Demografischer Wandel: Japan schrumpft und erfindet sich neu
»Das hier war das Lehrerzimmer«, sagt Masakuni Inoue, als er einen großen Raum mit knarzenden Dielen und Holzwänden betritt. Unter der Deckenleiste hängt ein Foto des Lehrerkollegiums aus dem Jahr 2000. Das Bild dürfte hier noch der neueste Gegenstand sein. Die Uhr an der Wand ist bei zehn vor acht stehengeblieben. Auf einer alten Theke, wo sich einst Arbeitshefte stapelten, steht eine Mikrowelle aus den 1970er Jahren. Masakuni Inoue sieht sich um und lacht auf: »Dass hier Schulnoten eingetragen wurden, ist schon etwas her.«
Genauer gesagt sind 16 Jahre vergangen, seit das letzte Mal ein Jahrgang die Grundschule Ashigakubo in der Kleinstadt Yokoze, eineinhalb Zugstunden nordwestlich von Tokio, besuchte. Im Jahr 2008 wurde sie nach gut 70 Jahren Betrieb geschlossen. »In der Nachbarschaft leben nur noch zehn Kinder. Dafür ließ sich die Schule nicht aufrechterhalten«, erklärt Inoue, der Vizebürgermeister von Yokoze ist. Die Entscheidung, Ashigakubo dichtzumachen, sei damals schwergefallen. »Aber es gab eben keine andere Wahl.« Und überhaupt: »So etwas erleben ja nicht nur wir.«
Die Kleinstadt Yokoze durchläuft eine für Japan typische Entwicklung: Sie schrumpft. 1995 wohnten hier gut 10 000 Menschen, heute sind es noch 7751. Der Bevölkerungsrückgang ist so rapide, dass Yokoze wie rund 900 weitere Städte und Dörfer im Land offiziell als »shoumetsu kanousei toshi« gilt – ein »vom Aussterben bedrohter Ort«. So definiert der Thinktank Japan Policy Council jene Ortschaften, in denen zwischen 2010 und 2040 die Zahl der Frauen im Alter von 20 bis 39 Jahren voraussichtlich um 50 Prozent oder mehr zurückgehen wird. Ohne Frauen im gebärfähigen Alter kommt kein Nachwuchs mehr.
Japans schwindende Bevölkerung
Während die Weltbevölkerung schier unaufhaltsam steigt, hat im ostasiatischen Land längst eine neue Phase der demografischen Entwicklung begonnen – die auch in anderen Ländern früher oder später anbrechen wird: Japans Einwohnerzahl erreichte im Jahr 2008 mit 128 Millionen Menschen ihren Höchststand. Seither ist sie um zwei Prozent auf nunmehr 125,4 Millionen Menschen gesunken. Aktuelle Hochrechnungen gehen davon aus, dass im Jahr 2070 noch 87 Millionen in Japan leben werden. Zuletzt nahm die Bevölkerung allein in einem Jahr um eine halbe Million ab.
Die Ursache ist ein Zusammenspiel von Entwicklungen, die sich auch in anderen wohlhabenden Ländern inklusive Deutschland bereits andeuten. Der Babyboom in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – für Japan zwischen 1947 und 1949 – führte mit sehr hohen Geburtenraten von über vier Kindern pro Frau zu einem rapiden Bevölkerungsanstieg. Doch das schnelle Abflauen des Babybooms, gemeinsam mit einer steigenden Lebenserwartung, läutete die Ära der alternden Bevölkerung ein.
In Japan ist der demografische Wandel bereits einen Schritt weiter als anderswo, auch weil in dem Land die Entwicklung früher einsetzte: Auf Grund gestiegener Kosten für die Lebenshaltung und Kindererziehung sowie einer höheren Erwerbsbeteiligung der Frauen sank Japans Geburtenrate bereits Ende der 1970er Jahre unter den Reproduktionswert von 2,1, also jenen Wert, der nötig wäre, um die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Zaghafte Versuche der Regierung, mit finanzieller Unterstützung Paare zum Kinderkriegen zu bewegen, erzielten kaum Wirkung. Zudem zögert Japan noch, mehr Immigration zuzulassen. Derweil schrumpft die Bevölkerung – und das betrifft besonders die kleinen Orte.
Eine Trendumkehr ist nicht zu erwarten
So wie das bergige Waldstädtchen Yokoze, wo die Menschen all diese Trends genau kennen. »2010 hatten wir 867 jüngere Frauen im Ort«, berichtet der Vizebürgermeister Inoue, als er durch die alte Schule schlendert. »2040 werden es nach der aktuellen Prognose noch 419 sein.« Vor einer Simulation, wann Yokoze komplett aus den Bevölkerungsstatistiken verschwinden könnte, hütet man sich. Aber angesichts der in Japan nunmehr seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenrate sei man sich einig, sagt Inoue: »Wir werden den Trend nicht umkehren. Yokoze wird kleiner. Schritt für Schritt.«
Doch aufgegeben hat sich der Ort keineswegs. »Wir sehen uns hier als Zukunftslabor«, erklärt Inoue. Denn die Herausforderungen, denen sich eine kleiner werdende Stadt stellen muss, kommen auch auf Städte und Dörfer in Deutschland zu, auf andere europäische Länder und sogar das mittlerweile schrumpfende China: Was tun mit der Infrastruktur, wenn immer weniger Menschen sie nutzen und brauchen? Wie lässt sich sicherstellen, dass ein Ort weiterlebt, wenn zugleich die Einnahmen aus der Gewerbesteuer einbrechen? Kann man positiv schrumpfen?
»Ein paar Lösungen haben wir schon gefunden«, ist Masakuni Inoue überzeugt und führt stolz durch die zweistöckige Grundschule, die keine mehr ist. »Wir versuchen, alles in diesem Ort, was in seiner Ursprungsform nicht mehr gebraucht wird, auf neue Art zu nutzen.« Inoue deutet in ein mit Tatami-Matten ausgelegtes Zimmer, in dem früher Hauswirtschaftsunterricht stattgefunden hat. »Hier organisieren wir seit einigen Jahren jeden Monat Veranstaltungen zur traditionellen Teezeremonie.« Dafür sei der Raum sehr gut geeignet, findet der Vizebürgermeister, »weil er damals optisch sehr harmonisch konzipiert wurde«.
Die Cosplayer kommen in Scharen nach Yokoze
Als Inoue im nächsten Zimmer das Licht anknipst, erscheinen unter grellen Leuchten dunkle Holzschränke, alte Schultische und bemalte Schiefertafeln an den Wänden. »Diesen Raum vermieten wir regelmäßig an Cosplayer.« Ein jüngerer Mitarbeiter im Rathaus sei auf die Idee gekommen. Denn die japanische Subkultur, in der sich Fans von Anime und Manga als Helden aus virtuellen Welten verkleiden, um sich dann in möglichst originalgetreuer Pose zu fotografieren, sucht nach historischen Orten wie diesen. Die kommen nämlich häufig in den Mangageschichten vor.
»Ich hätte nie gedacht, dass das so gut funktioniert«, sagt Inoue, der 2017 die Metropole Kobe verließ, um seinen Job bei einer Bank aufzugeben und eine Überlebensstrategie für das schrumpfende Yokoze zu entwickeln. Die alte Schule an die Cosplayergemeinde zu vermieten, hält er für einen der größten Erfolge seit seinem Amtsantritt. »Die Leute kommen in großen Gruppen mit ihren Kostümen aus Tokio angereist und verbringen hier den ganzen Tag, um sich für 45 000 Yen Nutzungsgebühr (Anmerkung der Redaktion: umgerechnet 290 Euro pro 20 Personen) in dieser alten Schule abzulichten.«
Dank der Cosplayer erwirtschaftet die Stadt ein kleines finanzielles Plus, hat sich aber vor allem einen guten Namen gemacht – als ein Ort für kreative Lösungen. Hiroyuki Matsumoto vom privaten Wirtschaftsforschungsinstitut Bugin sieht Yokoze insofern als Vorbild für andere Orte, die ein ähnliches Schicksal erfahren: »Die Umnutzung unbrauchbar gewordener Infrastruktur ist hier zum Grundprinzip geworden.« In einer Analyse aus dem Jahr 2019 betont Matsumoto außerdem: »Damit ist der Ort [in Japan] berühmt geworden.«
Eine Stadt stemmt sich gegen das Aussterben
Tatsächlich gibt es in Yokoze mehrere Beispiele für die Umnutzung alter Infrastruktur. Zehn Autominuten von der ehemaligen Grundschule Ashigakubo entfernt befindet sich eine Bank, die allerdings keine mehr ist. Die Filiale wurde im vergangenen Jahrzehnt geschlossen – wie so vieles hier wegen Personenmangels. »Wir führen darin jetzt das ›Yokolabo‹«, erklärt ein Stadtmitarbeiter an der Rezeption. Yokolabo bedeutet abgekürzt »Yokoze-Labor«. Es ist der neue Begegnungsort der Stadt.
»So einen Ort gab es hier früher nicht. Dass nun neue Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, ist also auch eine Chance«, sagt Masakuni Inoue. Die alte Bankfiliale gehöre jetzt allen, Bewohnern wie Besuchern. Hinter einer Trennwand sind Schreibtische für einen Coworkingspace aufgebaut. Der Tresor, in dem früher Bargeld verwahrt wurde, dient als Kabine für Telefonkonferenzen. Die Wand zur alten Mitarbeiterküche wurde eingerissen, damit jeder die Küche ungehindert nutzen kann. Ein älterer Mann kocht Reis. Eine junge Frau, die von ihrem Laptop aufgestanden ist, macht sich einen Tee.
Wer genau hinsieht, erkennt schnell, dass das Gebäude ehemals eine Bank war. Von der Decke leuchten Neonröhren herab, der Boden ist aus Linoleum. Ein grüngraues Kunststoffregal, in dem einst wohl Prospekte und Bankformulare ausgelegt waren, trennt den Raum. »Für neue Möbel hätte unsere Gemeinde kein Geld gehabt«, flüstert Inoue. »Wir haben ja kaum noch Betriebe, die dem Ort Steuereinnahmen bescheren.« Einst war das Geschäft mit Holz und Zement eine gute Einkommensquelle Yokozes. Aber die üppigen Zeiten sind vorbei. Das Mobiliar im Yokolabo kommt von Entrümpelungen und Spenden.
Das wenige Geld, das die Gemeinde zur Verfügung hat, steckte sie in die Renovierung des Bankgebäudes. Zudem erwarb sie einen Sägeroboter, um kleinere Betriebe für das Geschäft mit hiesigem Holz zu locken. Das Projekt zeigte Erfolg: In der Werkstatt und im Coworkingspace haben in den vergangenen sieben Jahren 234 Unternehmerinnen und Unternehmer 141 Projekte auf die Beine gestellt. Sie kommen oft für einige Wochen nach Yokoze und übernachten in einer Herberge neben der ehemaligen Bank.
Japanweit gilt Yokoze als Paradebeispiel für den Umgang mit dem Schrumpfen. Aber auch anderswo in dem ostasiatischen Land ist die Infrastruktur allmählich leer stehender Ortschaften nicht am Verfallen. Im praktisch ausgestorbenen Nagoro etwa hat zwar die Natur die brachliegenden Bushaltestellen und Schulen wieder zurückerobert. Doch vor Jahren begann eine der letzten Bewohnerinnen, die verlassenen Häuser mit großen selbst gestrickten Stoffpuppen zu bestücken. Nagoro wurde zu einer Touristenattraktion.
In anderen Kleinstädten dienen leere Schulen oder Lagerhallen als Evakuierungsorte im Fall einer Naturkatastrophe. Darin sieht Max Hirsh, Infrastrukturexperte an der Airport City Academy und zurzeit Gastwissenschaftler an der University of Colorado Boulder, eine Vorbildfunktion Japans für viele Länder. »Einmal errichtete Strukturen zu bewahren, wird eine große Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Da wird die Welt nach Japan blicken, um zu sehen, wie es geht.« Mehrere Blicke könnten sich dann auch nach Yokoze richten. Denn ausgestorben ist dieser Ort noch lange nicht.
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