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Forstwirtschaft am Amazonas: Nachhaltig abgewirtschaftet

Gut gemeint ist sie ja, die Idee von der nachhaltigen Holznutzung. In der Realität führt sie den Amazonas noch näher an den Abgrund, sagen Fachleute. Dabei gäbe es Alternativen.
Baumfällarbeiten am Amazonas
Einzelne wertvolle Bäume entnehmen und dann sich den Wald regenerieren lassen: Auf dem Papier klingt das Konzept der nachhaltigen Holzwirtschaft gut.

Amazonien, so sagt es der renommierte Klimawissenschaftler und Amazonasexperte Carlos Nobre, befinde sich am Rand des Abgrunds. Einige Regionen stünden schon nahe an einem Punkt ohne Wiederkehr oder hätten ihn bereits überschritten: der Süden des Bundesstaates Pará, der Norden von Mato Grosso, der Bundesstaat Acre im Südwesten, listet Nobres Forscherkollege Philip M. Fearnside auf. Überall dort könnte der artenreiche Regenwald über die Maßen abgeholzt sein, und wo noch Wald steht, ist der Prozess der »Savannisierung« womöglich heute schon in vollem Gang.

Fearnside arbeitet am nationalen Amazonasforschungsinstitut INPA in Manaus, Nobre forscht an der Universität von São Paulo. Nur wenn sofort gehandelt würde, könne man die schlimmsten Folgen verhindern, sagt Nobre. Wie das gelingen könnte, dazu hat er gemeinsam mit 75 weiteren Fachleuten und dem Weltressourceninstitut (WRI) einen Vorschlag für ein neues, ökologisches Wirtschaftsmodell des Amazonasgebiets erarbeitet.

Eine zentrale Erkenntnis dabei: Die »nachhaltige Forstwirtschaft«, die seit gut drei Jahrzehnten als Königsweg in die Zukunft des Amazonasbeckens gilt, kann ihre wichtigsten Versprechen nicht einlösen.

Propagiert wird die vermeintlich nachhaltige, sprich umwelt- und sozialverträgliche Regenwaldnutzung bereits seit Anfang der 1990er Jahre, insbesondere seit der Umwelt- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen, der UNCED in Rio de Janeiro im Jahr 1992 – und zwar von Holzunternehmen genauso wie von Entwicklungsinstitutionen und finanzkräftigen Umweltschutzorganisationen, etwa dem World Wide Fund for Nature (WWF) und Greenpeace.

Viele Regenwaldexperten und Ökologen sahen das Konzept von Anfang an skeptisch. Dennoch gründeten die Umweltschutzgruppen ein Jahr nach der Konferenz gemeinsam mit Gewerkschaften und der Holzindustrie den Forest Stewardship Council (FSC) in Bonn. 1999 folgte der Pan-European Forest Council (PERFC) in der Schweiz. Gemeinsames Ziel beider Nichtregierungsorganisationen: Kriterien der Nachhaltigkeit entwickeln und über deren Einhaltung wachen.

Amazonas-Gipfel im August 2023 | Acht Anrainerstaaten des Amazonasbeckens vereinbarten unter Führung von Brasiliens Präsident Lula die Bildung einer »Amazonas-Allianz« zum Schutz des Ökosystems. Umwelt- und Naturschutzverbände bemängelten allerdings, dass die Auftaktkonferenz nur vage Absichtserklärungen produzierte.

Den Grundgedanken arbeitete etwa der Geograf Klemens Laschefski, heute an der brasilianischen Universität von Minas Gerais, in seiner 2002 vorgelegten Forschungsarbeit »Nachhaltige Entwicklung durch Forstwirtschaft in Amazonien?« heraus: Wenn ein Wald dauerhaft Einnahmen über den Holzverkauf generiert, dann behält das Waldstück auch auf lange Sicht einen wirtschaftlichen Wert, gleichzeitig entfällt der Anreiz, es in andere Nutzungsformen umzuwandeln, zum Beispiel in eine Viehweide oder ein Sojafeld. So würde die stationäre Forstwirtschaft attraktiver und »der Teufelskreis der Waldzerstörung unterbrochen«.

Auch die brasilianische Entwicklungsbank BNDS, die diese zertifizierte Holznutzung finanziell fördert, hat eine Definition der nachhaltigen Forstwirtschaft erarbeitet. Diese ist demnach gekennzeichnet von Nutzungstechniken, die den natürlichen Kreislauf des Waldes reproduzieren, ihn erhalten und zur Bewahrung seiner Artenvielfalt, Produktivität, Regenerationsfähigkeit und anderer ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Funktionen beitragen. In der Praxis bedeutet das: Alle 25 bis 30 Jahre werden pro Hektar nur vier bis sechs Bäume gefällt. In den Phasen dazwischen bekomme das Areal ausreichend Zeit, sich selbst und die holzwirtschaftlich wertvollen Bäume zu regenerieren.

Brasilianische Regierung setzt nach wie vor auf »nachhaltige« Holznutzung

Das erste Forstunternehmen, das das FSC-Siegel im brasilianischen Amazonasgebiet erhielt, war Precious Woods. Die 1990 gegründete Schweizer Aktiengesellschaft mit Sitz in Zürich begann 1994 mit dem Kauf von 80 000 Hektar Wald in Itacoatiara in Zentralamazonien. Seitdem hat Precious Woods Amazon durch Flächenzukauf seinen Waldbesitz zum Tropenholzeinschlag bis auf knapp 500 000 Hektar in der Region kontinuierlich ausgeweitet.

Demonstration gegen den Flächenfraß | Indigene Aktivisten demonstrieren am Rand des Amazonas-Gipfels gegen den oft gewaltsamen Landraub durch die Holz-, Bergbau- und Agrarindustrie. Anders als sein Vorgänger Jair Bolsonaro verspricht Lula da Silva die Rechte der Indigenen zu wahren. Die Abholzung in den ersten Monaten seiner Amtszeit ist stark zurückgegangen.

»Precious Woods hat sich der nachhaltigen Tropenwaldbewirtschaftung verpflichtet, weil es die einzige Art ist, das wertvolle Holz zu nutzen und zugleich den Regenwald mit der gesamten Biodiversität zu schützen sowie auch für die lokale Bevölkerung direktes und indirektes Einkommen zu generieren«, informiert das Unternehmen auf seiner Website. Seit 1997 werde Precious Woods Amazon zudem nach den Kriterien des FSC zertifiziert, wodurch die nachhaltige Bewirtschaftung, der Erhalt der Wälder und der Artenvielfalt garantiert werden könnten.

»Die nachhaltige Holznutzung im Amazonas ist eine Fiktion«Philip M. Fearnside

Dass auch die zertifizierte Holzproduktion schwer wiegende Nebenwirkungen hat, darauf machten Experten wie Laschefski schon seit Jahrzehnten aufmerksam. Dennoch hat die brasilianische Regierung ihre Bewertung der nachhaltigen Forstwirtschaft bis heute nicht geändert. So sieht das vom neu gewählten Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva im Juni 2023 vorgelegte Amazonasschutzprogramm (PPCDAm) die Verfünffachung der nachhaltigen Forstwirtschaft in den Staatswäldern von derzeit knapp mehr als einer Million Hektar auf fünf Millionen Hektar bis zum Jahr 2027 vor. Auch die deutsche Bundesregierung fördert seit Jahren durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sowie der Deutschen Entwicklungsbank (KfW) diese Form der Tropenholznutzung im Amazonasgebiet als Wald- und Klimaschutzmaßnahme.

»Die nachhaltige Holznutzung im Amazonas ist eine Fiktion«, sagt auch Amazonasforscher Fearnside, einer der weltweit einflussreichsten Wissenschaftler zum Klimawandel in Brasilien. In der Theorie könne man durchaus kleine Mengen Holz entfernen und dem Regenwald ermöglichen, sich zu erholen. Aber in der Praxis geschehe das nicht.

Tatsächlich bescheinigen Forscher, wissenschaftliche Studien und investigative Journalisten längst das Gegenteil. Der nachhaltige oder selektive Holzeinschlag ist sogar selbst mit dafür verantwortlich, dass das größte Regenwaldgebiet der Erde in weiten Teilen degradiert ist und vor dem Umkippen steht.

Selektiver Einschlag erhöht in der Praxis die Feuergefahr

Dabei ist die Rodung einzelner, auf dem internationalen Tropenholzmarkt nachgefragter Baumarten nur ein Faktor der Schädigungskette. Wie bei der klassischen Forstwirtschaft braucht es Schneisen, Forstwege und Straßen zum An- und Abtransport, Holzlager, Hafenanlagen und Holzfällercamps. Das so zerstückelte und durchlöcherte Kronendach des Regenwalds ist durchlässiger für die Sonneneinstrahlung und anfälliger für Dürren und Waldbrände. Der Einsatz schwerer Maschinen verdichtet den Boden, was den oberirdischen Regenwasserabfluss fördert, während gleichzeitig das Straßen- und Wegenetz die natürlichen Verläufe von Bächen und Flüssen behindert.

Fearnside: »Die selektive Holznutzung erhöht die Wahrscheinlichkeit von Waldbränden erheblich und macht die Feuer zudem noch zerstörerischer, wenn sie auftreten. Der Holzeinschlag ist der erste Eingriff, der einen Teufelskreis der Zerstörung in Gang setzt, wobei wiederholte Brände zur gänzlichen Vernichtung des Waldes führen können.«

Der Idee eines endlosen Zyklus von Holzeinschlag und Regeneration widerspricht in Amazonien auch die Erfahrung, dass sich die kommerziell wertvollen Baumarten nicht schnell genug erholen und dann andere Arten an ihre Stelle treten. Für die Unternehmen sei es deshalb rentabler, Schlupflöcher in der Gesetzgebung zu nutzen, sagt Fearnside. Beispielsweise erlaube es die brasilianische Gesetzgebung, bereits in den ersten Jahren der Konzession sämtliche Bäume einer wirtschaftlich interessanten Baumart in der gesamten Bewirtschaftungsfläche abzuholzen. Eigentlich müsste das Holzunternehmen danach für die kommenden 20 bis 30 Jahre – bis zum nächsten Einschlagszyklus – ohne Einnahmen auskommen. Unwahrscheinlich und entgegen aller Wirtschaftslogik, sagt Fearnside. Stattdessen wird einfach eine neue Konzession in einem anderen Gebiet erworben.

Die Technische Fakultät für Forstingenieurwesen der Universität Brasília kam 2020 in einer Analyse zur Wirtschaftlichkeit des nachhaltigen Holzeinschlags in Amazonien zu einem ähnlichen Schluss. Die Waldbewirtschaftung sei bereits im zweiten Zyklus auf Grund geringer Flächenproduktivität »finanziell unrentabel und mit einem hohen Risiko verbunden«.

Mit illegalen Tricks und FSC-Zertifikaten

Vielleicht auch deshalb greifen selbst manche FSC-zertifizierte Firmen in Amazonien zu illegalen Mitteln. Laut einer jüngsten von brasilianischen Medien und dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ), einem globalen Netzwerk von 280 Journalisten, durchgeführten Untersuchung haben wenigstens 60 nachhaltige Holzunternehmen bereits von der brasilianischen Umweltbehörde (IBAMA) auf Grund von Umweltverstößen wie illegaler Abholzung, Transport von Holz ohne Dokumentation, Landraub und illegalem Straßenbaus Geldstrafen von insgesamt rund 20 Millionen Euro erhalten. Precious Woods Amazon ist eine der angeklagten Firmen, die allerdings die IBAMA-Strafen für ungerechtfertigt hält und deren Zahlung verweigert.

Auch die Agrarfront (siehe »Ungebremster Flächenfraß«) wurde von der nachhaltigen Tropenholznutzung nicht gestoppt, ebenso wenig der illegale Kahlschlag. Der südamazonische Abholzungsbogen von Pará über Mato Grosso bis Acre hat sich seit der UNCED-Konferenz von 1992 bis heute weiter katastrophal ausgeweitet. Das liegt schlicht daran, dass auch die zertifizierten Holzunternehmen wirtschaftlichen Interessen folgen und noch intakte, unerschlossene und deshalb billige Regenwaldgebiete bevorzugen, fernab der Agrarfront, die die Bodenpreise in die Höhe treibt. Damit hat sich die nachhaltige Forstwirtschaft als ein zusätzlicher, gefährlicher Faktor für das amazonische Ökosystem etabliert, der gerade besonders schützenswerte Gebiete in Zentral- und Westamazonien degradiert.

Ungebremster Flächenfraß

»Agrarfront« heißt in Brasilien die Grenze, bis zu der sich die Rindfleisch- und Sojabohnenproduktion bereits in den Wald gefressen hat. Sie verschiebt sich nach dem immer gleichen Prinzip: Sojabohnenfarmer übernehmen die bereits von Rinderzüchtern genutzte Flächen, die daraufhin weiter nach Amazonien vordringen. Beginnend mit dem selektiven Holzeinschlag zur Nutzung der wirtschaftlich wertvollen Bäume gewinnen sie neue Weiden durch Totalabholzung und Brandrodung, finanziert über die Einnahmen aus dem illegalen Holzeinschlag, wie Amazonasforscher annehmen. Etwas mehr als eine Million des rund sechseinhalb Millionen Quadratkilometer großen Amazonasbeckens ist auf diese Weise bereits abgeholzt worden. Fast noch einmal genau so viel haben Viehzüchter, Holzfäller und Bergbaubetriebe mal mehr, mal weniger stark degradiert.

Selbst der soziale Ansatz von einer gerechten Einbindung lokaler Bevölkerungen geht Untersuchungen zufolge in der Realität nicht auf. Amazonien ist bis heute Heimat von mehreren traditionell lebenden Bevölkerungsgruppen wie indigenen Völkern, Flussanwohnern, den so genannten Ribeirinhos, und den Quilombolas, Nachfahren ehemaliger schwarzer Sklaven. Sie alle profitieren von der Artenvielfalt des Regenwalds: von Fischfang, Jagd und der Nutzung zahlreicher Pflanzenarten für Ernährung, traditionelle Medizin, Haus- und Bootsbau, Kunsthandwerk und kulturelle Zwecke. Doch Landkonflikte in den privatisierten Einschlags- und Holzkonzessionsgebieten sind häufig. Die Holzunternehmen beschränken den Zugang zu den natürlichen Ressourcen, schädigen oder verhindern die Jagd und den Fischfang, das Sammeln von Waldfrüchten, Nüssen, Kräutern, Rinde, Pflanzenölen und -harzen.

»Auch der selektive Holzeinschlag führt zu einer enormen Degradierung der Regenwälder«, sagt Carlos Nobre, der seit drei Jahrzehnten über den Amazonas und seine Auswirkungen auf das Erdsystem forscht. »Dies ist kein Weg für Amazonien.« Die Region verfüge aber über ein enormes Potenzial zur Nutzung von Nichtholzprodukten des stehenden Waldes. »Darin liegt das große wirtschaftliche Potenzial Amazoniens.«

Eine neue Bioökonomie für die Regenwaldbewohner

Wie es zu realisieren ist, hat Nobre mit 75 weiteren Forschern und dem Weltressourceninstitut ausgearbeitet. Im Juni 2023 veröffentlichte die Gruppe eine Studie für ein neues, ökologisches Wirtschaftsmodell basierend auf dem »Stehenden Wald«. Die Förderung einer entwaldungsfreien und kohlenstoffarmen Wirtschaft könnte, so die 246 Seiten starke Studie »Nova Economia da Amazônia« (Neue Wirtschaft für Amazonien), bis 2050 zu einem höheren, qualifizierteren und integrativeren Wachstum führen und dazu beitragen, die Degradierung der Regenwaldregion umzukehren und das Überschreiten des »point of no return« zu verhindern.

Produkte des »Stehenden Waldes« | Die Früchte der Açaí-Palme werden körbeweise auf einem Markt in Belém gehandelt. In solchen Naturprodukten »liegt das große wirtschaftliche Potenzial Amazoniens«, sagt Carlos Nobre.

Große wirtschaftliche Chancen sieht die Gruppe um Nobre in dem, was der Wald außer Holz zu bieten hat. So verwenden die indigenen Völker der Region bis zu 270 Lebensmittel aus dem Regenwald in ihrem täglichen Speiseplan. An die 85 Baumarten, mehr als 200 Kräuter und rund 30 Insektenarten dienten ihnen zur Ernährung oder als Heilmittel.

Allein 13 der im brasilianischen Amazonien bereits kommerziell genutzten Waldprodukte wie Açaí-Früchte, Kakao, Paranüsse, Kautschuk, Urucum-Samen, Copaíba- und Andiroba-Öl beschäftigten schon heute 334 000 Menschen. Das sind 200 000 mehr als der Bergbau. Gemeinsam erzeugten sie der Studie zufolge derzeit ein jährliches Bruttosozialprodukt (BSP) von etwa 2,3 Milliarden Euro.

Würde die Regierung den Vorschlägen der Forscher folgen, könnte sich das von den 13 untersuchten Nichtholzprodukten erwirtschaftete BSP bis 2050 auf rund sieben Milliarden Euro verdreifachen. Die Anzahl der im Sektor der Nichtholzprodukte Beschäftigten würde sich auf insgesamt 947 000 erhöhen. Dabei könnten die tatsächlichen Wirtschaftszahlen nach Meinung der Forscher noch weitaus höher liegen, wenn man die zahlreichen anderen, bereits von der lokalen Bevölkerung genutzten Produkte des amazonischen Artenreichtums mitberücksichtigen würde, für die aktuell keine Zahlen vorliegen.

»Das große wirtschaftliche Potenzial Amazoniens liegt im stehenden Wald«Carlos Nobre

Milliarden für die Wiederaufwertung des Landes

Zur Finanzierung des Übergangs zur »Neuen Amazonaswirtschaft« seien jährliche Investitionen in Höhe von rund 1,8 Prozent des brasilianischen Bruttosozialprodukts nötig. Das ist nicht ganz doppelt so viel wie das eine Prozent, das derzeit in die Amazonasregion fließt. In den drei Jahrzehnten bis 2050 summieren sich die zusätzlichen Ausgaben auf 480 Milliarden Euro. Das mag hoch klingen, wäre aber durchaus machbar für Brasilien. Die bestehenden Subventionen für die Erdöl- und Erdgas-Ausbeutung und umweltschädlicher Agrarindustrie und Großgrundbesitzer müssten lediglich umgeschichtet werden.

Auch in der »Neuen Amazonaswirtschaft« werden Landwirtschaft und Bergbau den Löwenanteil der Wertschöpfung im Amazonasgebiet stemmen. Diese Schmuddelsektoren umweltverträglich zu machen, verschlingt darum auch die mit Abstand meisten Fördergelder in der Finanzplanung. Wenn der Entwaldungstrend umgekehrt werden soll, müssen Landwirte künftig effizienter mit dem vorhandenen Land umgehen. Dazu schlagen die Autoren der Studie vor, ökologisch degradierte Weiden aufzuwerten und beispielsweise Agroforstsysteme zu schaffen, bei denen auf derselben Fläche Feldfrüchte und Holzprodukte erzeugt werden. Auch Viehzucht und Ackerbau könnten kombiniert werden. So soll es gelingen, dass die landwirtschaftlich genutzte Fläche von aktuell 87 Millionen Hektar auf 63 Millionen schrumpft, zu Gunsten des Regenwalds, der dadurch knapp sechs Prozent mehr Fläche gewinnen würde.

Kautschukgewinnung | Ein Irrtum ist, dass Brasiliens Baumreichtum nur dann kommerzielle Erträge bringt, wenn man ihn zu Holz verarbeitet. Einst machten Kautschukzapfer die Amazonasstadt Manaus zu einer der reichsten Städte der Welt.

All das ist extrem aufwändig und teuer. Doch die geschätzten Kosten eines »Weiter-so-Szenarios« lägen deutlich höher, unter anderem weil die Amazonasregion ein Wettersystem erzeugt, das weite Teile Brasiliens insbesondere im Westen, Südosten und Süden bis hin nach Paraguay und Nordargentinien über die Luft mit Wasser versorgt. Je stärker die Entwaldung, desto größer die Gefahr, dass diese »fliegenden Flüsse« versiegen. Hinzu kommt, dass auch Brasilien die weitgehende Dekarbonisierung seiner Wirtschaft erreichen muss, was ohne einen Stopp der Entwaldung und den Wechsel zu einer emissionsärmeren Landwirtschaft gar nicht möglich sei, wie die Studienautoren vorrechnen.

Das Amazonasgebiet, heißt es in der Studie, könnte zum großen Katalysator in der klimagerechten Transformation Brasiliens werden. Zumal in der Bioökonomie noch weit mehr Potenzial steckt, als die Autorinnen und Autoren bislang berücksichtigt haben. Etwa die viel versprechende Nutzung der Artenvielfalt des stehenden Waldes inklusive seiner Giftschlangen und Gliederfüßer für die Entwicklung und Vermarktung neuer Medikamente. Wie lukrativ dies sein kann, zeigt das Beispiel von Chinin, auch Jesuitenrinde genannt.

Brasiliens gestohlene Topseller

Denn die Jesuiten waren Anfang des 17. Jahrhunderts die Ersten, die diesen Wirkstoff aus der Rinde des im peruanischen Bergregenwald heimischen Chinarinden-Baums (Cinchona) gegen die in Europa grassierende Malaria einsetzten. Der schwunghafte Handel mit der Cinchona-Rinde, auf den die Jesuiten ein Monopol beanspruchten, legte einen Grundstein für den enormen Reichtum ihres Ordens. Zwar zog dieser im Kampf um Macht und Einfluss bald den Kürzeren – er wurde im 18. Jahrhundert aus Südamerika vertrieben und vom Papst aufgehoben –, doch Chinin ist bis heute einer der wichtigsten Wirkstoffe gegen Malaria. Nur verdienen daran inzwischen vor allem Plantagenbesitzer in Indonesien und Malaysia, nicht der Amazonasstaat. Der deutsche Naturforscher Justus Karl Hasskarl hatte im 19. Jahrhundert mehrere Jungpflanzen illegal aus Peru herausgeschmuggelt.

Ähnlich geschah es mit dem Kautschuk- oder Gummibaum, Hevea brasiliensis, der die Amazonashauptstadt Manaus zeitweise zu einer der reichsten Städte der Welt machte. Doch bereits 1876 schmuggelte der Engländer Henry Alexander Wickham rund 70 000 Samen nach London. Die Kolonialmächte legten riesige Gummibaumplantagen in Asien und Afrika an, die tausende Hektar Regenwald kosteten, aber bis heute den weltweiten Naturkautschukmarkt dominieren, während Brasilien, das Ursprungsland des Baums, Jahr für Jahr 200 000 Tonnen importieren muss.

Eine von Carlos Nobre und seinen Forscherkollegen vorgeschlagene Wiederbelebung der nachhaltigen Gummibaumnutzung und die Förderung der Kautschukzapferfamilien in Amazonien würde diese Importe verringern helfen. Das hätte Tradition im Land: Nicht zuletzt war Chico Mendes, Brasiliens bekannteste und 1988 ermordete Symbolfigur für die Verteidigung des Amazonasgebiets, ein Kautschukzapfer.

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