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Genderforschung: Der kleine Unterschied: Auch bei Zellen

Männliche und weibliche Zellen sind unterschiedlich. Und langsam sollte die Wissenschaftscommunity dem auch Rechnung tragen, findet Elisabeth Pollitzer.
Laboruntersuchung

Krankes Muskelgewebe gesundet nach einer Muskelstammzell-Transplantation, was zu großen Hoffnungen Anlass gibt, vielleicht auf diesem Weg einmal auch Patienten therapieren zu können. Schon vor Jahren hatte eine Beobachtung Forscher allerdings verwirrt: Der von Zelle zu Zelle merkwürdig unterschiedliche Erfolg der Therapie. Manchmal reagierte eine Zelle prompt und rasch, eine andere hingegen überhaupt nicht auf die Behandlung. Die recht unerwartete Erklärung lieferte schon 2007 Johnny Huards Gruppe, Stammzellforscher von der University of Pittsburgh in Pennsylvania: Das Geschlecht der Zellspender war ausschlaggebend [1]. Denn Muskelstammzellen aus weiblichen Mäusen regenerierten viel schneller als ihre männlichen Gegenparts, sobald sie in das kranke Muskelgewebe von Mäusen beiderlei Geschlechts transplantiert wurden.

Weibliche und männliche Mauszellen reagieren außerdem auch unterschiedlich auf Stress [2], und menschliche Zellen produzieren – je nach Geschlecht – eine große Bandbreite verschiedener Stoffwechselprodukte in drastisch unterschiedlichen Mengen [3]. Die Datenlage zeigt immer deutlicher, dass die Zellen der beiden Geschlechter sich unterscheiden – ganz unabhängig davon, welchen Geschlechtshormonen sie ausgesetzt sind oder waren. Diese Verschiedenheit dürfte weit reichende Folgen haben – für die Sensitivität gegenüber Medikamenten, für den Verlauf einer Erkrankung und ihre Diagnose oder Bekämpfung. Dennoch: Die meisten Forscher protokollieren nicht einmal, ob die von ihnen verwendeten Zelllinien männlich oder weiblich sind. [4].

Zwischen 1997 und 2001 mussten zehn verschreibungspflichtige Medikamente von der FDA, der zuständigen US-amerikanischen Aufsichtsbehörde, vom Markt genommen werden: Acht der Wirkstoffe gefährdeten den weiblichen Organismus dabei stärker als den männlichen. Aber auch die Inhaltsstoffe von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln schaden manchmal Frauen mehr als Männern. So musste die FDA im Jahr 2000 den Wirkstoff Phenylpropanolamin zurückrufen, einen Inhaltsstoff vieler frei verkäuflicher Medizinprodukte: Berichte waren aufgetaucht, nach denen die Substanz das Risiko von Gehirn- und Hirngewebeblutungen bei Frauen erhöht – nicht aber im Mann. Die Wirksamkeit von Therapien wird in wissenschaftlichen Studien zwar überprüft – was aber, wenn die gefundenen Resultate vom geschlechtsspezifischen Faktoren in den untersuchten Zellen massiv beeinflusst wurden?

Dann hätte die Forschung möglicherweise ein großes Problem – immerhin aber auch eines, das vergleichsweise einfach gelöst werden könnte: Forscher, Wissenschaftsmagazine und wissenschaftliche Gutachter bräuchten nicht mehr als das Geschlecht der Zellen und den möglichen Einfluss auf die Resultate im Auge behalten.

Ist es ein Junge?

Für Informatikexperten wie mich hatten Zellen und ihr Geschlecht nie irgendeine Relevanz im Forscheralltag. Ich habe von dem Phänomen daher erst als Direktorin von genSET erfahren, einem von der EU geförderten Projekt mit dem Ziel zu untersuchen, wie an Gender-Fragen im Wissenschaftsbetrieb herangegangen wird – oder herangegangen werden sollte. Beschäftigen sollten uns schließlich im Laufe der Zeit allerdings weniger Fragen ungleicher Stellenbesetzungen oder unfairer Geldervergabe, sondern vielmehr das völlige Fehlen von Gender-Überlegungen in Planung, Analyse oder Auswertung von Laborexperimenten.

2010 hatte genSET dann mit einem 14-köpfigen Expertengremium 120 Studien aus allen möglichen Fachbereichen, also nicht nur aus der Zellbiologie begutachtet – und einen Abschlussbericht mit 13 Empfehlungen vorgelegt. Wir empfahlen etwa eine viel gründlichere und systematische Einbeziehung von geschlechts- und genderspezifischen Analysen in der Konzeption von Studien, dem Forschungsprozess und in der Ausbildung von Forschern und Laborpersonal.

Dass Geschlecht und Gender Relevanz haben, ist nun seit Jahren in der klinischen Forschung unumstritten – obwohl gerade in diesem Zweig stets überproportional viele Männer in Studien aufgenommen worden sind. Ein Übersichtsartikel von 2009 über hunderte klinischer Krebsstudien zeigt, dass in 75 Prozent Frauen unterrepräsentiert waren [5]. Haben demnach Frauen einen schlechteren Zugang zu experimentellen Wirkstoffen? Reagiert ihr Körper dann auch weniger effizient auf zugelassene Medikamente?

Auch in der Grundlagenforsching fehlt die Balance. Als sich das Fachjournal "Pain" 2007 einen Überblick über die darin veröffentlichten Studien verschaffte, fanden sich in wenigstens 79 Prozent aller Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre ausschließlich männliche Probanden; acht Prozent hatten ausschließlich mit weiblichen Freiwilligen gearbeitet – aber gerade einmal vier Prozent hatten die Studie explizit mit dem Blick auf Geschlechterunterschiede angelegt (der Rest machte keine Angaben) [6].

Die geschlechterspezifischen Unterschiede lassen sich nicht ausschließlich durch die Wirkung von Hormonen erklären. So zeigen etwa embryonale Neuronen aus männlichen und weiblichen Ratten auch schon Unterschiede, bevor sie den jeweiligen Geschlechtshormonen ausgesetzt waren. Weibliche Zellen reagieren viel empfindlicher auf die Auslösersubstanzen des programmierten Zelltods (der Apoptose). Dagegen sind männliche Zellen sensitiver bei Sauerstoffentzug, Durchblutungsstörungen oder anderen Formen von physiologischem Stress [7]. Ebenfalls unabhängig vom Einfluss äußerer Hormone zeigen sich weibliche Zellen zudem anfälliger gegenüber Alkohol [2].

Ein derartiger Reaktionsdimorphismus von Zellen könnte in unterschiedlichen Stoffwechselwegen begründet liegen. Tatsächlich belegen nach Geschlechtern getrennte Genomdatenanalysen, dass Ort und Ausmaß der Produktion wichtiger Regulierungsenzyme in weiblichen und männlichen Zellen signifikant unterschiedlich sein können (etwa das Ablesen des CPS1-Gens, das eine Schlüsselrolle im Stickstoff- und Proteinstoffwechsel ausfüllt) [3]. Die Endprodukte unterschiedlicher Stoffwechselvorgänge können natürlich durchaus als Biomarker verschiedener Krankheiten von Diabetes bis Alzheimer dienen – so manchem Klinikarzt mag am Ende aber gar nicht bewusst sein, dass bei Mann und Frau mit unterschiedlichen Metabolitwerten zu rechnen ist.

Richtung vorwärts

Die Bedeutung des Themas war mir auch auf Grund des ersten Abschlusses meiner Laufbahn recht klar: Ich hatte zunächst Kurse in Molekular- und Zellbiologie belegt, in Biochemie, Genetik und Physik. Für das weite Feld "soziale Verantwortung im Wissenschaftsbetrieb" konnte mich der Molekularbiologe und Physiker Maurice Wilkins sensibilisieren, noch als er den gerade erst neu gegründeten Biophysik-Fachbereich vom Kings College in London leitete. Seitdem hat die Erforschung von Genderthemen in der Wissenschaft eine spannende Entwicklung genommen: Neue Forschungsfelder haben sich aufgetan, die immer professioneller und effizienter bearbeitet werden.

Im November wird der dritte Gender-Gipfel in Washington DC unter der Schirmherrschaft der US-National Science Foundation stattfinden. Auf diesem Meeting soll über das Verständnis für und die Ansprache von gender- und geschlechtsspezifischen Themen in der angewandten und Grundlagenforschung diskutiert werden. Im dreitägigen Programm findet sich eine Reihe von Themenschwerpunkten mit mehr als 100 Wortbeiträgen – alle Teilnehmer sollen Gelegenheit bekommen, den Einfluss von Geschlechtsunterschieden auf fundamentale biologische Prozesse der Zellregulation zu vertiefen; und die dimorphen Effekte im Regenerationspotenzial von Stammzellen. Sie sollen auch die Folgen einschätzen lernen, die eine Erforschung des unterschiedlichen männlichen und weiblichen Zellstoffwechsels auf die Diagnostik, Therapie und Gesundheitsökonomie der Zukunft haben kann. Das käme nicht etwa vor der Zeit: Auf dem 38. Kongress der FEBS (Federation of European Biochemical Societies) in Sankt Petersburg habe ich vor ein paar Wochen erstaunt feststellen müssen, dass keiner der Vortragstitel im Programmheft Geschlechter- oder Gender-Fragen zum Thema hatte.

Wissenschaftler sollten vor allem anerkennen, dass Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Zellen existieren – und demzufolge Experimente auch unter diesem Aspekt designen. Männliche und weibliche Zellen sollten nicht vermischt, sondern separiert getestet werden und idealerweise dem gleichen Experiment einzeln gruppiert unterzogen werden. Es mag Gründe geben, nur mit einem Geschlecht zu experimentieren – diese sollten dann aber in einer Veröffentlichung unbedingt angegeben werden. Sowohl Tierversuche als auch Tests am Menschen sollten diesen Richtlinien folgen.

Gutachter und Herausgeber sowie Geldgeber können dieses Anliegen und damit einen Wandel vorantreiben, indem sie von Autoren zwingend einfordern zu ermitteln, ob Geschlecht- oder Genderaspekte ihre Ergebnisse beeinflussen. Nach der Analyse von "Pain" 2007 gab die Zeitschrift Richtlinien heraus, nach denen Medikamententests eine Mindestzahl von Probanden beiderlei Geschlechts enthalten müssen. Im März 2012 hat die American Psychological Society einen Verhaltenskodex erlassen, nach dem das Geschlecht von Probanden oder Versuchstieren in den eingereichten Studien identifizierbar sein muss. Was hier gilt, sollte auch für die Forschung an Zellen gelten. Jeder Forscher könnte – und müsste – sich hierfür einsetzen und Verantwortung übernehmen.

Dieser Artikel erschien unter dem Titel "Biology: Cell sex matters" in Nature 500, S. 23–24, 2013.

  • Quellen
[1] J. Cell Biol. 177, S. 73–86, 2007
[2] FASEB J. 23, S. 1869–1879, 2009
[3] PLoS Genet. 7, e1002215, 2011
[4] Wizemann, T. M. & Pardue, M.-L. (eds) Exploring the Biological Contributions to Human Health: Does Sex Matter? (National Academy Press, 2001)
[5] Cancer 115, S. 3293–3301, 2009
[6] Pain 132, S26–S45, 2007
[7] J. Biol. Chem. 279, S. 38563–38570, 2004

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