
Dänemark, das wie das Vereinigte Königreich weltweit führend im Sequenzieren der Virusgenome ist, verzeichnet ebenfalls einen stetigen Anstieg der durch die Delta-Variante verursachten Fälle – auch wenn es in der Summe deutlich weniger sind als in den meisten anderen europäischen Ländern. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Variante in Dänemark dominant wird, sagt Albertsen. Doch es besteht die Hoffnung, dass ihre Ausbreitung durch Impfungen, Überwachung und eine verbesserte Kontaktnachverfolgung verlangsamt werden kann. »Sie wird sich durchsetzen«, sagt er, aber »hoffentlich nicht zu früh, sondern erst in ein paar Monaten«.
In der Zwischenzeit lockert die dänische Regierung die Auflagen, anstatt sie zu verschärfen: Geimpfte und negativ getestete Personen dürfen seit Monaten in Restaurants und Bars gehen, Masken sind seit dem 14. Juni 2021 in den meisten Innenräumen nicht mehr vorgeschrieben. »Es sieht zurzeit gut aus in Dänemark, aber wir behalten die Delta-Variante genau im Auge«, sagt Albertsen. »Am Beispiel Großbritanniens sieht man: Das kann sich ziemlich schnell ändern.«
Die Fälle der Delta-Variante in Großbritannien verdoppeln sich etwa alle elf Tage. Beruhigend sei jedoch der langsamere Anstieg der Krankenhauseinweisungen, sagt Wenseleers. Zumindest für Länder mit großen Impfstoffvorräten. Eine aktuelle Studie der »Public Health England« ergab, dass Menschen, die bereits eine Impfdosis erhalten haben, 75 Prozent seltener ins Krankenhaus eingeliefert werden als ungeimpfte Personen. Bei Personen, die vollständig geschützt sind, reduziert sich die Wahrscheinlichkeit einer Krankenhauseinweisung sogar um 94 Prozent.
Die Impfraten in den USA schwanken stark
Auch in den Vereinigten Staaten verbreitet Delta sich rasch, insbesondere im Mittleren Westen und Südosten. Die US-Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention erklärten sie am 15. Juni 2021 zu einer Besorgnis erregenden Variante. Die dortige lückenhafte Überwachung sorgt allerdings dafür, dass das Bild weniger klar ist. Landesweite Stichproben, die das Unternehmen Helix aus San Mateo in Kalifornien durchgeführt hat, legen nahe, dass Delta stark zunimmt. Mit Hilfe eines Schnelltests zur Genotypisierung hat das Unternehmen herausgefunden, dass der Anteil der durch Alpha verursachten Fälle bis Mitte Juni auf etwa 42 Prozent abgesunken ist. Ende April waren es noch mehr als 70 Prozent. Für einen Großteil dieser Verschiebung ist demnach der Anstieg der Delta-Variante verantwortlich.
Jeremy Kamil ist Virologe an der Louisiana State University Health. Er geht davon aus, dass Delta in den USA irgendwann dominiert, »aber durch die Impfung etwas abgeschwächt wird«. Große Unterschiede in den Impfraten könnten allerdings zu regionalen und lokalen Schwankungen bei den durch Delta verursachten Fällen und Krankenhausaufenthalten führen, sagt Jennifer Surtees, Biochemikerin an der University at Buffalo in New York, die für die regionale Überwachung verantwortlich ist.
Rund 70 Prozent der berechtigten New Yorker hätten bereits mindestens eine Impfstoffdosis erhalten, merkt sie an. Dieser Meilenstein führte dazu, dass Mitte Juni 2021 die meisten Beschränkungen aufgehoben wurden. In manchen Teilen des Staates liegt die Impfrate allerdings noch unter 40 Prozent. Gemeinden mit einem hohen Anteil an Afroamerikanern und Hispanics, in denen die Raten eher niedrig sind, könnten von Delta besonders hart getroffen werden. »In diesen Populationen besteht eine große Gefahr für einen lokalen Ausbruch der Delta-Variante, darum ist es wirklich wichtig, das so genau wie möglich zu beobachten«, sagt Surtees.
Die Daten des Unternehmens Helix, das seit Anfang April 2021 fast 20 000 Proben sequenziert hat, deuten darauf hin, dass sich die Delta-Variante in US-amerikanischen Bezirken, in denen weniger als 30 Prozent der Einwohner vollständig geimpft sind, schneller ausbreitet als in Gegenden, die über diesem Schwellenwert liegen.
Delta breitet sich in Deutschland aus, die Fallzahlen sind aber gering
In Deutschland haben laut dem Robert Koch-Institut (RKI) rund 52 Prozent der Menschen mindestens eine Impfdosis gegen das Coronavirus erhalten (Stand 24.06.2021). Etwa jeder Dritte ist vollständig geimpft. »Mit Blick auf die Delta-Variante halten wir das Impftempo hoch«, twitterte Gesundheitsminister Jens Spahn.
Laut Zahlen des RKI ist der Anteil von Alpha von rund 90 auf 74 Prozent geschrumpft, während sich der Delta-Anteil die dritte Woche in Folge in etwa verdoppelt hat: von 4 auf 8 auf 15 Prozent. Dieses Tempo, das auch schon in anderen Ländern beobachtet wurde, hatten Fachleute befürchtet. Der Dortmunder Immunologe Carsten Watzl sieht keinen Grund zur Panik, hält Wachsamkeit aber für angebracht, wie er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur sagte.
»Noch sind wir in der Waage«, sagt Watzl. Die Inzidenz der letzten sieben Tage liegt derzeit deutschlandweit bei sieben Fällen pro 100 000 Einwohner (Stand 23.06.2021), ist also sehr niedrig. Watzl zufolge könnte das aber ein Kipppunkt sein. Bei weiteren Lockerungen etwa oder vielen Einschleppungen aus dem Ausland könne sich die Lage schnell wieder verschlechtern.
»Die Impfstoffe werden nicht rechtzeitig kommen«Tom Wenseleers, Evolutionsbiologe
Unklar ist auch, inwiefern Delta Plus die Verbreitung zusätzlich antreibt. Noch ist wenig über den Typ bekannt. Die Variante hat eine zusätzliche Spike-Mutation K417N. Diese kommt auch in den Beta- und Gamma-Varianten vor. Indien hat Delta Plus als »Besorgnis erregende Variante« eingestuft, weil sie sich schneller ausbreiten soll. Belastbare Daten fehlen bisher jedoch.
Delta ist ein Risiko für Afrika
Das größte Risiko stellt Delta laut Wissenschaftlern für Länder dar, die nur begrenzten Zugang zu Impfstoffen haben. In den meisten Ländern Afrikas ist bisher weniger als fünf Prozent Bevölkerung geimpft. »Die Impfstoffe werden nicht rechtzeitig kommen«, sagt Wenseleers. »Wenn eine solche Variante kommt, kann das verheerend sein.«
Die Überwachung von Virusvarianten ist in afrikanischen Ländern extrem begrenzt, doch es gibt Hinweise darauf, dass Delta dort bereits jetzt zu einem Anstieg der Fälle führt. Der Kongo meldete mehrere Sequenzen der Variante, ein Ausbruch in der Hauptstadt Kinshasa füllte die Krankenhäuser. Auch in Malawi, Uganda und Südafrika wurde die Variante bereits nachgewiesen.
Länder, die enge wirtschaftliche Beziehungen zu Indien pflegen, beispielsweise in Ostafrika, haben wahrscheinlich das höchste Risiko für einen Anstieg der Fälle durch die Delta-Variante, sagt Tulio de Oliveira. Er ist Bioinformatiker und Direktor der KwaZulu-Natal Research and Innovation Sequencing Platform im südafrikanischen Durban. In seinem Land trat die Delta-Variante bislang ausschließlich bei Schiffspersonal in Handelshäfen auf. In der allgemeinen Bevölkerung gibt es hingegen noch keine Anzeichen für eine Ausbreitung.
De Oliveira geht davon aus, dass das so bleiben wird. Südafrika befindet sich inmitten einer dritten Welle von Infektionen, verursacht durch die Beta-Variante (auch bekannt als B.1.351), die dort vergangenes Jahr identifiziert wurde. Zudem reisen kaum Menschen aus Ländern ein, die von Delta betroffen sind. Das sollte es der neuen Variante schwerer machen, sich durchzusetzen.
»Was uns am meisten besorgen würde, wären Varianten, die die Impfstoffe tatsächlich unwirksam machen«Mads Albertsen, Bioinformatiker
Ähnliche Faktoren könnten Delta in Brasilien in Schach halten. Das Land kämpfe derzeit mit einer Variante namens P.1 oder Gamma, die ebenfalls dem Immunsystem entkommen kann, sagt Gonzalo Bello, ein Virologe am Oswaldo Cruz Institut in Rio de Janeiro. Er ist Teil eines Teams, das die nationale Überwachung durchführt. Bislang hat Brasilien nur vier Fälle der Delta-Variante im Land festgestellt.
Während sich die Länder gegen die Delta-Variante wappnen oder hoffen, sie möge an ihnen vorbeigehen, sollten sie nach noch größeren Bedrohungen Ausschau halten, sagen Forscherinnen und Forscher. »Was uns am meisten besorgen würde, wären Varianten, die die Impfstoffe tatsächlich unwirksam machen«, sagt Albertsen.
Anm. d. Red.: Der Originalartikel wurde um Zahlen zu Deutschland und mit Informationen der dpa ergänzt.
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