Neurowissenschaft: Der Mann, der keine Zahlen mehr erkennen kann
Stellen Sie sich vor, Sie könnten keine Zahlen mehr erkennen: Statt der Ziffern Zwei bis Neun sehen Sie nur noch einen Haufen wirrer Linien vor sich. Wissenschaftler um Teresa Schubert von der Harvard University in Cambridge beschreiben im Fachmagazin »PNAS« den Fall eines 60-jährigen Patienten, dem es auf Grund einer Hirnerkrankung genau so ergeht. Andere Objekte kann er nach wie vor problemlos ausmachen. Und auch sein Gehirn scheint die Zahlen kurioserweise weiterhin als solche zu erkennen.
Der Mann, den die Forscher in ihrer Arbeit auf Basis seiner Initialen nur »R.F.S.« nennen, leidet an einer seltenen neurodegenerativen Erkrankung, die seine Hirnrinde und seine Basalganglien in Mitleidenschaft gezogen hat. Neben »erwartbaren« Beschwerden wie Gedächtnisproblemen und Muskelzuckungen klagte der Patient aber auch über einen Verlust des Zahlensehens: Wann immer er Zahlen zwischen Zwei und Neun gezeigt bekam, sah er lediglich seltsame Linien, die er als »Spagetti« beschrieb. Die Form der Linien war zudem nicht spezifisch für einzelne Ziffern, so dass er daraus keine Rückschlüsse auf die gezeigte Zahl ziehen konnte.
In der Nähe von Zahlen setzt die Wahrnehmung aus
Buchstaben oder andere Symbole konnte R.F.S. hingegen nach wie vor normal identifizieren. Auch die Ziffern Eins und Null bereiteten ihm erstaunlicherweise keine Schwierigkeiten. Ausgeschriebene Zahlwörter konnte er ebenso erkennen wie römische Ziffern. Und weitere Tests der Wissenschaftler offenbarten, dass die Wahrnehmung des Patienten immer dann aussetzte, wenn Ziffern zwischen Zwei und Neun ins Spiel kamen: So konnte er zum Beispiel keine Bilder erkennen, die sich in unmittelbarer Nähe zu den betreffenden Ziffern befanden oder diese überlagerten. Die Zeichnung einer Violine zu identifizieren, war für ihn kein Problem. War sie aber in einer großen Drei eingebettet, schien ihm die Wahrnehmung des gesamten Bildes unmöglich.
Mit Hilfe der Elektroenzephalografie (EEG) erforschten Schubert und ihre Kollegen anschließend, was im Kopf des Probanden vor sich ging, während sie ihm Fotos von Gesichtern zeigten, die mal mit Zahlen kombiniert waren und mal nicht. Dabei entdeckten sie stets ähnliche Hirnwellenmuster – ganz gleich, ob R.F.S. das Gesicht nach eigenen Angaben erkannte oder nicht.
Bislang gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Art von Hirnwellen, die das Team um Schubert bei R.F.S. messen konnte, nur in Begleitung von bewussten Prozessen auftritt. Ein Irrtum, wie es scheint: »Die Ergebnisse zeigen, dass das Gehirn von R.F.S. auch ohne bewusste Wahrnehmung komplexe Verarbeitungsschritte durchführte«, sagt Studienautor David Rothlein. »Es erkannte die Gesichter in den Ziffern, ohne dass er sich dessen bewusst war.«
Die Forscher vermuten, dass im Fall des Patienten nicht das Erkennen der Zahlen an sich gestört ist. Vielmehr scheinen bei ihm die weiteren Verarbeitungsschritte im Gehirn blockiert zu sein, welche die Informationen über das Gesehene anschließend ins Bewusstsein dringen lassen. Die Ziffern Null und Eins könne der Patient vermutlich deshalb erkennen, weil sie kognitiv eine besondere Bedeutung hätten. Zudem seien ihre Formen sehr einfach und ähnelten den Buchstaben »O« und »I«.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.