CFS: Der Biologie des Chronischen Erschöpfungssyndroms auf der Spur
Bevor das Chronische Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrom, kurz CFS) seinen 33-jährigen Sohn zur Bettlägerigkeit zwang, hatte der Biochemiker Ronald Davis neue Möglichkeiten entwickelt, mit deren Hilfe sich Gene und Proteine schneller, effektiver und kostengünstiger analysieren ließen. Doch mittlerweile verfolgt er mit seinen Erfindungen ein neues Ziel: die Entschlüsselung jener schwer fassbaren inneren Mechanismen, die der Krankheit seines Sohnes zu Grunde liegen.
In seinem Büro am Stanford Genome Technology Center in Palo Alto hält der Wissenschaftler ein durch Nanofabrikationsverfahren hergestelltes Gerät in seinen Händen, das in Größe und Form an einen Spielwürfel erinnert. In dessen Innerem befinden sich 2500 Elektroden zur Messung des elektrischen Widerstands, mit deren Hilfe die Eigenschaften menschlicher Zellen genauer untersucht werden können. Davis setzte beispielsweise Immunzellen von sechs Personen, die an Chronischem Erschöpfungssyndrom litten, einem Stressfaktor in Form eines Spritzers Kochsalzlösung aus. Daraufhin zeigte ihm der Würfel an, dass diese Zellen nicht das gleiche Regenerationsvermögen wie die Zellen gesunder Menschen besaßen. Für eine erneute Durchführung des Experiments produzieren Davis und seine Mitarbeiter gerade weitere 100 dieser Geräte und testen zudem eine kostengünstigere Variante: einen papierdünnen Schaltkreis aus Nanopartikeln, der sich für weniger als einen Cent mit Hilfe eines Tintenstrahldruckers herstellen lässt.
Auch wenn die Erkenntnisse des amerikanischen Biochemikers nur vorläufige Ergebnisse darstellen, so helfen sie dennoch ungemein, die Erforschung des Chronischen Erschöpfungssyndroms – auch als Myalgische Enzephalomyelitis (ME/CFS) bezeichnet – auf eine breitere wissenschaftliche Basis zu stellen. Neueren Untersuchungen zufolge könnte diese Krankheit, die Mediziner in der Vergangenheit häufig als psychosomatisches Leiden abtaten, auf Fehlfunktionen bei intrazellulären chemischen Reaktionen oder Stoffwechselwegen zurückzuführen sein. "Zahlreiche Befunde untermauern inzwischen nicht nur die Richtigkeit dieser Theorie, sondern auch die Tatsache, dass es sich bei ME/CFS um eine Reihe komplexer Störungen handelt", erklärt Ian Lipkin, Epidemiologe an der Columbia University in New York City. "Wir sammeln gerade weitere Anhaltspunkte zur Durchführung kontrollierter klinischer Studien."
Ein körperliches Leiden
Für diesen Umschwung sorgte unter anderem ein im Februar 2015 veröffentlichter Bericht des US-amerikanischen Institute of Medicine (IOM). Nach Überprüfung von mehr als 9000 Studien kam ein Expertengremium zu dem Ergebnis, dass es sich beim Chronischen Erschöpfungssyndrom um ein (zu) wenig erforschtes körperliches Leiden handelt. "Im Grunde genommen wollten sie damit sagen: 'Schämt euch, dass ihr das noch nicht wissenschaftlich untersucht habt'", meint Zaher Nahle, Vizepräsident des Forschungsprogramms der Solve ME/CFS Initiative, einer gemeinnützigen Organisation in Los Angeles.
Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde NIH (National Institutes of Health) verdoppelte daraufhin ihr für 2017 geplantes Budget zur Erforschung der Krankheit von rund sechs Millionen US-Dollar (etwa 5,5 Millionen Euro) im Jahr 2016 auf zwölf Millionen US-Dollar (etwa elf Millionen Euro). Avindra Nath, Neurologe am National Institute of Neurological Disorders and Stroke der NIH in Bethesda, Maryland, hat zudem im März dieses Jahres mit der Rekrutierung der ersten Patienten für eine Studie begonnen, in deren Rahmen vergleichende Untersuchungen von Blut-, Rückenmarksflüssigkeit-, Speichel- und Stuhlproben von Patienten mit Chronischem Erschöpfungssyndrom und gesunden Personen durchgeführt werden sollen. Der Mediziner will unter anderem Darmbakterien und Proteine, die an Stoffwechsel und Immunreaktionen beteiligt sind, genauer unter die Lupe nehmen. "Ich nenne es eine Hypothesen bildende Untersuchung", erklärt Nath. "In Wissenschaftlerkreisen wird gerade gründlich darüber nachgedacht, wie man den Forschungsbereich aufbauen und strukturieren könnte."
Von Tests zu medizinischer Behandlung
Eine Entschlüsselung der CFS-Mechanismen könnte zu neuen Behandlungsstrategien führen – und zu ersten diagnostischen Tests. Laut Schätzungen der US-Behörde für Seuchenschutz und Prävention (Centers for Disease Control and Prevention, CDC) sind in den Vereinigten Staaten eine Million Menschen an ME/CFS erkrankt; der IOM-Bericht geht sogar von 2,5 Millionen Betroffenen aus. Für Deutschland fehlen derartige Zahlen noch, in einer Studie des Robert Koch-Instituts liegt die durchschnittlichen Häufigkeit zwischen 3,28 Prozent bei selbst berichteter und 0,76 Prozent bei ärztlich erfasster Krankheit. Bei der Diagnose wenden Mediziner einen umfangreichen Kriterienkatalog an, der unter anderem prüft, ob Patienten unter kognitiven Beeinträchtigungen und einer länger als sechs Monate anhaltenden schweren Erschöpfung (Fatigue) leiden; zudem sollten andere Erkrankungen ausgeschlossen werden.
"Mein Sohn kann nicht lesen. Er kann keine Musik hören und weder sprechen noch schreiben", erklärt Davis. "Wenn die Ärzte eine Reihe verschiedener Tests mit ihm durchführen, lassen sich allerdings keine Auffälligkeiten feststellen." Wenn es einen Test gäbe, der signalisieren könnte, dass etwas nicht in Ordnung sei, wäre das bereits eine große Hilfe, fügt der Biochemiker hinzu.
Bei der Untersuchung von 21 Patienten mit Chronischem Erschöpfungssyndrom, die gleichzeitig unter einem Reizdarmsyndrom litten (diese Erkrankungen treten häufig gemeinsam auf), gelang es dem Epidemiologen Lipkin, eine ganz spezielle Gruppe von Darmbakterien zu identifizieren, die bei Gesunden unterrepräsentiert sind. In der Publikation seiner Forschungsergebnisse, die in der Fachzeitschrift "Microbiome" erscheinen sollen, bringt der Wissenschaftler daher beide Erkrankungen mit veränderten Körperprozessen in Verbindung, an denen im Darm lebende Mikroorganismen beteiligt sind – etwa die Produktion des Vitamins B6. Eine weitere Arbeitsgruppe, deren Studie im Dezember 2016 in "JCI Insight" veröffentlicht wurde, hatte in diesem Zusammenhang funktionelle Probleme eines Enzyms nachgewiesen, das für die zelluläre Energieerzeugung von entscheidender Bedeutung ist.
Doch statt sich von dem Wust metabolischer, mikrobieller und immunologischer Daten im Zusammenhang mit chronischer Erschöpfung weiter verwirren zu lassen, versuchen Forscher zu ergründen, auf welche Art und Weise die verschiedenen körpereigenen Systeme sich gegenseitig beeinflussen. Derzeit herrscht Einvernehmen darüber, dass das potenzielle Zusammenwirken vieler individueller Auslöser, die ähnliche Stoffwechselwege verändern, schließlich zu jener Ermüdung führen kann, die das gesamte Leben beeinträchtigt.
Laut Davis könnten solche Stoffwechselstörungen zur Folge haben, dass Zellen unter Stress in ihrer Energieproduktion beeinträchtigt werden; dies würde auch die Resultate seines Experiments mit dem Nanotechnikwürfel erklären. Zunächst möchte der Biochemiker aber weitere Daten von CFS-Patienten mit denen gesunder oder an anderen Erkrankungen leidender Menschen vergleichen und damit die Richtigkeit seiner Ergebnisse überprüfen. "Dies hier ist keine akademische Übung", erklärt Davis. "Meinem Sohn geht es wirklich sehr schlecht."
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