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Rätselhafter Knochenfund: Denisovaner im Nebel

Ein altes Schädeldach aus der Mongolei erinnerte an einen archaischen Verwandten, doch diese Spur führte in die Irre. Nun gibt der Knochen sein genetisches Geheimnis preis.
Das 34 000 Jahre alte Schädeldach eine Frau aus dem Salkhit-Tal in der Mongolei

Edles Metall war es nicht gerade, was die Arbeiter einer Goldmine im Jahr 2006 in der Nähe der Siedlung Salkhit im Nordosten der Mongolei fanden. Doch sie ahnten vielleicht schon, dass das Schädeldach, das sie aus fünf Meter Tiefe ans Tageslicht förderten, ungemein wertvoll sein würde: Mit seinen mächtigen Wülsten über den Augen sah es nach einem uralten Fund aus. Gehörte es einem Neandertaler? Oder sogar dem noch viel älteren Homo erectus? Experten brachten sogar eine neue, bislang unbekannte Art ins Spiel, den Mongolanthropus.

Wer war es wirklich? Eine Antwort hätten zum Beispiel Steinwerkzeuge geben können, die man mit bekannten Funden hätte vergleichen können. Aber die hinzugerufenen Archäologen fanden keine. Und so blieb der »Salkhit-Mensch« ein Rätsel.

Eine neue heiße Spur in dem Fall gab es erst wieder, als Johannes Krause und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig im Jahr 2010 eine bahnbrechende Entdeckung machten. Aus dem Erbgut eines Fingerknöchelchens, das russische Forscher im Altai-Gebirge im Süden Sibiriens und gar nicht so weit von Salkhit entdeckt hatten, hatten sie uraltes Erbgut entnommen und auf die Existenz einer bis dahin völlig unbekannten Menschenlinie geschlossen. Diese Denisovaner, so zeigte sich anhand der DNA, waren anscheinend enger mit den Neandertalern verwandt als mit den modernen Menschen.

Doch das war im Grunde auch das Einzige, was man über sie wusste. Benannt wurden sie nach ihrem Fundort, der Denisova-Höhle. Außer dem Erbgut, das man dort fand, und einigen Knöchelchen und Zähnen hatte man praktisch nichts, was mehr über sie verraten hätte – etwa wie sie aussahen oder wo sie lebten. Bald aber keimte ein Verdacht auf: War vielleicht der Mensch von Salkhit einer dieser Denisovaner?

Erbgut aus dem Schädelknochen könnte diese Frage wohl beantworten. Im Jahr 2017 flog darum Diyendo Massilani, auch er ein Forscher am Leipziger MPI, in die Mongolei und traf sich dort mit Byambaa Gunchinsuren vom Institut für Archäologie der Akademie der Wissenschaften der Mongolei und ihren Kollegen. Da die Forscher aus dem Fernen Osten und Europa zum ersten Mal zusammen arbeiteten, lernte man sich bei einem gemeinsamen Abendessen besser kennen. »Die Stimmung war hervorragend, wir haben sehr viel zusammen gelacht«, sagt Massilani. Das Eis war gebrochen, und der Forscher durfte ein Stück des geheimnisvollen Schädels mitnehmen. Die gemeinsame Hoffnung: Nicht nur das Rätsel um den Salkhit-Menschen sollte gelöst werden, sondern auch der Nebel um die Denisovaner ein wenig gelichtet.

Verrät das Erbgut, wem der Schädel gehörte?

Anfang Januar 2019 lagen die ersten Ergebnisse vor: Thibaut Devièse von der University of Oxford und seine Kollegen konnten mit der C-14-Methode zumindest einmal das Rätselraten um das Alter des auffälligen Schädeldachs beenden: Der Knochen mochte zwar sehr archaisch aussehen, hatte aber erst eher bescheidene 34 000 Jahre auf dem Buckel.

Parallel dazu hatten der EVA-Forscher Diyendo Massilani und seine Kollegen tatsächlich dem Fundstück ein wenig Erbgut entlockt. Nicht dasjenige aus den Zellkernen, sondern das leichter zu isolierende aus den Mitochondrien genannten Zellkraftwerken. Es lieferte ein eindeutiges Ergebnis: Die so genannte mtDNA gehörte zum gleichen Typ, mit dem noch heute sehr viele Menschen in Europa und Asien leben. Da das mitochondriale Erbgut immer nur von den Müttern auf ihre Kinder vererbt wird, war damit klar, dass die Mutter des Menschen, dessen Schädeldach in Salkhit entdeckt wurde, keine Neandertalerin und erst recht keine Homo-erectus-Frau gewesen sein konnte. Sie war eine moderne Homo-sapiens-Frau.

Diyendo Massilani im Labor | Der Forscher vom MPI für evolutionäre Anthropologie konnte aus dem Erbgut aus einem Stück ihres Schädeldachs die Frau von Salkhit als modernen Menschen identifizieren.

Ganz aus dem Rennen aber waren die Denisovaner damit noch nicht, schließlich verrät die Mitochondrien-DNA nicht einmal die halbe Wahrheit. Deshalb nahm sich das Team um Massilani bald darauf auch das Erbgut der Zellkerne vor. Allerdings zeigte sich, dass es erheblich verunreinigt war mit dem Erbgut von Menschen, die in den vergangenen Jahren mit dem Schädel Kontakt gehabt hatten. Wie kann man Altes von Neuem trennen? Fachleute machen sich dabei zu Nutze, dass sich die Bausteine alten Erbguts im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende an den Enden durch eine »Desaminierung« genannte Reaktion langsam verändern. Betrachtet man gezielt das veränderte Erbgut, sinkt der Anteil der modernen Verunreinigungen stark.

Wanderungen der Steinzeit

So gelang es den Forschern schließlich doch, dem Schädeldach die Kern-DNA zu entlocken. »Leider konnten wir mit dieser Methode nicht das gesamte, sondern nur einen Teil des Erbguts rekonstruieren«, erklärt Diyendo Massilani. Doch dieser Teil genügte, um einiges über die Geschichte der Menschheit im Osten Asiens und ein wenig mehr über die Denisovaner zu erfahren. Im Fachmagazin »Science« publizieren die Wissenschaftler heute ihre Ergebnisse. Mit Hilfe der DNA konnten sie noch einmal bestätigen, dass der Schädel ungeachtet seiner wuchtigen Überaugenwülste und dem robusten Bau einem modernen Menschen gehörte – und zudem keinem Mann, sondern einer Frau.

Das Erbgut zeigte auch deutliche Ähnlichkeiten mit der einzigen weiteren bisher analysierten DNA eines Steinzeitmenschen aus dieser Epoche im Osten Asiens. Dessen rund 40 000 Jahre alte Überreste wurden in der Tianyuan-Höhle unweit von Peking ausgegraben. Bei beiden Individuen ähnelt das Erbgut in weiten Abschnitten jenem der heutigen Bewohner Ostasiens. Allerdings gilt das nur für rund drei Viertel des untersuchten Erbguts der Salkhit-Frau, während das restliche Viertel starke Ähnlichkeiten mit dem Genom von zwei Menschen zeigt, die vor rund 31 000 Jahren als Mammutjäger im Nordosten Sibiriens lebten. Deren Erbgut wiederum stammte offensichtlich zu rund einem Drittel aus dem Osten Asiens, während die restlichen beiden Drittel viel weiter aus dem Westen und damit wohl aus Europa kamen.

Die genauen Verwandtschaftsverhältnisse der Vorfahren der archaisch anmutenden Salkhit-Frau können die Forscher zwar nicht rekonstruieren. Eines aber macht diese Erbgutanalyse klar, sagt Massilani: »Offensichtlich wanderten die Menschen bereits vor 35 000 Jahren weit umher, daher hatten Einwohner von Ostasien und Europa durchaus miteinander Kontakt.«

Verschiedene Denisovaner

Zusätzlich fand das Team im Erbgut der Salkhit-Frau noch einen Schuss von etwa 1,7 Prozent Neandertaler-Erbgut. Das liegt in derselben Größenordnung wie in anderem altem Erbgut aus jener Epoche und lässt sich auf gemeinsame Kinder zwischen beiden Menschenlinien zurückführen. Solche intimen Begegnungen hatten die Neandertaler nicht nur mit modernen Menschen, sondern auch mit Denisovanern, wie die EVA-Forscher aus Analysen von rund 90 000 Jahre altem Erbgut im Altai-Gebirge wissen. Dort stießen sie sogar auf ein Mädchen, dessen Mutter eine Neandertalerin war, während der Vater zu den Denisovanern gehörte.

Der Xiahe-Unterkiefer | Der Fund aus der Baishiya-Höhle in Tibet verrät, dass die Denisovaner nicht nur weiter nördlich in Sibirien lebten, sondern auch im tibetischen Hochland.

Im Erbgut der Salkhit-Frau aber gibt es so wenig Denisovaner-DNA, dass Diyendo Massilani sie erst aufspüren konnte, als er eine gerade von EVA-Forscher Benjamin Peter entwickelte statistische Methode zum allerersten Mal anwendete. Demnach gibt es dort wohl nur rund ein zehntel Prozent Erbgut von dieser geheimnisvollen Menschenlinie. Die Wissenschaftler sahen sich sofort an den ebenfalls nur sehr kleinen Denisova-Anteil heutiger Ostasiaten erinnert.

Und mehr noch: Denisovaner-Erbgut ist offenbar nicht gleich Denisovaner-Erbgut. In der DNA der Salkhit-Frau scheint, genau wie in der des Mannes aus der Nähe von Peking, eine andere Gruppe ihre Spuren hinterlassen zu haben als im Genom heutiger Bewohner Ozeaniens und Australiens. Offensichtlich gab es also mindestens zwei unterschiedliche Denisovaner-Linien in Asien.

Wülste über den Augen

Ungelöst bleibt auch die Frage, wie es zu den kräftigen Überaugenwülsten kam. Selbst die sehr aufwändige Erbgutanalyse konnte dieses Rätsel nicht lüften. Stammen sie vielleicht vom DNA-Anteil, den die Frau von den Neandertalern erbte? Oder verdankt sie es gar ihrem zehntel Prozent Denisova-DNA? »Wir wissen es einfach nicht«, erklärt Diyendo Massilani. »Schließlich wissen wir fast nichts darüber, welche Erbeigenschaften jeweils die Ausbildung der vielen Merkmale steuern, die wir heutigen Menschen haben.«

Chinesische Forscherinnen nehmen Bodenproben | Im Sediment der tibetischen Karsthöhle finden sich bis heute die genetischen Spuren ihrer Bewohner.

Dabei ist die Salkhit-Frau keineswegs der einzige Frühmenschenfund im Osten Asiens, der mit dicken Fragezeichen behaftet ist. Vor allem in China gibt es eine ganze Reihe solcher Schädel mit überraschenden, teils merkwürdig archaischen Merkmalen. Genanalysen könnten helfen, sie in den Stammbaum der Menschheit einzuordnen, »nur sind diese Fossilien für Wissenschaftler aus Europa kaum zugänglich«, sagt Diyendo Massilani. Auch in welcher Beziehung sie zu den Denisovanern stehen, bleibt im Dunkeln oder müsste von chinesischen Forschern aufgeklärt werden.

Denisovaner auf dem Dach der Welt

Ein Fossil stellt allerdings eine Ausnahme dar: ein Unterkiefer, den Mönche schon um das Jahr 1980 aus der 3280 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Baishiya-Karsthöhle in Xiahe in Tibet gefunden haben. Ein Team um Jean-Jacques Hublin, ebenfalls vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, konnte zwar kein Erbgut daraus isolieren, analysierte aber immerhin die Proteine in diesem Fossil. Und die verrieten eindeutig eine Zugehörigkeit zu den Denisovanern.

Demnach lebten also bereits vor mindestens 160 000 Jahren – so alt könnte der Unterkiefer nach ersten Analysen sein – die ursprünglich im Altai-Gebirge entdeckten Denisova-Menschen in den Hochlagen von Tibet. Und das offenbar recht lange, wie eine weitere heute veröffentlichte Studie, ebenfalls in der Zeitschrift »Science«, nahelegt.

Ein Team um die Anthropologin Dongju Zhang von der Universität im chinesischen Lanzhou, die gemeinsam mit Hublin den Unterkiefer analysiert hatte, hatte dazu mit viel Überredungskunst von den Mönchen, die für die Baishiya-Höhle zuständig sind, die Erlaubnis erhalten, dort die Sedimente genauer zu untersuchen. In den Schichten mit einem Alter von 100 000 und von 60 000 Jahren konnten die Forscher gemeinsam mit Svante Pääbo, Diyendo Massilani und anderen am Leipziger MPI eindeutig das Erbgut der Denisovaner nachweisen.

Mindestens 40 000 Jahre lebten unsere geheimnisvollen Verwandten demnach dort oben – und womöglich noch viel länger, vielleicht bis vor 45 000 Jahren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie dort auch immer wieder modernen Menschen begegneten, die in die Hochlagen Tibets vordrangen. Denn dass die heutigen Bewohner des Hochplateaus so gut an die sauerstoffarme Höhenluft ihrer Heimat angepasst sind, haben sie niemand anderem als den Denisovanern zu verdanken.

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