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Demoskopie: Die Zukunft der Wahlprognosen

Trump, Brexit, AfD: Die Vorhersagen zum Ausgang von Wahlen lagen in den letzten Jahren immer wieder daneben. Wenn 2024 unter anderem deutsche Landtage, das Europäische Parlament und der nächste Präsident der USA bestimmt werden, rückt die Demoskopie erneut in den Fokus. Ein neuer Ansatz soll bessere Prognosen bringen.
Mehrere Hände mit Wahlzetteln an einer Urne
Wie eine Wahl genau ausgehen wird, lässt sich nur schwer vorhersagen. Doch die Prognosen lassen sich verbessern.

Wer 1936 eine Prognose zur US-Wahl suchte, las das »Literary Digest«. Ganze fünfmal hatte das Wochenmagazin seit 1916 den Sieger der Präsidentschaftswahlen vorhergesagt. Diesmal sollte es erneut so kommen. Quer durch das Land hatte die Redaktion Probestimmzettel verschicken und aus dem Telefonbuch zufällig ausgewählte Personen zu ihren Wahlabsichten befragen lassen. Auf Basis von 2,4 Millionen Stimmen lautete die Vorhersage des renommierten Magazins: Sieg für den Republikaner Alf Landon.

Doch am Wahltag kam es anders. Der Demokrat Franklin D. Roosevelt vereinte 61 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich und blieb mit dem von ihm initiierten »New Deal« Präsident der USA. Was für das »Literary Digest« noch blamabler war: Ein junger Mann namens George Gallup hatte das genauso kommen sehen, und zwar anhand einer viel kleineren Stichprobe von rund 50 000 Personen. Für seine Prognose hatte Gallup statt einer sehr großen Zahl auf ein hohes Maß an Repräsentativität der Befragten gesetzt.

Die US-Wahl von 1936 sorgte damit nicht nur in der Politik für eine Überraschung, sondern auch in der Demoskopie. Das »Literary Digest« verlor durch die methodischen Fehler das Vertrauen seiner Leserschaft: Indem es maßgeblich auf Telefonbefragungen gesetzt hatte, hatte es 1936 eher wohlhabende Menschen erreicht – die überproportional republikanisch wählten. Die Erhebung war dadurch stark verzerrt. George Gallup dagegen hatte die Methode der Stichprobenbefragung hervorgebracht und gründete bald mit der »Gallup Organization« eines der bis heute führenden Meinungsforschungsinstitute der Welt.

Knapp 90 Jahre später könnte sich die Demoskopie in einer ähnlichen Situation befinden. Wird es den Umfrageinstituten im Jahr 2024 gelingen, den Sieger der US-Wahl korrekt vorherzusagen? Werden sie es kommen sehen, wie viele Stimmen die AfD in den deutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg wirklich erhält? Oder wer bei den EU-Parlamentswahlen in welchen europäischen Staaten besser und schlechter abschneidet?

In den vergangenen Jahren lagen die Demoskopen ziemlich oft erstaunlich weit daneben. Bei der US-Wahl 2016 hatten die meisten Institute die Demokratin Hillary Clinton vorne gesehen, aber letztlich gewann der populistische Republikaner Donald Trump. Im selben Jahr stimmte in Großbritannien eine knappe Mehrheit für den Ausstieg aus der EU, was als ähnlich große Überraschung galt. Und in Deutschland haben die Erfolge der AfD bei fast jeder Wahl die Experten überrumpelt.

»Traditionelle Umfragen sind tot«, schrieb das US-amerikanische Politikmagazin »The Hill« schon 2016 nach dem Wahlsieg von Donald Trump. Ähnliche Ansagen hat es in anderen Ländern gegeben. Elisabeth Noelle, Gründerin des deutschen Instituts für Demoskopie Allensbach, klagte schon in den Nullerjahren, die von ihr mitgeprägte Disziplin stecke in einer Krise.

Drei Gründe für das Versagen von Umfragen

Was ist los mit der Demoskopie? Machen die Meinungsforschungsinstitute gerade ähnliche Fehler wie das »Literary Digest« im Jahr 1936? In Analysen zu dieser Frage werden einige Gründe besonders oft genannt: In Zeiten gestiegenen Misstrauens gegenüber Regierungen übten verschiedenartigste Meinungsmacher auf dynamische Weise Einfluss auf das öffentliche Stimmungsbild aus. Dies führe zu weniger vorhersehbaren Wahlergebnissen.

Hinzu komme eine neue Version des alten Problems bei »Literary Digest«: In der Ära von Smartphones sei es kaum mehr möglich, repräsentative Stichproben per Telefonbuch zu finden – jüngere Menschen sind darin nur selten verzeichnet. Und selbst wenn sie so zu finden wären, würden viele von ihnen die Anrufe nicht beantworten, da heute die Nummer, die sie kontaktiert, als unbekannt erkennbar ist.

»Wenn wir die Menschen auf andere Weise als bisher befragen, werden die Prognosen deutlich besser«Wändi Bruine de Bruin, Psychologin

Eine weitere Komplikation: Die Mobilität der Menschen hat zugenommen. Und wer viel unterwegs ist, wird durch Umfragen meist weniger erreicht. Ebenso sei es schwierig, Personen zu befragen, die krank sind. In einer alternden Bevölkerung nimmt der Anteil solcher Leute aber zu. Gründlicher bei den Befragungen vorzugehen sei wiederum ebenfalls schwierig. Den Instituten mangele es dafür an Zeit, Eile besteht immer – gerade im Vorfeld einer Wahl werden Befragungen unter zeitlichen und finanziellen Beschränkungen oft binnen weniger Tage durchgeführt.

Eine neue Art der Befragung

Doch in der Meinungsforschung ist eine wachsende Zahl an Fachleuten davon überzeugt, dass es Lösungen gibt. »Wenn wir die Menschen auf andere Weise als bisher befragen, werden die Prognosen deutlich besser«, erwartet Wändi Bruine de Bruin. Die Niederländerin ist Professorin für Politik, Psychologie und Verhaltenswissenschaft an der US-amerikanischen University of Southern California und hat eine Methode mitentwickelt, welche die Demoskopie deutlich flexibler und genauer machen könnte.

»Anstatt individuelle Wahlabsichten abzufragen, können wir auch um eine Einschätzung bitten, wie der Bekanntenkreis der befragten Person wohl wählen wird«, erläutert Bruine de Bruin. Dieser Ansatz – genannt Social Sensing – stammt maßgeblich von der Psychologin Mirta Galesic vom US-amerikanischen Sante Fe Institute und fußt auf der Erkenntnis, dass Menschen meist ziemlich gut einschätzen können, wie die Personen in ihrem Umfeld denken und sich verhalten. Bruine de Bruin begann Mitte des vergangenen Jahrzehnts, die Methode in der Wahlforschung zu erproben.

Die Ergebnisse wurden mittlerweile in Artikeln des Forschungsmagazins »Nature« veröffentlicht sowie in mehreren weiteren akademischen Journalen. Was das Forschungsteam um Bruine de Bruin berichtet, ist erstaunlich. So heißt es in einem Paper von 2018 im Journal »Nature Human Behaviour«: »Wir weisen nach, dass im Vergleich mit Fragen zur individuellen Absicht solche Fragen, die auf die Wahlabsicht des Bekanntenkreises abzielen, die Prognosen für die US-Wahl 2016 und die französische Präsidentschaftswahl 2017 verbessern.«

Korrekte Vorhersagen

Das Modell von Bruine de Bruins Team hatte den Wahlsieg von Donald Trump im Jahr 2016 korrekt vorhergesagt – anders als die meisten etablierten Meinungsforschungsinstitute. Damals hatte Bruine de Bruin im Zuge der Panelstudie »Understanding America Study«, die regelmäßig 14 000 Haushalte zu verschiedenen Themen befragt, um die Zugabe einer neuen Frage gebeten. Ins Deutsche übersetzt lautet sie in etwa: »Von all Ihren sozialen Kontakten, die vermutlich wählen werden, was glauben Sie, wie viel Prozent für Partei 1, Partei 2, … stimmen werden?« Es war ein kleiner, aber entscheidender Unterschied zur herkömmlichen Frage: »Sofern Sie wählen werden, für welche dieser Parteien beabsichtigen Sie zu stimmen?« Über mehrere Wahlen hinweg zeigte sich, dass die Prognose näher an den tatsächlichen Ergebnissen lag, wenn nicht die eigene Wahlabsicht, sondern die Einschätzung über den Bekanntenkreis abgefragt wurde.

Wändi Bruine de Bruin nennt hierfür drei Gründe. »Erstens wird durch die Frage nach dem sozialen Umfeld implizit die Population der Befragten vergrößert.« Denn man erhält nicht nur Informationen über eine einzige Person, sondern über eine viel größere Anzahl an Menschen. Als zweiter Grund für den Erfolg dieser Methode gilt, dass die Scham, eine kontroverse Entscheidung anzugeben, nicht so ausgeprägt ist, wenn es nicht um die eigenen Wahlabsichten geht.

»Drittens haben wir herausgefunden, dass die Trends im Bekanntenkreis auch eine gute Vorhersagekraft auf das Wahlverhalten der befragten Personen haben – vielleicht sogar, bevor sie dies selbst entscheiden oder in einer Befragung zugeben«, erklärt Bruine de Bruin. So lassen sich selbst politische Stimmungsschwankungen, die kurz vor einer Wahl oft zu beobachten sind, besser abbilden.

Umfragen sind teuer

In anderen Disziplinen ist der Ansatz des Social Sensing längst etabliert. So ist es in der Gesundheitswissenschaft üblich, auf diese Weise zu erfahren, wie der Lebensstil einer Person ist oder ob sie eine Neigung hat, sich impfen zu lassen oder nicht.

Setzt sich diese Methode allmählich zudem in der Demoskopie durch? Wändi Bruine de Bruin schüttelt den Kopf. »Bisher ist sie nicht der Standard. Es ist wohl sehr schwierig zu verändern, was man immer schon gemacht hat«, erwartet die Psychologin. Denn wenn eine Frage, die in bisherigen Umfragen vorkam, auch nur leicht verändert wird, büßen die Ergebnisse stark an Vergleichbarkeit mit vorigen Fragerunden ein. Ebenso ist es nicht immer einfach, eine weitere Frage hinzuzufügen.

»Um Kosten zu sparen, versucht man im Allgemeinen, Umfragen so kurz wie möglich zu halten«Wändi Bruine de Bruin, Psychologin

»Hier geht es oft um finanzielle Grenzen«, sagt Bruine de Bruin. »Große Umfragen sind teuer.« Die »Understanding America Study«, die im vergangenen Jahrzehnt die Wahlbefragung mittels Social Sensing in ihr Programm aufnahm, bietet auf ihrer Website einen Preisrechner an: Eine je einminütige Umfrage bei 10 000 Personen kostet demnach 27 250 US-Dollar (rund 25 000 Euro). Eine zweiminütige Umfrage ist etwa doppelt so teuer. »Um Kosten zu sparen, versucht man im Allgemeinen, Umfragen so kurz wie möglich zu halten«, ergänzt Bruine de Bruin. Das führt zur Tendenz, Umfragebögen einfach so zu lassen, wie sie bisher waren.

Frauke Kreuter, Professorin für Statistik und Datenwissenschaft in den Sozialwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München, die auch zum Forschungsteam um Bruine de Bruin gehört, hat dies für Deutschland bestätigt. Vor der Bundestagswahl 2021 sagte Kreuter gegenüber dem Deutschlandfunk auf die Frage, ob Social Sensing nun in Deutschland eingesetzt werde, um akkurate Wahlprognosen zu liefern: »Im großen Stil habe ich es bisher nicht gesehen.« Das in Deutschland führende Institut für Demoskopie Allensbach hat auf eine Anfrage zu diesem Thema nicht reagiert.

Dabei funktioniert die Befragung per Social Sensing auch in Mehrparteiensystemen – also einem wie dem deutschen. »Nachdem wir unsere Analysen zu den USA und Frankreich veröffentlicht hatten, erhielten wir aus unserem akademischen Umfeld häufig die Kritik, dass diese Methode vielleicht in einem System mit nur zwei Parteien funktionieren würde, aber kaum in einem, wo die Menschen mehrere Parteien zur Auswahl haben«, erinnert sich Bruine de Bruin. »Aber diese Zweifel sind jetzt ausgeräumt.«

So hat das Team auch bei den Wahlen in den Niederlanden 2017 sowie in Schweden 2018 – jeweils Mehrparteiensysteme – akkuratere Prognosen geliefert als jene Umfragen, die nach individueller Wahlabsicht gefragt hatten. »Es könnte theoretisch sein, dass diese Methode nicht in jedem politischen und kulturellen Umfeld gleich gut funktioniert«, räumt Bruine de Bruin ein. »Aber bis jetzt haben wir keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie keine guten Ergebnisse liefert.«

So muss man bis auf Weiteres wohl darauf gefasst sein, dass Wahlprognosen etwas danebenliegen. Sofern Donald Trump vor dem Wahltag im Herbst einmal mehr als klarer Verlierer ausgerufen wird, sind Zweifel angebracht. Zumal der Mann nach seiner Präsidentschaft voller Skandale heute wohl noch kontroverser ist als im Jahr 2016 – womit die herkömmliche Befragungsmethode umso deutlicher danebenliegen könnte.

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