Papyri: Der Bautrupp von König Cheops
»Ägypten ist ein Geschenk des Nils«, schrieb Herodot im 5. Jahrhundert v. Chr. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Kultur des Pharaonenreichs beruhte zu einem Gutteil auf dem, was die Wüsten östlich und westlich des Niltals hergaben. Davon sind Forscherinnen und Forscher überzeugt, seit sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten diese Randregionen intensiver untersucht haben. Vor allem an den Küsten des Roten Meers spürten die Ägyptologen Hafenplätze auf. Dabei gelang es, nicht nur Lagerorte für Schiffe frei zu legen, sondern – völlig unerwartet – auch mehr über den Bau der Großen Pyramide herauszufinden, 240 Kilometer von Giseh entfernt.
Im Wadi al-Dscharf am Roten Meer entdeckten Archäologen mehrere Papyrusfragmente. Es sind die Aufzeichnungen eines Bautrupps, der Kalkstein von Tura nach Giseh schaffte. Das Material war vor rund 4600 Jahren für den Bau der Cheopspyramide bestimmt. Warum und wie das Logbuch der Pyramidenarbeiter ans Rote Meer gelangte und was die Daten über die Baustelle in Giseh verraten, haben Ägyptologen inzwischen genauer erschlossen – zuallererst über den Fundort.
Dass die alten Ägypter das Rote Meer befuhren, ist gesichert. Ein prominentes Zeugnis ist der Totentempel von Königin Hatschepsut, die von 1479 bis 1458 v. Chr. über das Land am Nil geherrscht hat. Die Bilder und Texte in ihrem Tempel von Deir el-Bahari in Theben schildern eine Expedition ins sagenhafte Punt. Das Gold- und Weihrauchland lag vermutlich irgendwo an der Meeresstraße Bab al-Mandab, am Südende des Roten Meers. Auf dem Weg an die Küste durchquerten die Ägypter die Arabische Wüste. Dazu zerlegten sie ihre Nilschiffe in einzelne Planken und transportierten diese auf Eseln bis zur Rotmeerküste, wo sie die zusammengefügten Gefährte zu Wasser ließen.
Über die Expeditionen der alten Ägypter durch die Arabische Wüste wussten Forscher lange Zeit nicht viel mehr als das. Es war nicht einmal klar, durch welches Wadi die Schiffskonvois die Strecke von etwa 150 Kilometer zurücklegten. Viele Forscher hielten es für plausibel, dass sie die kürzeste Distanz wählten: durch das Wadi Hammamat – von dort, wo der Nil in einem großen Bogen gen Osten fließt, bis zur Rotmeerküste. Doch dann kam im heutigen Städtchen Mersa Gawasis, dutzende Kilometer nördlich des Wadis, der pharaonische Hafenplatz Sawu ans Licht. Wie Inschriftenfunde belegen, wählten die meisten Könige des Mittleren Reichs (2077–1759 v. Chr.) diese Route und den Hafen von Sawu für Expeditionen nach Punt. Womöglich ließ Jahrhunderte danach auch Königin Hatschepsut ihre Expedition über diesen Posten abwickeln.
Häfen an der Rotmeerküste
Inzwischen haben Archäologen weitere Hafenorte der Pharaonen entdeckt. Sie liegen nördlich von Sawu und waren bereits während des Alten Reichs (2686–2160 v. Chr.) in Betrieb: Ain Suchna und Wadi al-Dscharf. Beide Anlagen befinden sich im Golf von Sues. Auf der gegenüberliegenden, gut sichtbaren Seite des Meerarms lagen ebenfalls Häfen, die Archäologen schon länger kennen: Ras Sudr und al-Marcha.
Bei Grabungen an den zuletzt entdeckten Plätzen Sawu, Ain Suchna und Wadi al-Dscharf fanden sich Belege dafür, wie die Häfen einst betrieben wurden. So brachte wohl nicht jede Expedition Nilschiffe in Einzelteile zerlegt ans Rote Meer. Die Forscher stießen auf große, in Felsen geschlagene Galerien – eine neben der anderen, bis zu 34 Meter tief in den Grund getrieben. In den länglichen Räumen fanden sich Planken, aufgerollte Taue und Frachtkisten mit Aufschriften wie »wunderbare Güter aus Punt«. Offenbar dienten die Galerien als unterirdische Lager für auseinandergenommene Schiffe und Ersatzteile.
Als die Ausgräber 2013 zwei solcher Felsenräume im Hafen des Wadi al-Dscharf öffneten, stießen sie auf unerwartete Funde: rund 400 Papyrusfragmente, die meisten in sehr fragilem Zustand. Nach sorgfältiger Bergung und Konservierung machte sich der Ägyptologe und Grabungsleiter Pierre Tallet von der Sorbonne Université in Paris an die Auswertung der Texte. Er stellte fest, dass es sich bei den Aufzeichnungen überwiegend um Tage- und Logbücher von ägyptischen Verwaltungsbeamten und Seeleuten handelte.
Die Namen des Königs
Schon bei den Grabungen fielen Fragmente auf, die den kulturhistorischen Wert der Papyrusfunde verdeutlichten. In einem Hieroglyphentext sind Bestandteile der pharaonischen Königstitulatur zu erkennen: zum einen der Eigenname des Pharao, der in eine ovale Kartusche eingeschrieben ist, zum anderen der so genannte Horusname. Letzterer steht in einer stilisierten Palastfassade, auf der ein Horusfalke thront. Genannt sind ein Chnumchufu, zu Deutsch »[Der Gott] Chnum beschützt mich«, und ein Medschedu, »Der [die Feinde] zerquetscht«. Beide Namen gehörten Pharao Cheops, wobei der Eigenname in diesem Fall Bestandteil der Bezeichnung des Bautrupps ist.
Der König der 4. Dynastie regierte von zirka 2620 bis 2580 v. Chr., er ließ die erste und größte Pyramide auf dem Gisehplateau errichten. Damit war klar: Die Texte aus dem Wadi al-Dscharf stellten die ältesten beschrifteten Papyri Ägyptens dar. Bis dahin waren Aufzeichnungen aus dem oberägyptischen Gebelein, rund 40 Kilometer südlich von Luxor, der Rekordhalter gewesen. Diese Schriftstücke stammen aus der Zeit von Cheops' Enkel Mykerinos, der von etwa 2530 bis 2510 v. Chr. herrschte und Bauherr der kleinsten der drei Pyramiden von Giseh war.
Inzwischen hat sich das genannte Textfragment aus dem Wadi al-Dscharf als Teil eines umfangreichen Konvoluts herausgestellt, das die Ausgräber als Papyrus A oder eingängiger als »Tagebuch des Merer« benannten. Erstaunlicherweise enthält es keinerlei Angaben zu den Aktivitäten im Rotmeerhafen des Wadi al-Dscharf, sondern solche zu den Bauarbeiten an der Cheopspyramide in Giseh. Konkret geht es um den Transport von Kalksteinquadern aus den Steinbrüchen von Tura, die sich am östlichen Nilufer befinden – Giseh liegt auf der westlichen Seite.
Wie und warum diese Unterlagen ans Rote Meer gelangten, rund 240 Kilometer vom Ort der darin geschilderten Ereignisse entfernt, ist noch unklar. Vielleicht wollte man, weil Papyrus einen relativ hohen Materialwert besaß, die Rollen in den Büros der Hafenverwaltung von Wadi al-Dscharf wiederverwenden. Durch Abschaben und Abwaschen der Papyrusoberfläche hätte sich die Schrift entfernen lassen. Womöglich hat die Crew die Stücke auch dort zurückgelassen. Dass sie sich im Wadi al-Dscharf aufgehalten hatte, belegen Aufschriften auf hunderten Tonbehältern, die vor allem in einer der Galerien lagen.
Wie die Matrosen vom Nil ans Rote Meer gelangten
Offenbar wurde dieselbe Schiffsbesatzung sowohl für Bauarbeiten im Niltal als auch für Expeditionsfahrten im Roten Meer eingesetzt. Demnach hätten dieselben Seeleute unterschiedliche Schiffsverbände gesteuert, einmal auf dem Fluss und einmal auf dem Meer. Eine Wasserverbindung zwischen beiden Arbeitsplätzen gab es nicht. Der Landweg lässt sich aber ermitteln: Es dürfte das Wadi Araba gewesen sein. Das größte und markanteste Trockental durchschneidet die gebirgige Arabische Wüste, etwa 180 Kilometer lang vom Niltal bis zur Rotmeerküste. Südlich davon, im Wadi al-Dscharf, gründeten die Pharaonen der frühen 4. Dynastie – möglicherweise schon Snofru, der Vorgänger von Cheops (Regierungszeit etwa von 2670 bis 2620 v. Chr.) – den allerersten altägyptischen Hafen am Roten Meer.
Die Fragmente stammen vermutlich von elf verschiedenen Papyrusrollen. Aus ihnen lassen sich bislang 13 Texte identifizieren, die so genannten Papyri A bis M. Teils ist auch deren ursprüngliche Anordnung geklärt, wobei es große Lücken zwischen den Bruchstücken gibt. Die längsten erhaltenen Abschnitte messen zirka 70 Zentimeter in der Länge.
Die Crew nannte sich »Begleiter des Boots mit Namen ›Der Uräus des Cheops ist sein Bug‹«. Von den insgesamt fünf im Wadi al-Dscharf nachgewiesenen Arbeitsgruppen wissen Ägyptologen am meisten über dieses Team. Nicht nur durch die Papyri, sondern auch durch die beschrifteten Tongefäße vom Hafenplatz. Laut den Texten war ein Inspektor Merer als Leiter der Fahrten bestimmt – nach ihm haben die Forscher den Großteil des Archivs »Tagebuch des Merer« benannt.
Aus welchem Jahr stammen die Papyri?
Die Einsätze der Mannschaft erstrecken sich über einen Zeitraum von etwa einem Kalenderjahr. Und der Zeitpunkt lässt sich recht genau eingrenzen. In der Regel führten die Pharaonen alle zwei Jahre eine landesweite Steuereintreibung und Viehzählung durch – danach benannten sie auch die Jahre. In den Papyri ist nun das »Jahr nach dem 13. Mal der Viehzählung« erwähnt. Wenn der Zensus regelmäßig stattfand, dann wäre es das 26. oder 27. Regierungsjahr von Cheops gewesen, also ungefähr 2594 oder 2593 v. Chr.
Die Texte lassen sich zudem grob in zwei Kategorien einteilen: Zum einen handelt es sich um tabellarische Listen und Abrechnungen – aufgeführt sind die an die Arbeiter gelieferten Nahrungsmittel, Waren und Materialien, was je nach Sache täglich oder monatlich erfolgte. Zum anderen sind es Logbücher, in denen detailliert der Verlauf von Arbeitseinsätzen notiert wurde. Der Trupp transportierte Quader von den Kalksteinbrüchen in Tura Nord und Tura Süd über den Nil zum Gisehplateau. Tura lieferte einen besonders hellen und feinkörnigen Kalkstein. Es dürfte sich um die Verkleidungsblöcke der Pyramide gehandelt haben, die heute vollständig abgetragen sind. Einzig an der Spitze des Grabs von König Chephren und am Sockel der Cheopspyramide sind derartige Steine noch erhalten.
Nach Ausweis der Papyri übernachtete die Schiffsmannschaft an den Orten, an denen sie gerade tätig war, also abwechselnd in den Steinbrüchen und im Hafen der Pyramidenbaustelle. Einmal kamen die Arbeiter in den Kapellen des Achet-Chufu unter – »Horizont des Cheops«, so hieß die Große Pyramide von Giseh zur Zeit des alten Ägypten.
Drei Fahrten in zehn Tagen
Wie mühselig die Einsätze waren, zeigt sich daran, dass die Crew in einer Arbeitswoche – die im alten Ägypten zehn Tage umfasste – im Schnitt gerade einmal drei Transportfahrten durchführte. Die Entfernung zwischen Tura und Giseh betrug zirka 15 Kilometer, wobei das Pyramidenfeld ein Hafenbecken besaß und mit dem Schiff angefahren werden konnte. Nach Ausweis der Papyri wurde das Team des Merer aber auch zu anderen Aufgaben herangezogen.
So bezieht sich Papyrus C wahrscheinlich auf den Bau eines Hafens im Nildelta nahe der Mittelmeerküste. Papyrus D, den wahrscheinlich ein Schreiber namens Dedi verfasst hatte, dokumentiert die Instandhaltung des Kanalsystems, das die Pyramide versorgte. Zudem sind wiederholt Versorgungs- und Wacheinsätze erwähnt, die wahrscheinlich mit dem Betrieb von Cheops' Taltempel und vielleicht auch seines Palasts in Zusammenhang standen.
Mehrfach wird das Team von Merer in den Texten als »Elite« bezeichnet und daher mit Sonderzuwendungen wie Leinenstoffen bedacht. Aus den beschriebenen Tätigkeiten und den Rationslisten lässt sich erschließen, dass die Gruppe in vier Mannschaften zu je etwa 40 Mann unterteilt war. Sie hießen »die Große«, »die Kleine«, »die Asiatische« und »die Erfolgreiche«. Jeder Abteilung stand ein Inspektor vor, darunter zwei Männer namens [Ni]kaunesut und Secher. Ägyptologen kennen beide bereits aus anderen Quellen: Sie arbeiteten auf der Baustelle der Cheopspyramide – in den späten 1990er Jahren hat der ägyptische Archäologe und ehemalige Antikenminister Zahi Hawass die Namen auf dem Arbeiterfriedhof von Nazlet el-Samman entdeckt, der am Fuß des Gisehplateaus liegt.
Die Wesire und Bauleiter des Königs
Zur Überraschung der Forscher tauchte in den Papyri noch ein alter Bekannter auf: Anchhaf. Der Mann war vermutlich ein Halbbruder von Cheops. Sein Grab liegt auf einem der Beamtenfriedhöfe im Umfeld der Großen Pyramide in Giseh. In einem Papyrus wird er als Vorsteher des Hafens von Raschechufu, einer Art Logistikzentrum am Westufer, genannt. Dort legten die Schiffe zum Entladen der Quader an. Ebenso wird Anchhaf als Wesir erwähnt. Der Wesir war der höchste Beamte nach dem Pharao.
Lange gingen Ägyptologen davon aus, dass zu jener Zeit ein anderer diese Stellung innehatte: Hemiunu, der vor allem durch seine überlebensgroße beleibte Sitzstatue im Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim bekannt ist. Er war ein Neffe oder Cousin des Cheops und besaß den Titel »Vorsteher aller Bauarbeiten des Königs«. Mit dieser Anrede war seit der 4. Dynastie das Amt des Wesirs verbunden.
Aus den Informationen lassen sich nun einige Erkenntnisse gewinnen: Die Anlieferung der Blöcke aus Tura-Kalkstein dürfte in die Schlussphase des Pyramidenbaus gehören, als es an die Fassadenarbeiten ging. Die Aufzeichnungen aus dem Wadi al-Dscharf wiederum stammen aus dem letzten Drittel von Cheops' Regierungszeit. Er könnte also die Fertigstellung seines Grabmals noch erlebt haben. Zudem ist es plausibel, dass Anchhaf wohl Hemiunu als Wesir abgelöst hat.
Ein neuer Hafen für Reisen gen Punt
Nach Cheops gab es Veränderungen an den Schiffsplätzen am Roten Meer. Der Hafen des Wadi al-Dscharf blieb nicht weiter in Nutzung. Man gab ihn zu Gunsten des weiter nördlich und damit näher an der Hauptstadt Memphis gelegenen Hafens von Ain Suchna auf. Das bezeugen dutzende Tonsiegel mit der Königskartusche des Chephren, der nach Cheops' Nachfolger Radschedef von 2570 bis 2530 v. Chr. regierte. Den neuen Ankerplatz nutzten die Pharaonen bis ins Mittlere Reich, vermutlich vorrangig für Fahrten auf die Sinai-Halbinsel. Für Expeditionen ins legendäre Goldland Punt legten die Schiffe vom südlich gelegenen Hafen Sawu am Wadi Gawasis ab.
Die Hafenorte am Roten Meer liefern tiefe Einblicke in eine vom altägyptischen Staat kontrollierte Logistik, die bereits zur Zeit des Alten Reichs fest etabliert war. Das verdeutlichen die Papyri vom Wadi al-Dscharf. Sie entpuppten sich als Glücksfund für die Ägyptologie. Das Konvolut bildet zudem die bislang einzige Textquelle, die unmittelbar aus der Bauzeit einer Königspyramide stammt. Die Papyri berichten zwar nicht darüber, ob die tonnenschweren Blöcke der Pyramiden mit Rampen oder Seilzügen aufgeschichtet wurden – darüber rätseln immer noch viele Forscher –, sie erhellen aber das Arbeitsleben eines Bautrupps vor 4600 Jahren.
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