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Psychische Erkrankungen: Leistungssportler dürfen keine Schwäche zeigen

Einen Kreuzbandriss würde kaum jemand verheimlichen. Eine Depression aber machen nur wenige Profisportler öffentlich – dabei leiden sie darunter ebenso oft wie andere Menschen. Doch eine psychische Krankheit gilt noch immer als Stigma und gefährdet das Image.
Probeschwimmen im Tokyo Aquatics Centre am Tag vor der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in Tokio am 22. Juli 2021.

Mehr als 400 Sportlerinnen und Sportler reisten im Sommer 2021 für Deutschland nach Japan zu den Olympischen Sommerspielen, um um Medaillen zu rennen und zu reiten, zu rudern und zu radeln, zu springen und zu schwimmen, zu surfen und zu segeln, zu kämpfen und zu kicken. Begleitet wurden sie von 24 Ärzten und 43 Physiotherapeuten – sowie von 5 Psychologen. Die Sportpsychologen sollten den Athleten helfen, sich optimal zu motivieren, im richtigen Moment ihre beste Leistung abzurufen oder einen Rückschlag wegzustecken. Sie waren aber auch dazu da, um mit ihnen über psychische Probleme zu sprechen: über Ausgebranntsein, Gedankenspiralen und Leistungsdruck.

Psychische Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen, Süchte oder ADHS kommen auch im Leistungssport vor. Das mag zwar naheliegend klingen, war aber lange Zeit gar nicht so klar. Fachleute diskutierten etwa, ob der Leistungssport die Athleten eventuell gegen psychische Krisen abhärte (Entwicklungshypothese). Oder ob nicht ohnehin nur jene Sportler Erfolg hätten, die so resilient seien, dass bei ihnen keine psychischen Probleme aufträten (Selektionshypothese). Zahlen, die die Hypothesen untermauerten, fehlten und wurden auch nicht erhoben. Erst in den vergangenen zehn Jahren untersuchten Forscher mehr und mehr, wie viele Leistungssportler denn tatsächlich an psychischen Erkrankungen litten. Und nach und nach wurde klar: Keine der beiden Hypothesen stimmt.

Rund jeder zehnte Leistungssportler berichtet von Depressionen

In eine der ersten Studien dieser Art aus dem Jahr 2013 fragten Forscher der Deutschen Sporthochschule Köln im Auftrag der Deutschen Sporthilfe 1000 Leistungssportler, ob sie mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hätten. Drei der Fragen: Leiden Sie unter depressiven Erkrankungen? Unter Burnout? Unter Essstörungen?

Um eine ernsthafte Diagnose stellen zu können, würden Psychiater und Psychotherapeuten heute andere Fragen stellen. Dennoch lieferte die Selbsteinschätzung eine Annäherung, wie viele Leistungssportler an den Krankheiten leiden: 9,3 Prozent bejahten depressive Erkrankungen, 11,4 Prozent einen Burnout, und 9,6 Prozent gaben an, eine Essstörung zu haben.

Es folgten weitere Studien zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen im Spitzensport. Die wohl ausführlichste Analyse veröffentlichte im Jahr 2016 ein australisches Forscherteam in der Fachzeitschrift »Sports Medicine«. Insgesamt werteten die Wissenschaftler 60 Studien aus, um einer Antwort auf die Frage nach der Verbreitung so nahe wie möglich zu kommen. Ihr Fazit: Für die beiden häufigsten Erkrankungen – Angststörungen und Depressionen – hätten Spitzensportler ein Erkrankungsrisiko, das mit dem der restlichen Bevölkerung weitgehend vergleichbar sei. In Deutschland leiden rund 15 Prozent der Menschen an einer Angststörung und etwa 10 Prozent an einer affektiven Störung wie einer unipolaren Depression.

Für alle weiteren psychischen Krankheitsbilder sei die Studienlage nicht ausreichend gewesen, um einen Vergleich mit der übrigen Bevölkerung zu ziehen, so die australischen Forscher. Zwei Trends hätten sich aber gezeigt: Einerseits träten Essstörungen in jenen Sportarten häufiger auf, für die ein besonders schlanker Körper einen Vorteil bedeutet, wie beim Radfahren, Turnen oder im Kampfsport mit Gewichtsklassen. Außerdem konsumierten Sportler überdurchschnittlich viel Alkohol – allerdings nur, wenn keine Wettkämpfe anstünden.

Der Leistungssport bringt besondere Risiken mit sich

Leistungssportler scheinen also im Großen und Ganzen nicht häufiger und nicht seltener von psychischen Erkrankungen betroffen zu sein. Worin sie sich dann aber doch vom Rest der Bevölkerung unterscheiden, sind die Ursachen der psychischen Probleme. Das gilt nicht nur für Essstörungen; hier liegt der Zusammenhang mit den körperlichen Anforderungen einer Sportart auf der Hand. Auch bei Depressionen gibt es eine Reihe von Risikofaktoren, die im Leistungssport gehäuft vorkommen.

Einer davon ist Perfektionismus. Der ist gut für die sportliche Leistung, und Leistungssportler sind in der Tat perfektionistischer als Hobbysportler. Doch ist der Perfektionismus auch ein Risikofaktor für Depressionen. Dazu können im Leistungssport körperliche Verletzungen, das Karriereende, Leistungsdruck oder Dauerstress das Risiko steigern, eine Depression zu entwickeln – Faktoren, die so nicht in jedem Beruf auftreten. In den vergangenen Jahren ist noch ein weiterer Risikofaktor in den Fokus gerückt: Gehirnerschütterungen, etwa im Football oder im Fußball, steigern das Depressionsrisiko.

»Der Fußballer vor 30 Jahren musste keine Leistungstests absolvieren, rauchte und ging nach dem Spiel eine Haxe essen und ein Bier trinken«Karl-Jürgen Bär, Professor für Sportpsychiatrie am Universitätsklinikum Jena

Hinzu komme, sagt der Sportpsychiater Karl-Jürgen Bär, dass die Anforderungen im Leistungssport in den vergangenen Jahren gewachsen seien. Bär ist Professor am Universitätsklinikum Jena, er leitet dort die Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie. 2019 hat er gemeinsam mit Valentin Markser, ebenfalls Sportpsychiater und ehemaliger Handball-Bundesligaspieler, die Deutsche Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie gegründet. »Der Fußballer vor 30 Jahren musste keine Leistungstests absolvieren, rauchte und ging nach dem Spiel eine Haxe essen und ein Bier trinken«, sagt Bär. »Heute lebt er hochdiätetisch, muss Interviews geben, immer mehr Spiele absolvieren, und alles ist medial präsent.« Wer einen Fehler mache, ein Eigentor schieße, den sehe die ganze Welt. »Damit haben die Spieler einen ganz anderen Druck.«

Und auch das liebe Geld spielt seine Rolle. »Im Sport wird in Industriestaaten so viel Geld umgesetzt wie in der Autoindustrie. Der Sportler ist eine Marke, eine Werbefläche«, sagt Bär. »An dieser Stelle ist er austauschbar wie ein Fabrikarbeiter, seine psychische Gesundheit steht im Hintergrund.« Die Folge: Wer nicht stark genug ist, wird fallen gelassen. Und wer eine psychische Erkrankung hat, gilt als nicht stark genug.

Dieses Bild dürften auch Firmen, Fans, Trainer und der Athlet selbst haben, und darin ist kein Platz für Ängste und Depressionen. Körperliche Verletzungen gehören dazu, psychische Erkrankungen nicht.

»Nach wie vor ist es so, dass Sportler als nicht leistungsfähig eingestuft werden, wenn sie sich mit ihrer psychischen Erkrankung outen«Marion Sulprizio, Psychologin an der Deutschen Sporthochschule Köln

Das beobachtet auch die Psychologin Marion Sulprizio. Sie leitet die Initiative »MentalGestärkt« von der Deutschen Sporthochschule Köln, die Workshops für Nachwuchssportler, Trainer, Sportpsychologen, Psychiater und Psychotherapeuten anbietet. Vor allem aber können sich Sportler mit psychischen Problemen an die Initiative wenden. Sulprizio und ihre Kollegen vermitteln ihnen ein passendes Hilfsangebot.

»Nach wie vor ist es so, dass Sportler als nicht leistungsfähig eingestuft werden, wenn sie sich mit ihrer psychischen Erkrankung outen«, sagt Sulprizio. »Sie sind dann nicht mehr die Superstars, mit denen man sich identifizieren will, sondern ›nur‹ eine schwache Persönlichkeit. Das passt nicht zum Leistungssport.« Man fliege womöglich aus der Mannschaft, bekomme keinen neuen Vertrag, verliere Sponsorengelder oder werde nicht mehr zu Turnieren eingeladen. »Die tatsächlichen Konsequenzen kennt vorher natürlich keiner. Aber man befürchtet sie. Deswegen hält man den Mund und kämpft sich da irgendwie durch«, sagt Sulprizio. Unterschiede zwischen verschiedenen Sportarten gebe es da kaum.

Theoretisch ginge es auch anders. Man könnte psychische Probleme so behandeln wie körperliche. Beim Kreuzbandriss werden die Sportler operiert, sie bekommen Reha, trainieren sich wieder an ihre Leistung heran, und nach elf, zwölf Monaten sind sie wieder fit. Für die Sportler und ihr Umfeld ist das ärgerlich, klar, aber kein Grund zur Aufregung. »Bei Depressionen könnte es ganz genauso laufen«, sagt Sulprizio, »auch Pause, dann Reha – die in dem Fall Psychotherapie heißt –, und nach ein paar Monaten kann es weitergehen.« Mit der richtigen Behandlung ist eine depressive Episode in der Regel nach einigen Monaten vorbei und der Betroffene wieder so leistungsfähig wie zuvor.

In der Praxis hat sich wenig getan

Doch wann und ob es überhaupt jemals so kommen wird, dass eine psychische Erkrankung nicht mehr Aufmerksamkeit erregt als ein Kreuzbandriss, ist ungewiss. Die Fälle psychischer Erkrankungen, die bekannt würden, seien nur die Spitze des Eisbergs, sagt Sulprizio. Und auch Sportpsychiater Karl-Jürgen Bär sagt auf die Frage, ob es denn besser werde bei der Entstigmatisierung: »Eigentlich nicht.« Nach dem Suizid von Bundesliga-Torwart Robert Enke im Jahr 2009 habe es zwar viele Lippenbekenntnisse und die Aufforderung gegeben, man müsse im Fußball auch über seelische Nöte reden. »In der Praxis hat sich aber wenig getan«, sagt Bär. »Der Sport fremdelt mit den Sportpsychiatern. Die Stigmata sind in der Gesellschaft, und so sind sie auch im Leistungssport.«

Letztlich wünschen sich Bär und Sulprizio eine Zukunft, in der ein Sportler ganz offen über seine psychischen Probleme spricht. Eine solche Zukunft ist allerdings noch so weit entfernt, dass die beiden, Stand heute, betroffenen Leistungssportlern eher raten, sich erst mal Hilfe zu suchen und mit dem Therapeuten und dem Umfeld genau zu überlegen, ob es wirklich einen Vorteil hat, offen über die Erkrankung zu sprechen.

Dass sich aber zumindest etwas in diese Richtung zu bewegen scheint, hat zuletzt die US-amerikanische Weltklasseturnerin Simone Biles bewiesen. Biles brach das Teamfinale bei den Olympischen Spielen 2021 mitten im Sprung ab und bat ihre Kolleginnen, allein weiterzuturnen. Später gab sie bekannt, sich auf Grund psychischer Probleme aus dem Wettkampf zurückgezogen zu haben. Die mentale Gesundheit müsse auch bei Athleten an erster Stelle stehen, erklärte sie – und wurde dafür von der Öffentlichkeit gefeiert.

Noch wichtiger, als das öffentliche Gespräch zu suchen, ist allerdings, dass jeder Betroffene erst einmal merkt, wenn er Hilfe braucht, dass er weiß, wo er die richtige Hilfe findet, und dass er sie sich dann auch holt. Doch damit das gelingen kann, muss eine solche Hilfe vorhanden sein.

Die optimale Versorgung sieht so aus, dass erstens der Sportler selbst die geeigneten Adressen kennt. Zweitens gibt es einen Sportpsychologen im Verein, der neben seinem Spezialgebiet, wie Mentaltraining und Motivationstaktiken, auch ein bisschen über psychische Erkrankungen Bescheid weiß. Sportpsychologen behandeln die Spieler nicht selbst, sollten ein psychisches Problem aber erkennen und Hilfe vermitteln können. Drittens sind Trainer und Betreuer für das Thema sensibilisiert und unterstützen die Athleten.

So weit zur optimalen Versorgung. Nur: Wie sieht die Realität aus? Wie gut ist die Versorgung von Leistungssportlern mit psychischen Problemen? Marion Sulprizio von der Deutschen Sporthochschule sagt dazu: »Da ist Luft nach oben.« Und der Sportpsychiater Karl-Jürgen Bär sagt: »Viel Luft nach oben.«

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