Ernährung: Wie können wir achtsamer essen?
Christophe André, warum ist das Essen für viele von uns zu einem Problem geworden?
Darauf würde ich gern mit einer Frage antworten: Wann waren Sie das letzte Mal richtig hungrig? Bei mir ist das schon ziemlich lange her. Wir merken gar nicht, dass wir echte Hungergefühle nicht mehr kennen und somit auch nicht das Gefühl, satt zu sein. Ich will gewiss nicht zurück in jene Zeiten, in denen die Menschen Hunger litten. Es geht einfach nur darum, wieder ein Gespür für das Sattsein zu bekommen. Denn Sättigung ist ein Signal des Körpers, das uns meldet, dass wir genug gegessen haben. Wenn wir dieses Signal nicht wahrnehmen, suchen wir ständig nach Informationen über richtiges Essen. Unsere Gesellschaft hat den Hunger verbannt und richtet sich stattdessen nach Ernährungsratgebern.
Was genau stört denn die Körpersignale dabei, uns zu melden, was wir essen sollen?
Permanent und überall bekommen wir Essen in Hülle und Fülle präsentiert. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatten so viele Menschen einen so breiten Zugang zu Nahrung. Die westliche Gesellschaft hat in dieser Hinsicht eine Art von Wahnsinn erreicht, sowohl, was die Menge angeht, als auch, weil wir jederzeit und überall dazu verführt werden, etwas zu essen. Ein Beispiel: Wir glauben, dass unsere Kinder mehrmals am Tag in ein Hungertief kommen und es deshalb absolut notwendig ist, ihnen einen Energieriegel in die Tasche zu stecken. Der bringt aber den Blutzuckerspiegel durcheinander und führt letztlich zu dem, was wir befürchtet haben. Wenn man am Morgen gut gegessen hat, dann sackt der Blutzuckerspiegel gar nicht erst ab. Diese Deregulierung liegt aber auch an der Qualität der Lebensmittel: Geschmacksverstärkern, zu viel Salz, zu viel Zucker. Wir können unseren Instinkten nicht mehr vertrauen, weil sie nicht mehr funktionieren.
Wie bekommen wir das Gefühl der Sättigung wieder?
Da unsere Instinkte größtenteils gestört sind, brauchen wir dazu die bewusste Wahrnehmung. Mit etwas Zeit und Disziplin kann sie uns zu verstehen helfen, was uns zum Essen verführt. Nehmen wir zunächst die schon genannten Einflüsse. Wenn wir uns klarmachen, dass die zunehmend größeren Portionen uns ermutigen, mehr zu essen, obwohl wir es gar nicht müssten, können wir uns auch für kleinere Portionen entscheiden. Wie kanadische Forscher 2013 herausgefunden haben, können wir beim bloßen Anblick von Fastfood die Aromen im Essen nicht mehr so gut wahrnehmen, und deshalb neigen wir dazu, Qualität durch Quantität zu kompensieren. Das alles sollte heute Teil der Erziehung für eine gute Ernährung sein.
»Wir essen oft nicht, um uns zu ernähren, sondern aus emotionalen oder persönlichen Gründen, aus Langeweile oder Überdruss«
Welche Rolle spielen unsere Emotionen bei der Ernährung?
Ihre Rolle ist ebenso groß wie die der äußeren Einflüsse. Insbesondere essen wir oft nicht, um uns zu ernähren, sondern aus emotionalen oder persönlichen Gründen. Am häufigsten aus Langeweile oder Überdruss: Die Lust auf Essen packt uns, wenn wir schlecht drauf sind oder keine Lust mehr haben zu arbeiten, wenn wir uns ablenken oder uns etwas Gutes tun wollen. Es geht nicht um Hunger oder um ein echtes Bedürfnis, sondern darum, mit dem Essen die Gefühlslage zu regulieren, ganz besonders in Stresssituationen. Viele Patienten kommen zu uns und sagen, dass das Essen sie beruhigt. Die Ursachen von Stress liegen heute oft im zunehmenden Zeitdruck bei der Arbeit. Die Geschwindigkeit stört wiederum beim Wahrnehmen der Sättigung, denn es braucht eine gewisse Zeit, bis sich das Gefühl entwickelt.
Wie kann man die Verbindung zwischen Stress und Essen lösen?
Indem man sich ihrer bewusst wird. Die Patienten, die diesem Automatismus unterliegen, beschreiben immer die gleiche Abfolge von Emotionen und Handlungen: ein inneres Unbehagen, gefolgt von dem Impuls, etwas zu essen oder zu trinken. Für die Stresssituation gibt es eine fertige Lösung. So entsteht ein Gefühl von Kontrolle, das die Hilflosigkeit lindert. Die Herausforderung für einen Patienten besteht also darin, sich diesen Mechanismus bewusst zu machen. Dann kann er mit Hilfe des Therapeuten herausfinden, wie er die automatische Reaktion in den Augenblicken innerer Not am besten unterbricht.
Wie genau gelingt das?
Manchmal genügen schon einfache Maßnahmen: atmen, innehalten, sich fragen, was passiert ist, worauf man gerade Lust hat und ob das die Probleme lösen wird. Das Bewusstwerden ist der erste Schritt zur Lösung: Jedes Mal, wenn die Person den automatischen Ablauf mit ein wenig Bewusstsein unterbricht, verschiebt sich die Umsetzung des Impulses und behindert nach und nach die Automatismen. Ein Bewusstsein für die eigenen Emotionen und Empfindungen kann man durch Achtsamkeitsmeditation entwickeln, eventuell auch verbunden mit einem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansatz, um unangemessene Gedanken oder Handlungen durch neue, konstruktivere zu ersetzen.
Wie würde »bewusstes Essen« denn genau aussehen?
Ein gutes Beispiel ist die »Rosinenübung«. In einer Gruppe von Teilnehmern reicht der Therapeut einen Beutel Rosinen herum und bittet, eine herauszunehmen – aber ohne sie zu essen. Es geht also erst einmal darum, nicht der Versuchung zu erliegen, sie in den Mund zu stecken. Dann bekommen die Teilnehmer eine Reihe von Anweisungen: »Schauen Sie sich die Rosine an. Riechen Sie an ihr. Legen Sie sie in den Mund. Gehen Sie mit der Zunge an die Rosine, versuchen Sie den Geschmack wahrzunehmen. Beißen Sie hinein, aber ohne zu kauen oder zu schlucken, und schmecken Sie den Geschmack. Dann beißen Sie ein zweites Mal hinein, kauen Sie, schlucken Sie sie herunter. Welches Gefühl hat die Rosine in Ihrem Mund hinterlassen?« Alles, was die Patienten beim Essen eines winzigen Stücks Nahrung empfinden, erleben sie um ein Vielfaches bewusster, als wenn sie eine ganze Hand voll Rosinen achtlos verschlingen. Indem sie den Akt des Essens verlangsamen und ihre Aufmerksamkeit bewusst darauf richten, entdecken sie eine Reichhaltigkeit, für die sie zuvor blind waren.
»Die Lust auf Essen packt uns, wenn wir schlecht drauf sind oder keine Lust mehr haben zu arbeiten, wenn wir uns ablenken oder uns etwas Gutes tun wollen«
Was hindert uns normalerweise daran?
Vor allem Zeitmangel. Aber auch die Bedeutung, die wir dem materiellen Aspekt unseres Handelns, unserem Gewinn beimessen. Psychologen erkennen langsam den Einfluss von Materialismus auf die Ernährung. Wenn sie Versuchspersonen bitten, über Geld nachzudenken, nehmen diese sich daraufhin weniger Zeit, Pralinen zu verkosten und zu genießen. Der Gedanke an Geld lässt uns hastiger essen. Der sicherlich nicht unwichtigste Schluss daraus: Gut essen setzt voraus, gut zu leben und die eigenen Prioritäten richtig zu setzen.
Können wir überhaupt jeden Tag mit vollem Bewusstsein essen?
Natürlich machen es die Zwänge im Berufs- und Familienleben schwer, Mahlzeiten derart langsam einzunehmen. Eine gute Lösung wäre aber, es von Zeit zu Zeit zu tun. Beispielsweise beginnen unsere Patienten mit einem achtwöchigen Programm, und danach sollen sie einmal pro Woche eine Mahlzeit bewusst und achtsam zu sich nehmen, ohne dabei zu lesen oder zu telefonieren; nur das Essen betrachten, es riechen, seinen Geschmack und seine Textur wahrnehmen und sich dabei fragen, ob sie nur essen, um ihren Teller leer zu essen oder weil sie nicht wissen, was sie gerade sonst tun sollen. Das Ziel für den Patienten ist zu erspüren, wie satt er ist und wann der richtige Moment ist, mit dem Essen aufzuhören. Wie mehrere Studien gezeigt haben, sind Meditierende darin besser als andere Menschen. Wahrscheinlich hilft die Achtsamkeitsmeditation deshalb im Kampf gegen Fettleibigkeit. Indem wir unser Körperbewusstsein schärfen, befreien wir uns aus dem Diktat unserer Stimmungen und der andauernden verführerischen Gelegenheiten.
Halten die ersten Erfolge der Therapie danach weiter an?
Während der ersten Achtsamkeitssitzungen erfordert diese neue Art des Essens Konzentration und Selbstkontrolle. Aber nach und nach wird es ganz natürlich. Wir holen Feedback von Patienten ein, die zweimal im Monat zu einem Nachgespräch zurückkommen. Bei einigen von ihnen – etwa einem Drittel – hat sich das Verhältnis zur Nahrung grundlegend verändert, ohne dass sie sich dazu zwingen mussten. Während eines Familienessens oder Geschäftsessens, wenn sich Gang an Gang reiht und alle kräftig zugreifen, haben sie gelegentlich das Bedürfnis aufzuhören und zu spüren, was in ihnen vor sich geht. Sie stellen auch fest, dass unter Stress oder Müdigkeit der alte Mechanismus wieder auftaucht und impulsives Essverhalten auslöst. Dann wird es Zeit, sich wieder bewusst zu machen, dass das Essen eine Reaktion auf innere Anspannung ist.
»2013 zeigte eine britische Untersuchung, dass wir 25 Prozent mehr Nahrung zu uns nehmen, wenn wir vor dem Fernseher essen«
Viele von uns essen manchmal vor dem Fernseher. Was hat diese Angewohnheit für Konsequenzen?
Die Bilder fesseln unsere Aufmerksamkeit, und so kann sie sich nicht mehr auf den Akt des Essens richten. Sie meinen vielleicht, dass Sie auf beides achten, aber das stimmt nicht: Wir können uns nicht auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren. Das ist besonders beunruhigend, da wir laut einer Studie in Frankreich im Schnitt 20 Prozent der Zeit beim Essen vor dem Fernseher verbringen. Während dieser Zeit sind wir relativ abwesend; was in unseren Magen gelangt, nehmen wir kaum bewusst wahr. Das Ergebnis ist sehr deutlich: 2013 zeigte eine britische Untersuchung, dass wir 25 Prozent mehr Nahrung zu uns nehmen, wenn wir vor dem Fernseher essen. Das Fernsehen ist aber nicht die einzige Ablenkung. Der gleiche Effekt tritt auf, wenn wir in der Mittagspause vor unserem Smartphone essen, was viele Angestellte heute so machen. Meistens geht es darum, sich durch das Essen abzulenken. Bewusstsein kann sich dabei kaum entwickeln.
Warum ist es so schwierig, sich voll und ganz auf das zu konzentrieren, was man tut?
Das betrifft nicht nur unser Verhältnis zum Essen. Kürzlich berichteten mir Eltern: Wenn sie ihren Kindern zum Einschlafen Geschichten vorlesen, könnten sie das Ende kaum abwarten. Sie waren gedanklich damit beschäftigt, was sie noch tun wollten, sei es fernsehen oder auf einen Newsticker gucken. Oder die Sonntagsspaziergänger, die man manchmal mit ihren Mobiltelefonen im Wald herumlaufen sieht: Sie sind umgeben von ihren Lieben, aber sie sind nicht wirklich da. Sie scheinen wie von einem unsichtbaren Faden abgelenkt, der sie mit etwas anderem oder einem anderen Ort verbindet, und ohne ihre Sinne auf das zu lenken, was hier und jetzt geschieht. Vieles von dem, was wir tun, leidet unter der Geschwindigkeit, unter ständiger Beschleunigung und Effizienzstreben. Vor 20 Jahren erfand ein Journalist einen Begriff für die ständige Überflutung mit Informationen. Er nannte es »Infobesity«.
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