Direkt zum Inhalt

Georg von Podiebrad: Der Ketzerkönig, der die EU erfand

Vor 600 Jahren wurde Georg von Podiebrad geboren - in ein Land, das sich mitten im Krieg gegen Papst und Kaiser befand. 40 Jahre später arbeitet er an einem abenteuerlichen Plan: ein vereintes Europa auf Kosten der Mächtigsten.
Georg wird erster nichtkatholischer König des Christentums

Am 16. Mai des Jahres 1464 setzt sich in Prag eine etwa 30-köpfige Delegation Richtung Westen in Bewegung. Von ihrem König haben die böhmischen Gesandten zwei Dinge mit auf den Weg bekommen: ein revolutionäres Dokument, das die gesamte europäische Ordnung auf den Kopf stellen soll, und die welthistorische Aufgabe, am französischen Hof über dessen Umsetzung zu verhandeln. Was König Georgs Abordnung mit sich im Gepäck führt, ist nicht weniger als der konkrete Plan, eine europäische Union zu gründen – mitsamt Parlament, Gerichtshof und gemeinsamem Etat –, um so dem von Kriegen geplagten Kontinent endlich dauerhaften Frieden zu bringen. Georg und seine Berater haben die Vision einer EU fast 500 Jahre vor deren tatsächlicher Gründung.

Dem Papst, dem eigentlichen Herrscher des christlichen Europas neben dem Kaiser, haben sie nur eine Nebenrolle zugedacht: Als Streitschlichter und Kassenwart der Union soll der Pontifex in Rom künftig den Mächtigen zuarbeiten. Die Dreistigkeit dieses Manövers ist fast unerhört. Und dennoch stößt der böhmische Herrscher bei Europas Königshäusern auf offene Ohren.

Georgs Angriff auf die Autorität des Papstes dürfte kaum einen seiner hochherrschaftlichen Zeitgenossen überrascht haben. Der Konflikt mit Rom war Georg von Podiebrad, der vor 600 Jahren am 6. April 1420 in der kleinen Stadt Poděbrady, etwa 50 Kilometer östlich von Prag, geboren wurde, förmlich in die Wiege gelegt. Als Spross eines bedeutenden mährischen Adelsgeschlechts reißt es ihn in den gewaltsamen Strudel, der sechs Jahre zuvor, fernab von Georgs Heimat, im Bodenseestädtchen Konstanz seinen Anfang nimmt. Dorthin hatte 1414 die katholische Kirche zu einem Konzil der Superlative geladen. Geistliche und weltliche Herrscher höchsten Rangs und Namens reisten an, darunter einer nicht ganz freiwillig: Der exkommunizierte böhmische Geistliche Jan Hus erschien auf dem Konzil, um sich wegen seiner kirchenkritischen Thesen zu rechtfertigen.

Bereits ein Jahrhundert vor Martin Luther hatte der Reformator, dessen Lehre stark unter dem Einfluss des englischen Theologen John Wyclif stand, die Kirche für den Ablasshandel und die Anhäufung von Reichtümern kritisiert. Hus forderte eine arme und ursprüngliche Kirche ohne weltliche Macht, die sich nur von Christus und der Heiligen Schrift, aber nicht vom Willen eines Papstes leiten lassen sollte. Dafür flogen ihm die Herzen der böhmischen Bevölkerung zu, schon bald zählte sich ein Großteil seiner Landsleute zu seinen Anhängern. Doch anders als bei Luther nahm seine Geschichte kein gutes Ende: Obwohl der römisch-deutsche König Sigismund dem Reformator sicheres Geleit zurück in seine Heimat versprochen hatte, wurde Hus verhaftet, schließlich zum Ketzer erklärt und am 6. Juli 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Hus' Tod entzündet das Pulverfass Böhmen

Die Nachricht von seiner Ermordung setzte das politische und religiöse Pulverfass Böhmen in Brand. Im ganzen Land kam es zu Unruhen. Katholische Kirchen wurden durch die Hussiten übernommen. 1419 eskalierte die Lage vollends und mündete in einen 17 Jahre dauernden Bürgerkrieg, der europäische Dimensionen annahm. In insgesamt fünf Kreuzzügen gegen die Aufständischen versuchte König Sigismund, der nach der böhmischen Krone trachtete, mit seinen Verbündeten und dem Segen des Papstes die Hussiten niederzuringen. Diese wiederum spalteten sich in einen extremistischen und einen gemäßigten Flügel und führten ihrerseits Krieg gegeneinander.

Als sich nach mehr als einem Jahrzehnt abzeichnete, dass der Konflikt nicht militärisch zu lösen war, trafen sich die gegnerischen Parteien auf einem neu einberufenen Konzil in Basel, um über Friedensbedingungen zu verhandeln. Von ihren Kernforderungen konnte die hussitische Seite letztendlich nur eine durchsetzen, die Anerkennung der Kommunion »unter beiderlei Gestalt« (lateinisch: communio sub utraque specie), von der sich auch die Bezeichnung »Utraquisten« für den gemäßigten Flügel ableitet. Das bedeutete, dass den Gläubigen bei der heiligen Messe nun nicht mehr nur das Brot zustand – in Form der Hostie –, sondern auch der Wein. Dieser war eigentlich, laut einer gegen die Hussiten gerichteten Regelung des Konstanzer Konzils, dem Priester vorbehalten.

Das Zugeständnis war für die Hussiten, die den »Laienkelch« sogar zum Symbol ihrer Bewegung erhoben hatten und auf ihren Fahnen abbildeten, ein beträchtlicher Gewinn. Noch bedeutsamer aber war an den »Basler« oder »Prager Kompaktaten« genannten Vereinbarungen, dass ihnen die katholische Kirche damit de facto Unabhängigkeit einräumte. Im Gegenzug revanchierten sie sich mit Konzessionen an den Vatikan und erkannten letztlich Sigismund, der sie nicht nur 17 Jahre mit Krieg überzogen hatte, sondern ihnen auch als Verräter von Jan Hus galt, als König an. Im Jahr 1436 endete der Krieg und mündete in einen Frieden, dem nicht zu trauen war: Wie lange wohl würde die machtbewusste päpstliche Kurie die Existenz von zwei Konfessionen im Land dulden?

Jan Hus auf dem Scheiterhaufen | König Sigismund hatte dem Reformator aus Prag 1414 freies Geleit zugesichert. Doch als sich die Kirche gegen Hus wendete, schritt er nicht ein. Den Hussiten galt Sigismund damit als eigentlicher Mörder des Reformators.

Für den jungen Georg war der Krieg stets Teil seines Lebens gewesen. Schon mit 14 hatte er an der Schlacht bei Lipan teilgenommen, in der die gemäßigten Utraquisten dem radikalen Flügel der Hussiten, den Taboriten, eine vernichtende Niederlage zufügten. Der Friedensschluss, den er nun – zwei Jahre später – miterlebte, markierte den Beginn seines steilen Aufstiegs in den Reihen der hussitischen Bewegung. Zehn Jahre danach avancierte er zum Anführer der utraquistischen Partei. 1452, mit 32 Jahren, wurde Georg schließlich zum Reichsverweser ernannt. In seiner Funktion als Regent für den noch minderjährigen Ladislaus Postumus war er fortan der mächtigste Mann im Staat. Als der junge König 1457 mit 17 Jahren überraschend starb, ebnete das Georgs Weg zur Krone. Das Gerücht, er habe seine Hände mit Blut befleckt, um auf den Thron zu gelangen, hielt sich über Jahrhunderte. Erst in den 1980er Jahren konnte es widerlegt werden, als Ladislaus' Überreste im Prager Veitsdom exhumiert und untersucht wurden. Der jugendliche Monarch war an einer Form der Leukämie gestorben.

Ein König, der kein Katholik ist

So wurde Georg von Podiebrad am 2. März 1458 zum König von Böhmen und damit zu einem der mächtigsten Potentaten Europas gewählt. Sein Herrschaftsbereich umfasste nicht nur Böhmen und Mähren, die auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik liegen, sondern auch Schlesien mit seiner wohlhabenden Hauptstadt Breslau sowie die Ober- und die Niederlausitz. Als einer der sieben Kurfürsten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation beteiligte sich der böhmische König zudem an der Wahl des deutschen Königs. Erstmals seit 150 Jahren regierte nun jemand aus einem einheimischen und – im europäischen Vergleich – unbedeutenden Geschlecht über dieses Gebiet, das sich von den Karpaten bis nach Brandenburg erstreckte.

Georg sucht nach einem geschickten Schachzug gegen die päpstliche Bedrohung

Und dieser Jemand war nichts anderes als ein Ketzer, ein der wahren Kirche Gottes Abtrünniger. So jedenfalls musste der Papst die Thronbesteigung des ersten nicht katholischen Königs in der Geschichte des katholischen Europas sehen. Doch Pius II. begriff darin auch eine Chance. Eine günstige Gelegenheit, um die vor mehr als 20 Jahren getroffenen Vereinbarungen mit den Hussiten aufzukündigen und Böhmen wieder vollständig in den Einflussbereich des Papstes zu zwingen.

Der Hussitenkönig Georg von Podiebrad auf einer Briefmarke | 1964 erinnerte die Post der Tschechoslowakei mit einer Briefmarke an den König und sein europäisches Einigungsprojekt.

Georg war sich der Gefahr, die von Rom ausging, von Anfang an bewusst. Es war jederzeit möglich, dass der Pontifex die »Basler Kompaktaten«, die der Garant für die böhmische Religionsfreiheit waren, aufheben und den Kaiser und die deutschen Fürsten zu einem neuen Kreuzzug gegen sein Reich aufstacheln würde. Kaum dass er den Thron bestiegen hatte, versuchte der Monarch darum durch eine kluge Bündnis- und Heiratspolitik sowie die letztlich erfolglose Bewerbung um den Titel des römisch-deutschen Königs seine Stellung im europäischen Machtgefüge zu festigen. Das eigentliche Problem aber blieb bestehen: Weder seine Herrschaft noch sein Glaube hatten eine Zukunft, solange der Heilige Stuhl nicht beide dauerhaft anerkannte. Der Hussitenkönig brauchte einen Plan – mit welchem geschickten Schachzug könnte er sich der päpstlichen Bedrohung erwehren?

Da traf es sich, dass Georg die Bekanntschaft des Franzosen Antoine Marini aus Grenoble machte. Marini war ein umtriebiger und vielseitiger Unternehmer, der sich seit 1459 als technischer Berater des königlichen Münzmeisters in Prag aufhielt. Schnell hatte er die tschechische Sprache erlernt und Georgs Vertrauen erworben, wodurch der Franzose in den Beraterstab des Königs aufgestiegen war.

Eine europäische Union gegen einen gemeinsamen Feind

Marini zeigte sich erkenntlich, indem er seinem Herrn eine kreative Lösung für dessen Problem anbot: Wie wäre es, wenn das christliche Europa sich endlich vereinen, alle Konflikte untereinander beenden und seine gebündelte Kraft gegen den wahren Feind, das Osmanische Reich, einsetzen würde? Die Bedrohung, die von den muslimischen Türken ausging, war real. Innerhalb von 150 Jahren hatte sich ihr Herrschaftsgebiet von einem Fleck in Kleinasien zu einem riesigen Reich ausgedehnt, das über den Balkan immer weiter Richtung Zentraleuropa vordrang. 1453 hatte die Eroberung Konstantinopels, der glanzvollen Hauptstadt des Byzantinischen Reichs und der christlichen Orthodoxie, das Abendland mit Entsetzen erfüllt. Bis 1458 hatten die Osmanen ganz Griechenland eingenommen, ein Jahr später fiel Serbien, 1463 eroberten sie Bosnien.

Durch Unentschlossenheit und innere Fehden gehemmt, sahen die Europäer tatenlos zu, wie ein christliches Reich nach dem anderen in die Hände des Sultans fiel. Und hatte nicht Papst Pius II. im Jahr 1459 auf dem Konzil von Mantua die europäischen Fürsten höchstselbst dazu aufgerufen, ihre Zwistigkeiten untereinander einzustellen und gemeinsam gegen die Türken vorzugehen? Wenn Georg diesen Gedanken nun aufgriff und sich mit seinen hussitischen Glaubensbrüdern an die Spitze der Kreuzzugsbewegung stellte – wie konnte der Heilige Vater sie da länger der Häresie verdächtigen?

Der »Friedensvertrag für die gesamte Christenheit« sollte den Frieden sichern – auch gegen Rom

Doch Marinis Plan ging weit darüber hinaus. Was ihm vorschwebte, war ein neues, komplexes System der Friedenssicherung, das Europa nicht nur im Kampf gegen die Türken einen sollte, sondern Böhmen und seinen König dauerhaft vor Aggressionen durch den Papst oder andere Staaten schützen sollte. Wie dringlich dieses Anliegen war, zeigte sich spätestens am 31. März 1462, als das eintrat, was Georg von Beginn seiner Herrschaft an befürchtet hatte. Der päpstliche Aufruf zu Einigkeit und zum Kampf gegen die Osmanen bedeutete nicht, dass Pius II. gewillt war, die Hussitenfrage auf sich beruhen zu lassen. So erklärte er die »Basler Kompaktaten« an diesem Tag offiziell für ungültig und forderte Georg auf, Böhmen in die katholische Einheit zurückzuführen.

Marinis Idee einer europäischen Friedensunion war zu diesem Zeitpunkt bereits so weit vorangeschritten, dass er sie in einem Traktat niedergeschrieben hatte und wenige Monate später Böhmen verließ, um im Ausland dafür zu werben. Über Venedig, Mailand und Ungarn gelangte er Ende des Jahres an den Hof des französischen Königs. Überall, wo Marini vorsprach, traf er mit seinem Plan auf offene Ohren. Die Franzosen ließen ihn sogar wissen, das einzig Bedauerliche daran sei, dass er keine Vollmachten mitgebracht habe, um ihn sogleich in die Tat umzusetzen. Alles deutete darauf hin, dass das große Projekt gelingen könnte.

Papst Pius II. in Ancona | In der italienischen Hafenstadt versuchte der Papst einen Angriff gegen das Reich der Osmanen zu organisieren. Sein Tod verhinderte zwar die Umsetzung des Vorhabens, doch die päpstlichen Kreuzzugspläne nahmen Georgs Vision eines europäischen Bündnisses jede Chance auf Umsetzung. Das Bild zeigt ein zwischen 1502 und 1505 entstandenes Fresko von Bernardino Pinturicchio in Siena.

Worin genau bestand nun die Idee? Das Manifest mit dem Titel »Tractatus pacis toti christianitati fiendae« (Friedensvertrag für die gesamte Christenheit), an dessen Endfassung höchstwahrscheinlich mehrere Autoren mitgewirkt haben, setzt mit einer Wehklage über den Zustand des christlichen Abendlandes ein. Einst habe es eine Zeit gegeben, in der das Christentum 117 »überreiche Königreiche« umfasst habe. »Damals gab es auf der ganzen Welt kein einziges Volk, das es gewagt hätte, die Macht der Christen herauszufordern. Indessen, wie sehr diese jetzt zerrissen, erniedrigt, dürftig geworden, allen ehemaligen Glanzes und einstiger Herrlichkeit entblößt sind, wissen wir alle.« Aus diesem Grunde sei es notwendig, dass endlich »unter den Christen ein wahrer, reiner und beständiger Friede sowie Einigkeit und Liebe geschaffen und dass der Christenglaube gegenüber dem furchtbaren Türken verteidigt werde«.

Die Struktur der Union erinnert frappierend an heute

Um das zu erreichen, schlagen die Autoren die Gründung einer Union vor. Streitigkeiten innerhalb dieses Bundes sollten fortan nicht mehr mit Waffengewalt gelöst, jeder Friedensbrecher hart bestraft werden. »Wir werden vielmehr einer dem anderen gegen jeden lebenden Menschen beistehen, der uns oder einen von uns durch eine Tat ohne rechtliche Grundlage feindlich anfallen sollte«, schreiben die Verfasser des Traktats. Auch zwischen Staaten, die dem Bündnis nicht angehörten, sollte im Konfliktfall vermittelt werden. Da das Ziel der Union nicht nur Friede, sondern auch Gerechtigkeit sei, müsse eine neue, einheitliche Rechtsordnung eingeführt werden, über die ein zentraler Gerichtshof zu wachen habe. Manche Historiker betrachten das Friedensmanifest darum als Geburtsstunde des Völkerrechts. Im Kontext des zu führenden Türkenfeldzugs taucht außerdem die Forderung nach einer »einheitlichen Münze« auf, die gelegentlich in der jüngeren Forschung als Vorläuferidee der heutigen europäischen Währungsunion interpretiert worden ist. Vermutlich ging es jedoch eher darum, sich auf eine bestimmte Währung zu einigen, mit der das Bündnisheer in allen Ländern, durch die es zöge, zahlen und sich so versorgen könnte.

Den eigentlichen Kern der geplanten Union bildete die Idee des Kollegiums, einer Art Parlament, zu dem jeder Fürst seine Abgeordneten entsandt hätte. Das Kollegium sollte jeweils fünf Jahre dauerhaft an einem bestimmten Ort tagen, beginnend mit Basel, und dann turnusgemäß Stadt und Land wechseln. Es war ein Entscheidungsprozess nach dem Mehrheitsprinzip vorgesehen, wobei jede Mitgliedsnation über eine Stimme verfügen und jede getroffene Entscheidung für die Monarchen verbindlich sein würde. Auch eine gemeinsame Kasse für die Mitgliedsbeiträge und ein öffentliches Archiv sollte die Körperschaft besitzen. Neben dem Kollegium war noch ein Rat geplant, in dem die Fürsten selbst vertreten sein würden, vermutlich unter dem Vorsitz des französischen Königs. Um die Mitgliedschaft eines Staats nicht von der Laune des amtierenden Regenten abhängig zu machen, hätte jeder Herrscher sein Amt erst nach dem Bekenntnis zur Union antreten dürfen.

Ein modernes Dokument

Der tschechische Historiker Václav Vaněček (1905-1985) hat einmal darauf hingewiesen, dass seit dem 19. Jahrhundert immer wieder der Versuch unternommen worden sei, Georg von Podiebrads Friedensmanifest zum Vorläufer zeitgenössischer Institutionen zu stilisieren. Aus heutiger Sicht scheinen Analogien zur Nato oder zur Europäischen Union auf der Hand zu liegen. Doch unabhängig davon, inwieweit der Text spätere supranationale Organisationen tatsächlich vordenkt, handelt es sich um ein erstaunliches Dokument, einen radikalen gedanklichen Bruch mit dem hierarchischen und universalistischen Weltbild des Mittelalters. Die Idee einer homogenen Christenheit, an deren Doppelspitze Papst und Kaiser stehen, wird in dem Manifest ersetzt durch eine Föderation gleichberechtigter souveräner Staaten – es ist ein Werk, in dem sich die Moderne bereits ankündigt. »Es ist bemerkenswert«, schrieb Vaněček, »dass nach diesen Regeln eine absolute Gleichheit der Mitgliedsstaaten herrschen sollte.« Sogar der römische Kaiser »sollte offenkundig nur einer der vielen ›Fürsten Germaniens‹ sein«.

Mehr noch aber hatte die geplante Marginalisierung des Papstes das Zeug zum Skandal. Als Schlichter und Geldeintreiber hätte der Heilige Stuhl künftig dem Treiben des Hochadels von der Seitenlinie zuschauen müssen.

Letztendlich blieb die Idee ebenso visionär wie unrealisierbar. Dass die europäischen Monarchen im feudalen Zeitalter freiwillig auf einen Großteil ihrer Macht verzichtet hätten, muss als sehr unwahrscheinlich gelten. Die Friedensunion scheiterte aber schließlich aus anderen Gründen. Als die Delegation, die nicht nur für Böhmen, sondern auch im Namen des polnischen und des ungarischen Königs verhandeln durfte, im Frühsommer 1464 in Frankreich eintraf, war Papst Pius II. bereits damit beschäftigt, einen eigenen Kreuzzug gegen die Türken zu organisieren, wodurch er dem Manifest die Grundlage entzog. Dass Georg zudem eben erst in Rom der Ketzerei angeklagt worden war, kompromittierte ihn in den Augen der Franzosen als Gründer einer prochristlichen Allianz. Ohne Ludwig XI., König eines der mächtigsten Reiche Europas, hatte der böhmische Plan jedoch keine Chance. Ludwigs Berater lehnten die Vorschläge der Gesandtschaft ab.

Georg wird exkommuniziert, damit ist das Projekt gescheitert

Damit war das Projekt gestorben und mit ihm Georgs letzte Hoffnung, sich vor dem päpstlichen Bann retten zu können. Im folgenden Jahr brach in Böhmen ein Aufstand katholischer Adliger aus, der vom neuen Papst Paul II. unterstützt wurde und zu einem weiteren Bürgerkrieg führte. Nachdem König Georg im Dezember 1466 exkommuniziert und für abgesetzt erklärt worden war, schloss sich bald darauf Matthias Corvinus, der ehrgeizige junge Herrscher von Ungarn und ehemalige Schwiegersohn Georgs, der Revolte an und ließ sich 1469 zum Gegenkönig wählen. Zum finalen Kräftemessen kam es nie. Georg von Podiebrad starb unerwartet am 22. März 1471, wenige Wochen vor seinem 51. Geburtstag, in Prag. Er wurde im Veitsdom, begleitet von katholischen und hussitischen Priestern, neben seinem Vorgänger Ladislaus zur letzten Ruhe gebettet.

Wäre sein Plan aufgegangen, hätte Georg den Lauf der Weltgeschichte verändert. Die osmanische Bedrohung nahm in den kommenden Jahrzehnten weiter zu und erreichte im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Doch nicht als Einiger Europas oder als Bezwinger der Türken, sondern als böhmischer Hussitenkönig ist er in Erinnerung geblieben. Vielleicht zu Recht – die »Allgemeine Deutsche Biographie« kommt zu dem Schluss: »Der Utraquist auf dem Thron war kein Revolutionär, kein Mann des Programms, war in hohem Maße Realpolitiker, dem Kompromiß verbunden, nicht in erster Linie auf die Durchsetzung seines Glaubens bedacht, sondern auf dessen Versöhnung mit der Welt.« Zwar waren Georgs Nachfolger bekennende Katholiken, doch auch sie erkannten die Kompaktaten an. So konnten die böhmischen Abweichler nicht zuletzt dank Georg für weitere 150 Jahre ihren Sonderweg gehen.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.