Depression: »Das Problem kann auch körperlich sein«
Warum ich? Das fragen sich viele Menschen, die an einer Depression erkrankt sind. Eine einfache Erklärung gibt es jedoch nicht. Bislang gehen Forschende davon aus, dass mehrere Faktoren beteiligt sind: Erbanlagen, Kindheitserfahrungen, das soziale Umfeld. Aber manchmal können auch körperliche Probleme die Ursache sein, sagt Stefan Gold von der Berliner Charité. Der Professor für Neuropsychiatrie erklärt, wie Körper und Verhalten bei der Entstehung von Depressionen zusammenwirken.
Herr Gold, oft werden Depressionen auf einen Mangel an den Botenstoffen Serotonin und Noradrenalin im Gehirn zurückgeführt. Was ist an der Erklärung dran?
Die so genannte Monoaminhypothese ist aufgekommen, nachdem in den 1950er und 1960er Jahren die ersten Antidepressiva entwickelt wurden. Die Medikamente führen unter anderem dazu, dass der Botenstoff Serotonin, nachdem er ausgeschüttet wurde, länger im synaptischen Spalt verbleibt, also an der Kontaktstelle zweier Nervenzellen. Dadurch überträgt er die Nervensignale länger. Weil die Antidepressiva bei ungefähr 50 bis 60 Prozent der Betroffenen wirken, ist die Idee entstanden, dass ihnen vorher Botenstoffe gefehlt haben. Dass Depressive vor der Behandlung tatsächlich einen Mangel an Serotonin oder Noradrenalin haben, ist aber eher schlecht belegt. In Untersuchungen aus den 1980er Jahren konnte nicht gezeigt werden, dass Menschen bei einem künstlich ausgelösten Serotoninmangel depressiv werden. Ende 2022 kam nun eine kleine Studie heraus, die ein Serotonindefizit bei Erkrankten gefunden hat. Auch wenn die Wirksamkeit von Antidepressiva in zahlreichen Studien belegt ist: Wenn Sie mich fragen, ist der Botenstoffmangel kein besonders wahrscheinlicher primärer Auslöser für Depressionen.
Gibt es denn andere biologische Ursachen für Depressionen?
Wenn Sie 100 Menschen mit Depressionen und 100 psychisch Gesunde vergleichen, finden Sie verschiedene Unterschiede im Gehirn. In noch größeren Studien zeigen sich auch statistische Zusammenhänge mit bestimmten genetischen Markern. Sie sind jedoch nicht sensitiv und spezifisch genug, um bei einer einzelnen Person eine Diagnose stellen zu können. Daher tauchen solche biologischen Marker in den diagnostischen Kriterien nicht auf.
»Auffälligkeiten im Gehirn erklären nur einen geringen Teil der Depression«
Was passiert im Gehirn, wenn man depressiv ist?
Die Gehirne von Depressiven und Gesunden sind sich insgesamt sehr ähnlich. Sie unterscheiden sich aber geringfügig in ihrer Struktur und Funktion. In großen Studien kam heraus, dass bei Menschen mit Depressionen jene Hirnregionen kleiner sind, die an der Emotionsregulation beteiligt sind. Dazu gehört der Hippocampus, der für Lernen und Gedächtnis zuständig ist. Auf funktioneller Ebene hat man herausgefunden, dass bestimmte neuronale Netzwerke bei Depressiven synchroner arbeiten, als sie sollten. Das betrifft ein Netzwerk, das beim Grübeln verstärkt aktiv ist: zwischen dem medialen präfrontalen Kortex im vorderen Hirnlappen und den hinteren Hirnregionen. Außerdem sind die Inselrinde und die Amygdala, die für die Emotionsregulation wichtig sind, übermäßig miteinander vernetzt. Dieses Netzwerk ist allerdings bei einigen Krankheiten verändert. Insgesamt erklären die Auffälligkeiten im Gehirn nur einen geringen Teil der Depression.
Liegt die Ursache dann eher in den Genen?
Es gibt Erkrankungen in der Psychiatrie, die eine deutliche erbliche Komponente haben, wie Schizophrenie, Autismus oder bipolare Störungen. Depressionen befinden sich eher im unteren Mittelfeld. Zwillingsstudien haben eine Erblichkeit von rund 40 Prozent ergeben. Zwillinge teilen sich aber oft Risikofaktoren wie das soziale Umfeld. In den neuesten genetischen Studien wurden mehr als 100 häufige Genvarianten entdeckt, die mit Depressionen zusammenhängen. Nicht jeder und jede Betroffene besitzt alle Risikogene. Einige davon sind in Prozesse im Gehirn involviert, andere scheinen für entzündliche Vorgänge relevant zu sein. Bei vielen weiteren kennt man die Funktion nicht, oder sie befinden sich in DNA-Abschnitten, die nicht für Proteine codieren. In der Summe erklären sie höchstens zehn, zwölf Prozent des Erkrankungsrisikos. Die Krux ist, dass diese Genvarianten nicht sehr spezifisch für Depressionen sind. Letztlich scheint es eher eine generelle genetische Anfälligkeit für psychische Erkrankungen zu geben.
Wie hängen Kindheitserfahrungen und Depressionen zusammen?
Belastende Kindheitserlebnisse sind Risikofaktoren für Depressionen und viele andere psychische Erkrankungen. Dabei muss es sich nicht nur um Gewalterfahrungen oder Kindesmissbrauch handeln. Oft spielt die etwas subtilere emotionale Vernachlässigung eine Rolle. Armut in der Kindheit kann ebenfalls Depressionen begünstigen. Ich glaube, dass solche psychosozialen Faktoren insgesamt stärker zur Entstehung von Depressionen beitragen als etwa die Gene. Die Biologie wird oft vom Erlebten beeinflusst: Als Ratten in Tierversuchen gestresst wurden, haben sie Schlafstörungen entwickelt, sich zurückgezogen, mochten plötzlich kein Zuckerwasser mehr und interessierten sich nicht mehr für Sex. Bei ihnen waren bestimmte biologische Veränderungen sichtbar wie ein verkleinerter Hippocampus und erhöhte Entzündungsmarker, die mit Depressionen einhergehen können. So ein Weg ist auch beim Menschen vorstellbar. Wenn man sich nach negativen Erlebnissen zurückzieht, weniger Sport macht und sich schlechter ernährt, wächst vielleicht das Bauchfett, das Entzündungsstoffe bildet, oder man bekommt Bluthochdruck.
Themenwoche »Depression«
Müde, lustlos, niedergeschlagen: Solche Phasen kennt nahezu jeder. Aber ist das schon eine Depression – und wenn ja, was dann? Welche Rolle der Körper dabei spielen kann, wie man die richtige Therapie findet und was sonst noch dabei hilft, aus dem seelischen Tief wieder herauszukommen: Diese und noch mehr Fragen rund um Depressionen beantwortet »Spektrum.de« in den folgenden Beiträgen.
- Diagnose: Bin ich depressiv?
- Ursachen: »Das Problem kann auch körperlich sein«
- Ratgeber: Welche Psychotherapie passt zu mir?
- Ursachen: Der lange Schatten der Gesellschaft
- Ratgeber: Das können Betroffene selbst tun
- Partnerschaft: Zu zweit durch die Krise
- Experimentelle Therapien: Neue Wege aus der chronischen Depression
Was hat Bluthochdruck mit Depressionen zu tun?
Menschen mit chronischen körperlichen Erkrankungen haben ein drei- bis fünffach erhöhtes Risiko für Depressionen; zum Teil liegt das Risiko, mit der Zeit eine Depression zu entwickeln, bei bis zu 50 Prozent. Das hängt jedoch nicht direkt damit zusammen, wie lebensbedrohlich eine Krankheit ist: Menschen mit Krebs erkranken zwar häufiger an Depressionen – aber nicht am häufigsten. Unter den chronisch Kranken sind Menschen mit Bluthochdruck besonders häufig depressiv. Oft macht der Bluthochdruck noch gar keine Symptome: Die Menschen wissen nicht, dass sie Bluthochdruck haben, und trotzdem ist ihr Risiko, an einer Depression zu erkranken, um das Vierfache erhöht.
Wie genau trägt Bluthochdruck dann zu einer Depression bei? Gibt es einen direkten körperlichen Zusammenhang?
Bestimmte biologische Aspekte überlappen sich bei beiden Erkrankungen, wie zum Beispiel entzündliche Prozesse, die sowohl mit Bluthochdruck wie mit Depressionen in Zusammenhang stehen. Außerdem kann ein erhöhter Blutdruck die Hirnstruktur schädigen. Davon können durchaus auch Regionen betroffen sein, die für die Emotionsregulation wichtig sind. Eine interessante Tierstudie aus dem Jahr 2023 hat sogar nahegelegt, dass eine Steigerung der Herzfrequenz direkt zu angst- und depressionsähnlichen Symptomen führen kann. Gemeinsame biologische Mechanismen können den Zusammenhang zwischen beiden Erkrankungen allerdings nicht komplett erklären – auch hier spielen sicherlich andere Faktoren eine Rolle, wie das Gesundheitsverhalten, zum Beispiel Rauchen, Ernährung und Bewegung.
Gibt es noch weitere chronische Erkrankungen, bei denen die körperliche Problematik direkt die Depression mitverursacht?
Ich habe den Zusammenhang zwischen multipler Sklerose und Depressionen untersucht. MS ist eine chronische Erkrankung des Nervensystems und psychisch sehr belastend, weil der Krankheitsverlauf so ungewiss ist. Aber, selbst wenn man das mit einberechnet, erkranken MS-Patienten erstaunlich oft an Depressionen. Häufig herrschen bei ihnen so genannte vegetative Symptome vor wie Schlafstörungen, Energielosigkeit oder Konzentrationsprobleme, weniger dagegen Pessimismus oder Suizidalität. Daher denke ich, dass hinter den Depressionen bei MS eine stärkere biologische Komponente stecken könnte. Was auch heißt, dass man sie mit zusätzlichen biologischen Ansätzen vielleicht effektiv behandeln kann.
Wie könnte eine solche Behandlung bei chronischen körperlichen Erkrankungen aussehen?
Das untersuchen wir gerade hier an der Charité gemeinsam mit dem Psychiatrieprofessor Christian Otte in einer großen Studie an Menschen, die sowohl an Adipositas als auch an Depressionen erkrankt sind. Alle nehmen ein Antidepressivum ein, die Hälfte von ihnen zusätzlich ein cholesterinsenkendes Medikament, ein Statin. Wichtig ist, dass die Probandinnen und Probanden noch keinen Diabetes Typ II und keine Fettstoffwechselstörung haben – sie brauchen das Statin also rein körperlich noch nicht. Die Hypothese ist, dass das Statin über Stoffwechselwege dazu beiträgt, die Symptome der Depression zu lindern. Möglicherweise leiden die Betroffenen eher unter einem »immunmetabolischen« Subtyp der Depression: Sie sind energielos, schlafen und essen mehr als sonst. Früher wurde der Subtyp als atypische Depression bezeichnet.
»Verhalten und Stoffwechsel sind im Gehirn eng miteinander verschaltet«
Was hat das Immunsystem mit Depressionen zu tun?
Es scheint, dass die Regulation von Verhalten und Stoffwechsel im Gehirn eng miteinander verschaltet sind – eine Verbindung, die zumindest zum Teil über das Immunsystem vermittelt ist. Man selbst kennt das vielleicht, dass man ein paar Tage vor Beginn einer Grippe unleidlich wird, ein wenig wie bei einer Depression. Dieses Verhalten nennt sich »sickness behavior« und kann durch entzündliche Stoffe ausgelöst werden. Das macht Sinn: Wenn man eine ansteckende Erkrankung hat, ist sozialer Rückzug keine schlechte Idee. Dem Signalweg ist es egal, ob der Entzündungsbotenstoff infektbedingt produziert wird oder durch im Übermaß vorhandene Fettzellen. Diese Mechanismen könnten womöglich zur Entstehung von depressiven Symptomen beitragen.
Wie kann man so etwas nachweisen?
Klare Hinweise kommen aus Tierstudien: In einem Versuch zum Beispiel bekamen dicke Mäuse nicht nur Stoffwechselprobleme, sondern wurden auch depressiv. In ihrem Gehirn hatten sich so genannte Zombie-Zellen angehäuft, die außerplanmäßig Entzündungsstoffe produzieren. Wurden diese Zellen gezielt ausgeschaltet, waren die Mäuse zwar noch dick, aber nicht mehr depressiv. In einer anderen Arbeit haben Forschende die Immunzellen von gestressten depressiven Mäusen in nicht gestresste Tiere eingepflanzt, die daraufhin ebenfalls depressiv wurden. Allerdings sind Mäuse keine Menschen. Therapiestudien müssen zeigen, inwieweit die biologischen Vorgänge bei einem Teil der Betroffenen tatsächlich zur Entstehung von Depressionen beitragen.
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