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Gletscher-Rückzug: Der gestohlene Fluss

"Flusspiraterie" in Alaska: Ein schmelzender Gletscher gräbt einem See das Wasser ab. Das Phänomen trat zuletzt am Ende der Vereisung auf.
Ein breiter Schmelzwasserfluss zwischen Ufern mit Tundrenbewuchs. Im Hintergrund hohe Berge, darüber dramatische Wolken. Vermutlich haben die Autoren das Bild von der örtlichen Tourismuszentrale.

Die Schmelzwässer des Kaskawulsh-Gletschers, eines Teils des riesigen St.-Elias-Eisfeldes in Alaska, flossen bisher nach Nordwesten in den 70 Kilometer langen Kluane Lake. Doch 2016 änderte sich das: Seither gräbt der nach Südosten fließende Kaskawulsh River dem fast bodenseegroßen Gewässer den Nachschub ab. Durch den Rückzug des Gletschers entstand ein bis zu 20 Meter tiefer Eiscanyon, durch den jetzt das Wasser, das zuvor in den Kluane Lake und danach in die Beringsee floss, schlussendlich nahe der Kanadischen Grenze in den Pazifik strömt – etwa 1500 Kilometer weiter südöstlich als vorher.

Wie ein Team um Daniel Shugar von der University of Washington in "Nature Geoscience" berichtet, entstand während einer ungewöhnlichen Wärmeperiode im Frühjahr 2016 ein Spalt im Eis der Gletscherzunge. Dieser verband die höher gelegene nordwestliche Gletscherfront, die bisher den See speiste, mit dem etwa 50 Meter niedrigeren Kaskawulsh River. Der Fluss erhielt bisher kaum ein Fünftel des Schmelzwassers des Gletschers. Nach dem Durchbruch von 2016 schwoll er, das zeigen Pegelmessungen, während der Schmelzsaison auch prompt auf das Anderthalbfache seines höchsten zuvor gemessenen Abflusses an. Dagegen darbt der nordwestliche Abfluss, und der Spiegel des Sees sinkt deutlich – womöglich werde sogar in nicht allzu ferner Zukunft der aus ihm entspringende Fluss versiegen, so der Forscher.

Umleitung | Der zurückweichende Gletscher gab 2016 diesen Kanal frei. Seither fließt das Schmelzwasser nicht mehr nach Nordwesten (rechts oben) ab, sondern in den Kaskawulsh River, der links unten außerhalb des Bildes beginnt.

Diese "Flusspiraterie" ist das erste bekannte moderne Beispiel für einen Prozess, den man bisher nur aus geologischen Spuren vom Ende der letzten Kaltzeit kennt: Als sich die kontinentalen Eisschilde zurückzogen, sortierten sich auch die Fließrichtungen vieler großer Flüsse um. Der Rückzug der Gletscher außerhalb der Polargebiete in den letzten Jahrzehnten wird, so vermuten Fachleute, eine neue Phase derartiger Veränderungen einläuten.

Der Wasserdiebstahl am Gletscher ist womöglich sogar erst der Anfang. Der Kaskawulsh River könne, so die Arbeitsgruppe, theoretisch sogar nordwärts erodieren und dereinst den See selbst anzapfen. Damit wäre der Urzustand des Flusses wieder hergestellt: Bis zur kleinen Eiszeit vor etwa 300 Jahren floss das Wasser aus dem Kluane Lake am Gletscher vorbei in den Pazifik – doch dann blockierte das Eis das Tal und kehrte den Lauf des Flusses um.

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