Bergpionier: Der Mann, der als Erster die Zugspitze bezwang
Zeit zum Verweilen war nicht. Die später vielfach gerühmte, atemberaubende Aussicht – der Fernblick über schneebedeckte Alpenketten bis zum Großglockner, über das Gebirgsvorland bis zu den Türmen Münchens und darüber hinaus, die Ahnung der zartblauen Linie des Schwarzwalds weit im Westen –, all das blieb den drei Männern verwehrt.
Gerade einmal lange genug riss der Nebel auf, damit sie sich vergewissern konnten, tatsächlich den höchsten Gipfel im weiten Umkreis erreicht zu haben. Sie hatten fast acht Stunden Kraxelei hinter sich und jetzt nur einen knappen Augenblick, um zum Zeichen ihrer Anwesenheit einen Stock mit einem Taschentuch in den Fels zu rammen. »Schon nach fünf Minuten wurden wir von einem Donnerwetter mit Schauer und Schneegestöber begrüßt und mussten unter größten Gefahren die Höhen verlassen«, notierte der bayerische Leutnant Joseph Naus über die erste historisch verbürgte Besteigung der Zugspitze am 27. August 1820.
Sprung in die Klamm
Auch der Abstieg hatte seine Schrecknisse: »Kaum zehn bis zwölf Schritte von der Spitze entfernt betäubten uns ein Blitz und ein zur gleichen Zeit erfolgter Donnerschlag derart, dass wir glaubten, alle Berge müssten zusammenstürzen.« Naus wollte hinter einer kleinen Felswand vor herabprasselnden Steinchen Deckung suchen, ließ sich aber vom begleitenden ortskundigen Führer, dem Landarbeiter Johann Georg Deuschl, überzeugen, dass das vielleicht keine gute Idee war: Jede Verzögerung konnte das Risiko vergrößern, auf dem Rückweg eingeschneit zu werden.
Also weiter bergab, durch Schneegestöber und dunkles Gewölk, in dem der Blick »kaum vier Schritte vorwärts« reichte. Jetzt zahlte es sich aus, dass der Trupp beim Aufstieg den Weg mit Steinhäufchen und in den Hartschnee geritzten Zeichen markiert hatte. Die riskanteste Passage führte durch eine feuchte und rutschige Klamm, eine Felsrinne, wo die Kletterer rund vier Meter in die Tiefe springen und anschließend einen vereisten Steilhang herunterschlittern mussten, um schließlich auf einem Vorsprung zu landen, dessen Fläche Naus auf etwa 60 Quadratzentimeter schätzte.
Ein letzter heikler Balanceakt wartete am Fuß des Gipfels. Zwischen dem Fels und dem angrenzenden Gletscher, dem Nördlichen Schneeferner, klaffte ein tiefer Spalt, über den allein »eine Art von Schneebrücke« führte. Sie war, so vermutete Naus, rund 30 Zentimeter dick und ebenso breit: »Kein anderer Ausweg war übrig, als sich diesem schwachen Gewölbe anzuvertrauen, und glücklich ging der Übergang vonstatten.« Nach gut drei Stunden erreichten der Leutnant und seine zwei Begleiter gegen 15 Uhr die Angerhütte im Reintal, wo sie am frühen Morgen aufgebrochen waren und weitere Teilnehmer der Expedition auf sie warteten: »Umso angenehmer war das Wiedersehen, als ich mehrmals daran gezweifelt hatte, mein Leben erhalten zu können«, notierte Naus.
Pionierarbeit für die Wissenschaft
Sportlicher Ehrgeiz war es nicht gewesen, der ihn auf den Gipfel getrieben hatte – genau genommen auf den damals 2964 Meter liegenden Westgipfel, der später, 1938, gesprengt wurde. Joseph Naus war im Sommer 1820 in der Gegend um Garmisch und Partenkirchen als Landvermesser unterwegs. Einen Berg zu besteigen allein um des Kletterns willen kam den meisten damaligen Zeitgenossen und zumal den in der Hochgebirgsnatur wirtschaftenden Alpenbewohnern ohnehin abwegig vor. Zwar war der Montblanc bereits 1786 erstmals bestiegen worden, der Großglockner im Jahr 1800, der Ortler in Südtirol 1804, die Jungfrau und das Finsteraarhorn in den Berner Alpen 1811 beziehungsweise 1812. Doch da ging es ebenfalls um Forschungszwecke. Alpinismus als Freizeitvergnügen wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Thema.
Mit 2962 Metern (Ostgipfel) ist die Zugspitze heute der höchste Berg Deutschlands. Bis zur Reichsgründung 1871 bildete sie den Gipfelpunkt des damaligen Königreichs Bayern und davor der winzigen Grafschaft Werdenfels, die seit 1294 den Bischöfen von Freising als Landesherren unterstanden hatte und 1803 an Bayern fiel. Das Ländchen hatte seiner Lage an der Handelsroute zwischen Venedig und Augsburg im Mittelalter einen gewissen Wohlstand zu verdanken. Das war jedoch lange her. Es zählte 1744 nach amtlicher Feststellung 6000 Einwohner, die sich mit Weidewirtschaft und etwas Ackerbau mehr schlecht als recht durchbrachten.
Was sie immer vor Augen hatten, war die Grenze zum benachbarten Tirol. Sie verläuft bis heute auf dem Hauptkamm des Wettersteinmassivs, nach einer alten Vertragsformel »wie Kugel walzt und Regen rinnt«. Also exakt auf der Wasserscheide und damit über den Westgipfel der höchsten Wetterstein-Erhebung, der Zugspitze. Zwischen den Freisinger Oberhirten und den habsburgischen Regenten Tirols gab es immer wieder Klärungsbedarf über die genaue Linienführung, was ihr Interesse an der Topografie des Hochgebirges erklärt. So findet sich in einer Grenzbeschreibung aus dem Jahr 1590 erstmals der Name »Zugspitz«.
»Ich wurde in der Hirtenhütte von einer Menge Flöhe dergestalt gemartert, dass ich wachend am Feuer die halbe Nacht mit Tötung derselben verbringen musste«Joseph Naus beim Aufstieg zur Zugspitze
Dabei kam frühzeitig die Frage auf, ob die in schwindelnder Höhe gelegene Grenzzone für Menschen überhaupt zugänglich sei. In der Regel wurde sie verneint. Als 1766 der Grenzverlauf ein weiteres Mal vermessen und fixiert wurde, verzichtete man mit Blick auf den »zu besteigen nicht möglichen Grat des Wettersteingebirgs« darauf, die Markierungen dort anzubringen, wo sie eigentlich hingehört hätten. Sie finden sich stattdessen bis heute am Fuß der Gipfelzone: »Man wollte zwar aufwärts gegen den Zugspitz … gehen, allein es war ungeachtet des schönsten Sommertags vor Kälte und Todsgefahr unmöglich«, berichtete einer der Expeditionsteilnehmer von 1766.
Der lange Weg zum Gipfel
Das Grenzgebiet zu vermessen, war auch der Auftrag des Leutnants Naus, der zwei Tage nach seinem Gipfelabenteuer 27 Jahre alt wurde. Geboren wurde er in Sichtweite der Zugspitze – in dem rund 20 Kilometer davon entfernten, nordwestlich auf Tiroler Seite gelegenen Örtchen Reutte. Nachdem seine Heimat durch den Frieden zwischen Frankreich und Österreich von 1805 an Bayern gefallen war, trat er im April 1813 in die Bayerische Armee ein. Auch als Tirol wieder österreichisch wurde, blieb er in bayerischen Diensten, war bis 1849 dem Topographischen Bureau zugeteilt, später dem Generalstab, und kletterte derweil stetig die militärische Karriereleiter empor. Naus beendete seine Laufbahn 1857 im Rang eines Generalmajors als Kommandant der Bundesfestung Ulm.
Im Sommer 1820 sollte er für das Blatt »Werdenfels« des »Topographischen Atlas von Bayern« die Daten erheben. Mit einem Assistenten, von dem nur der Nachname Maier überliefert ist, brach er am 19. Juni von München in einer Postkutsche auf, die die 100 Kilometer bis Partenkirchen an einem Tag bewältigte. In den folgenden Wochen erkundeten Naus und sein Gehilfe die Gegend und erstiegen einige kleinere, 2000 bis 2500 Meter hohe Gipfel der Ammergauer Alpen und des Wettersteinmassivs.
Am 21. Juli 1820 unternahmen sie einen ersten Vorstoß in Richtung Zugspitze, überquerten das Platt, eine von 2000 auf gut 2600 Meter ansteigende Hochfläche, und gelangten bis zum Nördlichen Schneeferner. Der Gletscher hatte, wie Naus feststellte, seine Tücken. Er war von Spalten durchzogen, einige weniger als einen Meter, andere über vier Meter breit und stellenweise dutzende Meter tief. Viele waren verweht und im Gelände nicht zu erkennen. Die beiden Männer machten kehrt.
Von Flohgeflüster und Gletscherspalten
In Begleitung des ortskundigen Deuschl zog der kleine Trupp – außer Naus noch zwei seiner Offizierskameraden, Hauptmann Wilhelm von Jeetze und ein Leutnant Anlitscheck, sowie der Gehilfe Maier, am 26. August das Flüsschen Partnach aufwärts durchs Reintal. In 1350 Meter Höhe erreichten sie gegen Abend die Angerhütte, wo Naus aber kein Auge zutat: »Ich wurde in der Hirtenhütte von einer Menge Flöhe dergestalt gemartert, dass ich wachend am Feuer die halbe Nacht mit Tötung derselben verbringen musste.« Um vier Uhr morgens war Abmarsch. Bei der Überquerung des Schneeferner brachen von Jeetze und Anlitscheck jeder mit einem Fuß in einer der tückischen Eisspalten ein und »konnten sich nur durch ihre Schnelligkeit vor dem unvermeidlichen Tode retten«. Sie gaben später entnervt auf, als der Trupp am Wettersteingrat anlangte, dort zunächst aber nicht mehr vorankam. Die drei anderen versuchten es erneut und standen schließlich um 11.45 Uhr auf dem Westgipfel.
»Kein anderer Ausweg war übrig, als sich diesem schwachen Gewölbe anzuvertrauen, und glücklich ging der Übergang vonstatten«Joseph Naus beim Abstieg von der Zugspitze
Auf weitere Besucher musste der Berg nicht lange warten, nachdem Naus einmal den Anfang gemacht hatte. Schon 1823 erstieg der Maurermeister Simon Resch aus Partenkirchen mit einem Hirten aus dem Reintal, genannt »Schaf-Toni«, den Ostgipfel. Ihm folgten viele andere. Nachdem 1851 auf dem Westgipfel ein Kreuz aufgestellt worden war, gewann die Zugspitze auch in der besseren Gesellschaft Münchens an Popularität. Professoren, Diplomaten, Hofsänger, Gerichtsdirektoren wagten den Aufstieg. Der Königliche Hofmarschall Baron von Leonrod schleppte 1855 eine Flasche Champagner mit und leerte auf dem Gipfel ein Glas auf das Wohl Seiner Majestät.
Wer war »Karl« Naus?
Erstaunlich gering war zunächst die Resonanz auf die Leistung des Erstbesteigers Naus. Weder in seiner Personalakte noch in den Unterlagen des Topographischen Bureaus findet sich darauf ein Hinweis. Für einige Jahrzehnte geriet sogar sein Vorname in Vergessenheit. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war in den meisten Publikationen von »Karl« Naus die Rede, bis 1970 in der Zeitschrift »Der Bergsteiger« eine Klarstellung erschien. Zweifel, ob ihm überhaupt die Erstbesteigung gelungen war, wurden auch später noch laut. Sie erhärteten sich jedoch nicht. Für frühere Besteigungen fehlten Belege.
Seine Aufzeichnungen hatte erstmals der Münchner Kaufmann Max Krieger, von 1894 bis 1896 Zweiter Vorsitzender der örtlichen Sektion des Deutschen Alpenvereins, einsehen können, der sie von seinem Schwiegersohn, einem Freiherrn von Oefele, erhalten hatte. Kriegers 1884 erschienene Broschüre über die »Geschichte der Zugspitz-Besteigungen« atmet den Geist nationaler Hochstimmung im jungen Kaiserreich: »Verschmäht der deutsche Alpinist auch durchaus nicht den Besuch von fremden Berggebieten …, am wärmsten schlägt sein Herz doch für den stolzesten vaterländischen Gipfel, für unsere Zugspitze.«
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