Werkstatt-Philologie: »Kafkas Texte sollten neu gelesen werden«
Herr Kilcher, Generationen von Schülern, Studenten und Philologen haben Kafka gelesen – manche irritiert, manche elektrisiert von seinen enigmatischen Texten. Nun sagen Sie, man solle ihn noch einmal neu interpretieren. Was haben wir bisher in Kafkas Werk übersehen?
Ich meine weniger, dass Kafkas Texte noch einmal neu interpretiert werden sollten. Sie sollten neu gelesen werden. Lesen ist bescheidener als Interpretieren, dafür aber genauer und näher am Text und seiner Alchemie.
Worum geht es Ihnen konkret?
Mir geht es um die Praxis – um Kafkas Praxis des Schreibens und damit auch um die Machart seiner Texte. Diese zeigt sich förmlich bei einem sorgfältigen Vorwärts- und Rückwärtslesen, wenn man der Schrift und ihren Spuren in allen Richtungen folgt. Was sich dann auftut, ist das Räderwerk von Kafkas Werkstatt, der Maschinenraum seiner schriftstellerischen Arbeit. Diese praktische Seite von Kafkas Schreiben ist es, die bisher weitgehend übersehen wurde: seine operativen literarischen Arbeitsvorgänge, die Arbeit am Text.
In Ihrem aktuellen Buch räumen Sie mit der Vorstellung auf, dass Kafka ein realitätsferner Sonderling war, der nachts im stillen Kämmerlein verschlüsselte Traumbotschaften zusammenfantasierte. Können Sie das genauer ausführen?
Nach dieser weit verbreiteten Vorstellung arbeitete der Schriftsteller Kafka gewissermaßen voraussetzungslos, seine Geschichten gelten vielen als Geburten einer genialischen Fantasie- und Traumwelt. Sie sind aber keine Schöpfung aus dem Nichts, sondern Produkte einer schöpferischen Arbeit mit Material, also Anverwandlung, Vermischung, Umwandlung et cetera. Genau hier liegt Kafkas Genialität: Seine schriftstellerische Werkstatt ist eine Art Weberei, in der verschiedene Fäden, Stoffe und Bruchstücke zu einem heterogenen Neuen verflochten werden, zu vielgestaltigen Patchworks.
Was verwob er zu neuen Patchworks?
Potenziell alles, was er als Gelesenes und Gehörtes verarbeitet hat, von Schulzeit und Jurastudium über die näheren literarischen und beruflichen Kontexte sowie die Diskurse über Körper und Psyche des Menschen, über Biologie und Gesellschaft bis hin zu den historisch-politisch-ökonomischen Kontexten seiner Zeit.
Aber ist das denn etwas Besonderes? Auch Thomas Manns »Zauberberg« strotzt nur so von Anspielungen auf Zeitgeschehen, Philosophie und Wissenschaft – bis hin zur Relativitätstheorie –, um nur ein Beispiel anzuführen. Was genau ist das genuine Kennzeichen von Kafkas Schaffensprozess?
Es stimmt, dass Kafka keine grundsätzliche Ausnahme bildete. Dennoch bestehen wesentliche Unterschiede. Thomas Manns Romane erweisen sich als geradezu enzyklopädisch gelehrt, sie sind voller erkennbarer Bezüge. Man spürt förmlich, wie Mann mit dem Stift in der Hand las, genau wie es sein Romanheld Hans Castorp im »Zauberberg« tut: Nietzsche, Wagner, die Bibel, Goethe, Einstein, Darwin, Spengler, Schönberg ... Sie alle sind in Manns Texten meist erkennbar zitiert und eingeflochten.
Und bei Kafka?
Bei Kafka sind halb bewusste und unbewusste Verarbeitungsprozesse des Lesens und Schreibens am Werk. Das Gelesene, das bei Mann nicht selten mit Händen zu greifen ist, wird bei Kafka indirekt, bruchstückhaft, assoziativ, verschoben, verwandelt, verarbeitet und damit verrätselt eingebaut. Kafkas Textverarbeitung gleicht eher der freudianischen Traumarbeit. Das macht die Analyse seiner Texte auch so anspruchsvoll.
»Genau hier liegt Kafkas Genialität: Seine schriftstellerische Werkstatt ist eine Art Weberei, in der verschiedene Fäden, Stoffe und Bruchstücke zu einem heterogenen Neuen verflochten werden, zu vielgestaltigen Patchworks«
Seiner Verlobten Felice Bauer beschrieb Franz Kafka einmal seine »Gier nach Zeitschriften«: »Ich habe alles mögliche in mich hineingelesen«, berichtete er ihr 1913. Ist diese Aussage programmatisch für Kafkas Art, Medien zu konsumieren?
Die Lektüre von Zeitschriften spielt eine eminent wichtige Rolle für Kafkas Schreiben. Er las Zeitungen und Zeitschriften im großen Stil, er verschlang sie geradezu – in Caféhäusern, Lesehallen, Bibliotheken, Hotels, Sanatorien. Von Freunden erhielt er Nummern ausgeliehen oder nachgeschickt. Auf diese Weise eignete er sich die zeitgenössische Literatur, Kultur, Politik und Wissenschaft an. Zugespitzt: Seine derart intensive Lektüre von Zeitschriften machten ihn zu einem sehr wachen Zeitgenossen. Hinweise darauf findet man auch in seinem Werk. In der »Verwandlung« etwa liest Protagonist Gregor Samsa sowie insbesondere sein Vater täglich stundenlang Zeitungen.
Welche Themen interessierten Kafka besonders?
Kafkas Interessen sind nicht leicht eingrenzbar. In Briefen und Tagebüchern bezog er sich zwar immer wieder direkt auf Gelesenes, in seinen literarischen Texten jedoch blieb er meist vage und indirekt beziehungsweise ging sehr frei mit Gelesenem um. Er sog so ziemlich alle großen Diskurse seiner Zeit in sich auf. Dennoch treten bei Kafka unter den Themenfeldern, die zu seiner Zeit in Zeitungen und Zeitschriften verhandelt wurden, einige besonders hervor, namentlich zu Literatur und Judentum.
Wie kann man sich das ganz praktisch vorstellen? Kafka hockt in einem Prager Kaffeehaus, stöbert in den ausliegenden Zeitschriften, liest sich hier fest, ist dort von etwas gefesselt – und wenig später baut er eine Auswahl davon als Versatzstücke in »Das Urteil« oder »Die Verwandlung« ein?
Die Verflechtungen von Lesen und Schreiben sind bei Kafka nicht linear und direkt vorstellbar. Wenn Kafka selbst Einblicke in seine Prozeduren der Textverarbeitung gab, dann zeichnete er etwa das Bild eines Durcheinanders von gelesenen und geschriebenen Textbausteinen auf einem überfüllten Schreibtisch: alte Zeitungen, Broschüren, Verlagskataloge und so weiter vermischen sich da mit Entwürfen, von denen die meisten schon längst wieder verworfen sind. Diese Vorstellung eines überbordenden Schreibtischs steht bildhaft für sein Verfahren einer freien und assoziativen Verknüpfung der Fantasie. Diese kann sich in halb bewussten und unbewussten Zuständen – bei nächtlichem Schreiben – weitaus besser entfalten als unter der Kontrolle des Bewusstseins. »Das Urteil« schrieb Kafka in nur einer Nacht. Dazu notierte er: »Gedanken an Freud natürlich«. In diesem Kommentar reflektiert er seine Art zu arbeiten selbst.
Die Literaturtheorie entwickelte schon in den späten 1960ern das weithin anerkannte Konzept der Intertextualität: Kein Text steht für sich allein, jeder Text hat explizite oder implizite Bezüge zu vielen anderen Texten. Inwiefern geht Ihr »Werkstatt«-Konzept für Kafka darüber hinaus?
Intertextualität im Sinne von Offenheit und Bezüglichkeit von Texten ist fraglos eine Grundlage für das Verständnis von Kafkas Textarbeit. Allerdings lässt sich Intertextualität unterschiedlich verstehen. In Kafkas Werkstatt werden Texte sehr frei verarbeitet. Es wird nicht nur ohne Anführungszeichen zitiert, sondern auch bruchstückhaft angespielt, verschoben, umgeschmolzen, verwandelt et cetera. Das Werkstatt-Konzept zieht eben auch die assoziativen, halb bewussten Bezüge sowie Prozesse der Umarbeitung in Betracht.
Wenn für Kafkas Schreiben sein Lesen eine so wichtige Rolle spielte: Was wissen wir über die Bibliothek in seinem Kopf? Von Kafkas privater Büchersammlung sind nur noch gerade mal 279 Bände erhalten. Aber er besaß ja weitaus mehr Literatur und las noch viel mehr …
Die erhaltenen Bände aus Kafkas Bibliothek, die 1980 bei einem Münchner Antiquar wieder auftauchten und seit 1982 in der Universitätsbibliothek Wuppertal liegen, repräsentieren tatsächlich nur einen Teil von Kafkas Lektüren. Kafka besaß nicht nur deutlich mehr Bände, insbesondere Zeitschriften und Broschüren, die physisch leider verschollen sind. Sondern er las darüber hinaus auch vieles, was er nicht besaß, zumal Kafka kein Sammler war und keinen Platz für eine große Bibliothek hatte. Sein Bücherkasten blieb – gerade im Vergleich zu Thomas Manns stattlicher Bibliothek – sehr überschaubar. Der Gesamtbestand von Kafkas Lektüren dagegen, seine virtuelle Bibliothek also, ist viel umfangreicher. Und diese ist relevant, wenn wir Kafka verstehen wollen.
In Ihrem aktuellen Buch haben Sie beispielhaft eine der geheimnisvollsten Kurzerzählungen Kafkas überhaupt neu interpretiert: »Die Sorge des Hausvaters«, veröffentlicht im Dezember 1919. Warum ausgerechnet dieses eher unbekannte Prosastück und nicht ein Jahrhundertwerk wie »Die Verwandlung« oder »Der Process«?
Ich habe dieses besondere Beispiel mit der so merkwürdigen Figur des »Odradek«, einer Gestalt zwischen Ding und Person, aus zwei Gründen gewählt. Zum einen, weil der Text als einer der rätselhaftesten und schwierigsten Kafkas gilt, der sich der Deutung geradezu aktiv zu widersetzen scheint. Und zum anderen, weil sich an dieser Erzählung die Komplexität von Kafkas Arbeitsweise besonders gut demonstrieren lässt. Das Zusammenspiel von Lesen und Schreiben ist in diesem Text insofern besonders ausgeprägt, als er sich gleich auf mehrere Lektüre-Kontexte bezieht, also polyvalent, gleichsam kaleidoskopisch ist und folglich unterschiedlich lesbar gemacht werden kann.
Um welche Kontexte geht es?
Ich spiele an diesem Text exemplarisch vier miteinander verbundene Kontextualisierungen durch. Alle vier verhandeln jeweils ein Anderes, ein Unheimliches von Kafkas Moderne: im Fall der Psychoanalyse ein psychologisches Anderes – nämlich das Unbewusste; im Fall des Marxismus ein ökonomisches – die Ware; im Fall des Zionismus ein politisches – die Diaspora; und im Fall des Okkultismus ein literarisches – das Gespenstische. Die gleichzeitige Verflechtung von Versatzstücken aus diesen vier zeitgenössischen Diskursen bedingt und verstärkt in Kafkas kleinem Text die Rätselhaftigkeit des Un-Wesens Odradek.
»Kafkas Textverarbeitung gleicht der freudianischen Traumarbeit. Das macht die Analyse seiner Texte auch so anspruchsvoll«
Gehen wir auf die Psychoanalyse etwas näher ein. Wie rezipierte Kafka Sigmund Freud, und welche Indizien dafür finden Sie in seinem Werk?
Die Psychoanalyse war zu Kafkas Zeit – auch in den von ihm gelesenen Zeitschriften – beinahe omnipräsent. Ihr zu entgehen war fast unmöglich. Sie war, wie Kafka es formulierte, ebenso existent wie seine Generation. Allerdings war sein Verhältnis zu ihr höchst ambivalent. Einerseits waren ihm viele ihrer Konzepte und Begriffe bestens bekannt. Sie sind daher nicht nur in Tagebüchern und Briefen, sondern auch in manchen seiner literarischen Texte wie »Das Urteil«, »Die Verwandlung« oder »Brief an den Vater« mit Händen zu greifen – also überall da, wo es um familiäre Verhältnisse, Vater-Sohn-Konstellationen, Sexualität oder – wie in »Die Sorge des Hausvaters« – um die rätselhafte Gestalt des Unbewussten selbst geht. Andererseits war Kafka die Psychoanalyse unheimlich, er hatte geradezu innere Widerstände gegen ihre Erklärungsmuster – was er dann aber seinerseits wiederum selbstironisch psychoanalytisch erklärte.
Kafka zu interpretieren, dürfte trotz Ihres pragmatischen »Werkstatt«-Ansatzes knifflig bleiben, wage ich zu prognostizieren. Wie schützen wir uns davor, in seine Texte vermeintliche Lektüren Kafkas hineinzulesen, die es vielleicht nie gegeben hat?
Bedeutung in Kafkas so schwer verständliche Texte hineinzulesen, war über Jahrzehnte hinweg das Geschäft der Kafka-Hermeneutik. Davor kann uns gerade die pragmatische Frage nach Verfahren und Arbeitsvorgängen bewahren. Denn dieser Ansatz ist nicht an texttranszendierenden Sinnfragen interessiert, sondern vielmehr an Verfahrensfragen, nicht an Bedeutung, sondern an deren Herstellung im Prozess der Textverarbeitung. Kafkas Texte werden dadurch aber keineswegs weniger komplex, ganz im Gegenteil. Denn die Komplexität liegt nicht so sehr in der Deutung, die doch Texte tendenziell vereinfacht, transzendiert und reduziert. Die Komplexität liegt vielmehr in den Arbeitsvorgängen von Kafkas Werkstatt. Eine Werkstatt-Philologie, wie ich sie vorschlage, muss ebendiese so genau wie möglich untersuchen, also die hochkomplexen Prozesse der Anverwandlung und Umwandlung, in denen Lesen und Schreiben verflochten sind.
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