Der Anklamer Stadtbruch: Geschöpfe einer wilden Nacht
Wie es sich für ein echtes Wildnisgebiet gehört, ist der Anklamer Stadtbruch in einer einzigen stürmischen Nacht wieder wild geworden: Die Sturmflut vom 4. bis zum 5. November 1995 hatte mit so viel Macht auf die morschen Deiche gedrückt, dass diese gleich an mehreren Stellen nachgaben. Die Wassermassen des Stettiner Haffs ergossen sich ungebremst ins Hinterland und wurden erst unmittelbar an den Rändern der Dörfer Bugewitz und Rosenhagen von einer natürlichen Anhöhe gestoppt. Rund 1300 Hektar Wald und Grünland gingen von einem Tag auf den anderen für die Nutzung verloren. Eine Reparatur des gebrochenen Deiches war nicht möglich. Der war alt und aus Torf aufgeschichtet, was nicht das beste Material ist, um ein stürmisches Haff abzuwehren. Die neue Deichlinie wurde deshalb ein ganzes Stück landeinwärts verlegt und verläuft jetzt nördlich von Bugewitz und im Osten von Rosenhagen.
Wer heute das südwestlich der Insel Usedom gelegene Gebiet erkundet, sieht kaum noch etwas von der Dramatik der damaligen Ereignisse. Auf dem neuen Deich führt eine Asphaltstraße von Bugewitz in Richtung Rosenhagen. Sie markiert zugleich die Grenze zwischen Wildnis und Kulturlandschaft: Auf der linken Seite bis zum Dorf liegt eine große Weide, auf der knapp zwei Dutzend Rinder dösen oder fressen. Die hübsche Kulisse und das extensiv bewirtschaftete Grünland, über das im Sommer die Störche und in Frühling und Herbst die Großen Brachvögel staksen, mag für viele Städter schon als Inbegriff von Natur durchgehen. Das Wildnisgebiet Anklamer Stadtbruch aber erstreckt sich auf der rechten Seite bis zum Stettiner Haff. Direkt neben dem Deich liegt ein See, an dem aufgereiht in kleinen Gruppen mindestens 20 Silber- und ebenso viele Graureiher im flachen Wasser stehen.
Serie: Wildnis in Deutschland
Vom Südzipfel der Republik bis in den hohen Norden – überall findet man sie inzwischen wieder, die Landschaften, in denen der Mensch die Natur Natur sein lässt. Nach Jahrhunderten der Nutzung finden sie nur langsam zu ihrem ursprünglichen Selbst zurück.
Fünf von ihnen hat unser Autor Ralf Stork für diese Serie bereist. Sie zeigen, wie wirksam Wildnis sein kann angesichts allgegenwärtiger Umweltzerstörung. Und wie weit der Weg zu mehr gesunden Lebensräumen noch ist. Das selbst gesteckte Ziel, zwei Prozent der Landesfläche in Wildnisgebiete umzuwandeln, hat Deutschland weit verfehlt. Aktuell sind es gerade einmal 0,6 Prozent.
- 21.08.2023: Nationalpark Berchtesgaden: Die Wucht des Wandels
- 22.08.2023: Der Anklamer Stadtbruch: Geschöpfe einer wilden Nacht
- 23.08.2023: Nationalpark Harz: Wo die wilde Jugend wächst
- 24.08.2023: Der Beltringharder Koog: Die Wiedererweckung einer verlorenen Landschaft
- 25.08.2023: Die Oranienbaumer Heide: Unterwegs auf wilden Pfaden
Plötzlich kommt Leben in die Vögel, die eben noch wie festgewurzelt wirkten. Unter lautem Rufen fliegen sie auf, gleichzeitig ist aus den Augenwinkeln ein großer brauner Schatten zu sehen, der sich auf die Wasserfläche stürzt. Es dauert ein paar Sekunden, bis man realisiert hat, was gerade geschehen ist: Da, wo gerade noch ein Graureiher im Wasser gestanden hatte, hockt jetzt ein Seeadler. Er hat sich auf den Reiher gestürzt und ihn erfolgreich geschlagen. Aber jetzt hat er ein Problem. Der unter Wasser gedrückte Vogel liegt zu tief, als dass er ihn direkt fressen könnte. Und er ist zu schwer, um ihn einfach ans Ufer zu verfrachten. Mit der Beute kommt er nirgendwo hin, doch wenn er losfliegt und sie zurücklässt, wird er sie vermutlich nicht wiederfinden. Also bleibt der Adler erst mal auf seiner Beute im Wasser hocken. Zwei weitere Seeadler sitzen in der Nähe. Vielleicht hoffen sie darauf, etwas von seiner Beute abzubekommen.
Nirgendwo sonst in Mitteleuropa würden ihm so viele Artgenossen die Beute streitig machen wie im Anklamer Stadtbruch: Zwölf Brutpaare leben hier. Das Gebiet ist ein Paradies für die Greifvögel, aber auch für zahllose andere Vogelspezies. »Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich das Gebiet zu einem wichtigen Brutgebiet und Rastplatz für Wat- und Wasservögel entwickelt«, erzählt der NABU-Experte Stefan Schwill. Im Frühjahr und Herbst legen hier zehntausende Tiere auf ihrer Durchreise einen Zwischenstopp ein. Dann wimmelt es vor selten gewordenen Arten. Doch nicht nur Vogelfans geraten ins Schwärmen, wenn die Sprache auf den Stadtbruch kommt. Die Wildnis hier gibt auch Bibern, Fischottern und Moorfröschen ein Zuhause, außerdem seltenen Insekten wie dem Großen Feuerfalter. Das Land zwischen Deich und Haff – es bietet Lebensbedingungen, wie sie in Deutschland fast einzigartig sind.
Der NABU übernimmt hier die Schaffung von Wildnis
Schwill betreut den Anklamer Stadtbruch für die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe, die Ende 2018 mehr als 1300 Hektar des 2000 Hektar großen Gesamtareals von der Stadt Anklam gekauft hat. Außerdem ist er einer der Koordinatoren der Initiative Wildnis in Deutschland, die sich für die Schaffung neuer Wildnisgebiete einsetzt. Nach der alten Nationalen Biodiversitätsstrategie sollten eigentlich bereits im Jahr 2020 zwei Prozent der Landesfläche Deutschlands als Wildnisgebiet ausgewiesen sein. Dieses Ziel wurde deutlich verfehlt. Aktuell liegt der Anteil erst bei etwa 0,6 Prozent. »Geeignete, große, zusammenhängende Gebiete zu finden und auszuweisen, ist gar nicht so leicht«, sagt Schwill.
Zum einen gibt es in Deutschland nur noch wenige große, unzerschnittene Flächen. Zum anderen müssten sämtliche Eigentümer bereit sein, ihr Land der Wildnis zu widmen oder andernfalls zu verkaufen oder zu tauschen. Ein aufwändiger, Zeit raubender Prozess. Hinzu kommt, dass die Areale, in denen künftig das Prinzip der Nichteinmischung gelten soll, nicht im luftleeren Raum existieren: Wenn den Behörden mittels Verordnung Nichtstun auferlegt wird, muss sichergestellt werden, dass benachbarte bewirtschaftete Flächen nicht darunter zu leiden haben – etwa durch eine Massenvermehrung von Insekten, die auch die umliegenden Wälder zu befallen drohen.
Die Schaffung von Wildnis ist also ein durchaus komplizierter Akt. Er ließe sich leichter bewältigen, wenn es auf Bundes- oder Landesebene zentrale Koordinierungsstellen dafür gäbe. Gibt es derzeit allerdings nicht. Es ist daher kein Wunder, dass das Gros der Wildnisflächen in den Nationalparks liegt: Unter Schutz stehen die Flächen sowieso schon. Auch gibt es dort bereits das Konzept von Kernzonen, in denen die Nutzung eingeschränkt oder ganz untersagt ist. Und es steht eine Verwaltung zur Verfügung, die sich um die Umsetzung kümmern kann.
Zwischen den Schutzgebieten fehlen die »Trittsteine«
Doch solche Insellösungen genügen auf Dauer nicht. Was Schwill sich wünscht, wären »Trittsteine« zwischen den Wildnisgebieten: Biotope und Schutzgebiete, die mit den großflächigeren Arealen verbunden sind. »Wenn auf diese Weise ein Netz entsteht, das das Zu- und Abwandern von Arten ermöglicht, wäre das ideal«, sagt der NABU-Experte.
Vom Aussichtsturm am Abzweig der Straße Richtung Rosenhagen lässt sich wunderbar in Augenschein nehmen, was im Anklamer Stadtbruch in mehr als zwei Jahrzehnten entstanden ist. Man hat hier einen guten Blick über die Landschaft: Während der Adler noch immer keine Lösung für sein Transportproblem gefunden hat, haben sich die meisten Vögel auf dem See längst wieder beruhigt. Die Reiher stehen erneut pittoresk an den Ufern. Auf einer Sandbank im See rastet ein großer Trupp Kiebitze. Ein paar Kraniche ziehen rufend vorbei, in einer kleinen Bucht des Flachwassersees schwimmen Wasserrallen und Knäkenten.
Man sieht, dass sich im Norden des Sees ein weiteres Gewässer anschließt, und kann gerade eben erkennen, dass es weiter im Nordosten, beinahe schon am Haff, noch einen See gibt. Vor allem aber sieht man, dass sich hinter dem See zu Füßen des Turms eine Röhrichtfläche erstreckt, so weit das Auge reicht. An den Rändern ist sie von Wald eingefasst. »Das ist das eigentliche Kerngebiet der Wildnisfläche, ein Hochmoor, das sich jetzt wieder regenerieren kann«, erzählt Schwill. Als Hochmoor werden Feuchtgebiete bezeichnet, die ausschließlich von Regenwasser gespeist werden. Sie sind arm an Nährstoffen und locken dadurch vor allem hoch spezialisierte Arten an, die auf diese Bedingungen angewiesen sind.
Flachwasserseen werden eines Tages verlanden
Auch die Flachwasserseen gehörten ursprünglich zur Moorfläche. Durch die lange Nutzung als Weideland hatte sich an diesen Stellen der Torfboden jedoch so stark zersetzt, dass sie inzwischen deutlich tiefer liegen und mit Wasser vollliefen. Allerdings ist auch das nur eine vorübergehende Phase in der Entwicklung des Wildnisgebiets. Schon heute schieben sich Schilf und Seggen immer weiter in die Gewässer hinein, so dass die offenen Wasserflächen kleiner werden. Auf lange Sicht wird auf diese Weise aus den Seen wahrscheinlich wieder ein Moor werden.
Nach dem Besuch des Beobachtungsturms steuert Schwill mit seinem Wagen den Eingang zu den Moorflächen an. Im Vergleich zu dem See mit seinen Adlern und den vielen Wasservögeln wirkt dieser Bereich des Stadtbruchs auf den ersten Blick eher unspektakulär: Links und rechts steht ein Eichenmischwald, ein Relikt forstwirtschaftlicher Nutzung, das an seinen Rändern langsam in Röhricht übergeht. Das Gebiet ist von mehreren Gräben durchzogen, deren Namen – Osttorfkanal, Mitteltorfkanal, Westtorfkanal – ihre ehemalige Funktion verraten. Mit ihnen wurde in früheren Zeiten das Moor entwässert und der gestochene Torf abtransportiert. In den kommenden Monaten sollen die Gräben verfüllt werden, damit sich der natürliche Wasserhaushalt im Moor wieder einstellen kann.
Wechselnde Nischen im Moor
Der Weg wird immer enger, teils ist es nur ein schmaler Pfad, der einmal jährlich mit einem Freischneider gemäht wird. Er führt vorbei an Bäumen, die frisch vom Biber gefällt worden sind, zu einer Beobachtungsplattform am Rand der schier endlosen Röhrichtfläche, die wichtiger Lebensraum für Bartmeisen, Rohrammern, verschiedene Rohrsängerarten, Rohrweihen und Rohrdommeln ist.
Gerade in Verbindung mit dem Röhricht, den Wäldern und Wasserflächen entfaltet das Gebiet sein ganzes Potenzial: »Mit über 1000 Hektar ist das Wildnisgebiet groß genug, dass sich hier die Dynamik der Natur frei entfalten kann«, sagt Schwill. Je nach Wasserstand werden Teile des Moors im Lauf der Jahre nasser oder trockener. Entsprechend wird sich der Wald ausbreiten oder zurückziehen. In den Übergangsbereichen entsteht so ein Mosaik unterschiedlicher Strukturen, in dem sich Röhricht, abgestorbene Bäume, aufgelichtete und geschlossene Wälder abwechseln. Dieser Strukturreichtum hat schon zu bemerkenswerten Entwicklungen einiger seltener Arten geführt: »Der Wendehals kommt in dem Gebiet in sehr hohen Populationsdichten vor«, sagt Schwill. Der Vogel, der zur Familie der Spechte gehört und sich bevorzugt von Ameisen ernährt, steht als »gefährdet« auf der Roten Liste. Deutschlandweit gibt es keine 10 000 Brutpaare mehr. Eigentlich gilt der Wendehals als typischer Bewohner von Parks, Streuobstwiesen, großen Gärten, Weinbaugebieten und anderen Kulturlandschaften. »Jetzt zu sehen, dass er auch in der ungesteuerten Natur seine Nische findet, ist schon etwas Besonderes«, sagt Stefan Schwill.
Der Große Feuerfalter entwickelt sich im Anklamer Stadtbruch ebenfalls prächtig. Die Art mit den leuchtend orangen Flügeln wird auf der Roten Liste Deutschlands und auch von der Weltnaturschutzunion IUCN als »stark gefährdet« geführt. Die Insekten leben bevorzugt auf pflegeintensiven Feuchtwiesen. Im Lebensraummosaik des Wildnisgebiets sind nun ganz ohne menschliches Zutun ideale Lebensbedingungen für die seltenen Schmetterlinge entstanden. Das ist eine der wichtigen Funktionen, die große Wildnisgebiete haben. Sie sind weitläufig und dynamisch genug, um immer neue und wechselnde Nischen hervorzubringen.
Nach dem Abstecher ins Schilf geht es noch einmal zurück an den See am Deich. Der Seeadler steht nicht mehr im Wasser. Dafür sieht man an einer sandigen Uferstelle einen der Greife auf einem großen Vogel hocken. Vielleicht hat er es mit seiner Beute ja doch noch aus dem Wasser geschafft. Vielleicht hat in der unberechenbaren Natur des Stadtbruchs heute ein Artgenosse einen unerwartet erfolgreichen Tag gehabt.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.