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Entomologie: Der lange Marsch

Sie sind viele, sie rotten sich zu gigantischen Heeren zusammen, und sie haben großen Hunger. Nichts hält sie auf - keine Barriere, kein Traktor, und wenn er noch so oft panzergleich durch ihre Reihen walzt und sie zu Tausenden zermalmt: Vor den Armeen der Mormonengrille kapitulieren alle.
Mormonengrille mit Sender
Durften Sie schon einmal erleben, wie ein Volk von tropischen Treiberameisen über ein bedauernswertes, weil angeleintes Huhn strömt und dieses bei lebendigem Leibe verzehrt? Oder hatten Sie schon einmal das eher zweifelhafte, weil im wahrsten Sinne reizende Vergnügen, in eine Kolonne des Eichenprozessionsspinners zu geraten? Kein Interesse? Gut, dann sollten Sie sich vielleicht auch von den Aufmärschen der amerikanischen Mormonengrille (Anabrus simplex) fernhalten.

Marschierende Mormonengrillen | Mit Erreichen des Erwachsenenalters werden in manchen Jahren mit hohen Populationen die nordwestamerikanischen Mormonengrillen (Anabrus simplex) unruhig. Sie schließen sich zu großen Verbänden zusammen und marschieren auf der Suche nach Nahrhaftem los, wobei sie mitunter Heere von 16 Kilometer Länge und mehreren Kilometern Breite bilden. Innerhalb dieser Formationen sind sie vor Fraßfeinden fast vollständig geschützt, wie Forscher anhand von Zählungen markierter Tiere feststellten. Solisten hingegen haben eine Wahrscheinlichkeit von fünfzig bis sechzig Prozent, ihren natürlichen Fraßfeinden zum Opfer zu fallen.
Mitunter mehrere Millionen der Grillen versammeln sich kurz nach dem Erreichen des Erwachsenenalters in tierischen Zügen, die bis zu 16 Kilometer lang und mehrere Kilometer breit sein können, und begeben sich anschließend auf einen langen Marsch der Mahlzeiten und schließlich der Vermehrung. In ihrer Dynamik gleichen sie den gefürchteten Wanderheuschrecken Nordafrikas, nur dass sie sich zu Fuß auf den Weg machen: Sie sind flugunfähig. Menschen mit einer ausgemachten Insektenphobie könnten also im Anblick ihrer Bodentruppen zumindest leichtes Unbehagen verspüren. Die Tiere wollen Ihnen aber wirklich nichts Böses oder werden Ihnen kaum gefährlich, denn eigentlich sind sie recht wehr- und schutzlos. Sollten sie unter diesem Aspekt dann aber nicht auch ein gefundenes Fressen für ihre gewiss zahllosen Feinde sein?

Und tatsächlich birgt das Leben für Mormonengrillen eine ganze Armada an Gefahren: Vögel fressen sie, Nager knacken sie, Autos überfahren sie. In früheren Zeiten zählten die Kerfe – was historische Funde belegen – zum Speiseplan der Indianer im Binnenland Nordwest-Amerikas, wo diese wandernden Insekten leben.

Faktisch hängt ihre Überlebenswahrscheinlichkeit jedoch von ihrem persönlichen Lebensplan ab, wie jetzt Wissenschaftler um Gregory Sword vom Northern Plains Agricultural Research Laboratory entdeckt haben. Die Forscher markierten dazu zahlreiche Individuen der Heerzüge, statteten sie mit Miniatursendern aus und maßen ihre Überlebensrate durch wiederholte Fangaktionen in einem bestimmten Zeitraum. Gleichzeitig zwangen sie weitere Grillen – ebenfalls mit Übertragungsgeräten versehen – zu einem unfreiwilligen Solistendasein fernab ihrer unbekümmert voranstürmenden Kompagnons. Die bedauernswert vereinzelten Kreaturen waren allerdings nach den Erkenntnissen der Wissenschaftler einem gnadenlosen Unheil ausgeliefert: In nur zwei Tagen reduzierte sich ihre Zahl um 50 bis 60 Prozent.

Angekauter Sender | Von der Gruppe separierte Grillenindividuen werden häufig von Vögeln oder Nagern verspeist – nur angekaute und mit Insektenresten verklebte Übertragungsgeräte bezeugen ihre vormalige Existenz. Kranke oder lahme Grillen müssen sich allerdings ebenso vor ihren Artgenossen in Acht nehmen, denn diese verschmähen dann und wann auch ihre wandernden Kompagnons nicht.
Dass die verschwundenen Mormonengrillen tatsächlich in den Mägen ihrer natürlichen Gegner gelandet sind – und nicht etwa den Forschern entkamen – belegen die wiedergefundenen Sender. Sie waren zum Teil angekaut oder es hingen noch abgerissene Gliedmaßen und Chitinreste daran. Oft lagen die Fragmente von Kerf und Elektronik auch auf Ästen oder in Baum- und Erdhöhlen, wohin sie von Nagetieren oder Vögeln verschleppt wurden. Ein Schicksal, das den im Verband geschützten Elementen erspart blieb, denn hier waren keinerlei Verluste zu verzeichnen. Offensichtlich sind die Kerbtiere also nur in der Gruppe richtig stark.

Für Sword und seine Kollegen ist dies der Beleg, dass der Vorteil der Zusammenrottung – ein überragender Schutz vor Fraßfeinden – die Nachteile wie Futterknappheit oder Balgereien um Paarungspartner überkompensiert. Da der Herdentrieb zudem die Wanderungsbewegung auslöst, minimieren sich die Probleme weiter, denn der Marsch erschließt ebenso neue Nahrungsquellen – allerdings nicht immer nur zum Besten aller Teilnehmer.

Denn der Horrortrip reizt nicht nur das Ekelzentrum der Menschen, er betrifft ebenfalls schwache Mitglieder der krabbelnden Wandergesellschaft selbst: Die Grille ist der Grillen größter Wolf, denn sie ist auch ein notorischer Kannibale. Tote, kranke oder einfach fußlahme Artgenossen werden gnadenlos verspeist. Dieser ungezügelte Appetit ruft jedoch unter Umständen weitergehende Behinderungen im menschlichen Straßenverkehr hervor, da sich nachfolgende Bataillone der Mormonengrillen zu gerne an ihren bereits überfahrenen Kameraden delektieren – und dabei in einer Art Kettenreaktion immer wieder selbst zum Opfer werden, bis die Straße wegen Rutschgefahr gesperrt wird.

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