Limbisches System: Der neuronale Abstandhalter
An einem einzigartigen Fall überprüfen Forscher ihre Theorien über einen Tausendsassa unter den Hirnregionen und stoßen dabei auf eine ganz neue Funktion.
Ein beliebtes Verfahren, mit dem sich ergründen lässt, welchen Part eine Hirnregion im neuronalen Orchester spielt, geht folgendermaßen: Man lässt sie verstummen und prüft anschließend, welche Melodieteile fehlen. Ein neurophysiologisch geschultes Ohr sollte früher oder später die fehlende Stimme entdecken.
Die jüngsten Ergebnisse zweier Forschergruppen um Ralph Adolphs vom California Institute of Technology in Pasadena zeigen jetzt allerdings, wie schnell die konzertante Analogie an ihre Grenzen stößt: Mit bloßem Hinhören ist es nämlich nicht getan. Tatsächlich hängt die Antwort, die die Methode liefert, ganz wesentlich von der gestellten Frage ab.
So gab es bislang den begründeten Verdacht, die Amygdala – eine Hirnregion, die auch Mandelkern genannt wird – versetze dem Gehirn unter anderem den Schreck, den wir verspüren, wenn einem Gegenüber die Angst ins Gesicht geschrieben steht: ganz spontan und automatisiert, als evolutionäre Anpassung an die Notwendigkeit, ein Alarmsignal schnell über die Gruppe zu verbreiten. Vielleicht, so die Spekulation, wurde dazu sogar die Sehbahn kurzgeschlossen, und die Amygdala greife visuelle Informationen ab, lange bevor sie das kortikale Sehzentrum erreichen.
Reaktionstest auf das Mienenspiel
Adolphs und Kollegen betrachteten nun den Fall der Patientin SM, die zu der Hand voll Menschen weltweit gehört, bei denen die Amygdala auf beiden Seiten komplett zerstört ist [1]. Ganz nach Voraussage hatten frühere Studien eine verminderte Diskriminierungsfähigkeit des Mienenspiels diagnostiziert: SM tut sich äußerst schwer damit, zu beurteilen, ob eine fotografierte Person eine ängstliche Miene macht.
Die unbewusste Einschätzung fremder Gemütszustände ist eine Rolle, die sehr gut zur Position der Amygdala im Gehirn passt: Die auf beiden Hirnhälften vorhandene Struktur ist Teil des limbischen Systems, gehört also nicht zum Kortex, sondern sitzt stattdessen als Schaltelement grob gesagt zwischen Sinnesorganen und Denkorganen. Ausweislich ihrer Verkabelung – etwa mit dem Hypothalamus – hat sie mit Emotionen zu tun. Entwicklungsgeschichtlich sind Gehirnbestandteile wie die Amygdala alt, dürften infolgedessen eher schnell als gründlich arbeiten, während ihre Ergebnisse dem bewussten Zugriff zunächst verborgen bleiben.
Adolphs' Team legte der Probandin nun einmal mehr die standardisierte Gesichtergalerie vor, verknüpfte dieses Mal aber die Aufgabe mit einer Reaktionszeitmessung. Bei einer ängstlichen Miene sollte SM so schnell wie möglich auf einen Knopf drücken.
Paradoxerweise ließ sich nun überhaupt nicht mehr aus den Daten herauslesen, dass SM über eine schadhafte Amygdala verfügte. Sie unterschied ängstliche von neutralen oder glücklichen Gesichtern ebenso schnell und akkurat wie eine ebenfalls getestete Gruppe Gesunder. Ausfälle bei der Gesichterbewertung gab es nur, wenn sie genügend Zeit zum Nachdenken hatte. Kurz gesagt: Die Amygdala ist an einem bewussten und langsamen Prozess beteiligt. Die schnelle und intuitive Unterscheidung hingegen obliegt einer anderen Hirnregion.
Schlechte Gefühle verbreiten
Einen Hinweis auf die eigentliche Rolle der Hirnregion gab den Forschern die Beobachtung, dass SM durchaus Angst erkennen könne, wenn man sie dazu ermahne, sich auf die Augenpartie des Gesichts zu konzentrieren. Adolphs kommt deshalb zu dem Schluss, die Amygdala moduliere andere kognitive Vorgänge, indem sie die biologische Relevanz einer Wahrnehmung einschätzt – beispielsweise indem sie die Aufmerksamkeit auf Bedeutsames lenkt.
Was so abstrakt klingt, kann im Einzelfall ganz konkrete Auswirkungen haben, wenn es einmal nicht funktioniert: Die überaus freundliche SM, so berichtet Adolphs, habe nämlich die Eigenart, ihrem Gesprächspartner extrem nahezukommen [2]. Mit im Mittel 34 Zentimetern ist SM's "persönliche Distanz" nur knapp halb so groß wie bei einer Vergleichsgruppe, ergab eine systematische Vermessung. Aber SM habe es nicht einmal dann als unangenehm empfunden, als sich ihr im Experiment ein fremder Mensch so weit näherte, dass beide Nase an Nase standen.
Im Hirnscanner bewahrheitete sich dann die Vermutung, die sich zuvor nur bei Tierversuchen angedeutet hatte: Die Amygdala ist an dieser Erscheinung nicht ganz unschuldig. Als die Forscher gesunden Probanden, die mit verbundenen Augen im funktionellen Magnetresonanztomografen lagen, suggerierten, ein Assistent würde nahe bei ihnen stehen, regte sich die Amgydala. Hieß es dagegen, der Kollege sei weit entfernt, blieb sie stumm.
Die beiden Mandelkerne bewerten also nicht nur Informationen nach ihrer biologischen Relevanz, sondern kümmern sich auch um unsere soziale "Wohlfühlzone". Gemeinsam ist in beiden Fällen, wie die Amygdala einschreitet: Sie verbreitet so lange unangenehme Gefühle, bis sie uns zum Handeln gezwungen hat.
Die jüngsten Ergebnisse zweier Forschergruppen um Ralph Adolphs vom California Institute of Technology in Pasadena zeigen jetzt allerdings, wie schnell die konzertante Analogie an ihre Grenzen stößt: Mit bloßem Hinhören ist es nämlich nicht getan. Tatsächlich hängt die Antwort, die die Methode liefert, ganz wesentlich von der gestellten Frage ab.
So gab es bislang den begründeten Verdacht, die Amygdala – eine Hirnregion, die auch Mandelkern genannt wird – versetze dem Gehirn unter anderem den Schreck, den wir verspüren, wenn einem Gegenüber die Angst ins Gesicht geschrieben steht: ganz spontan und automatisiert, als evolutionäre Anpassung an die Notwendigkeit, ein Alarmsignal schnell über die Gruppe zu verbreiten. Vielleicht, so die Spekulation, wurde dazu sogar die Sehbahn kurzgeschlossen, und die Amygdala greife visuelle Informationen ab, lange bevor sie das kortikale Sehzentrum erreichen.
Reaktionstest auf das Mienenspiel
Adolphs und Kollegen betrachteten nun den Fall der Patientin SM, die zu der Hand voll Menschen weltweit gehört, bei denen die Amygdala auf beiden Seiten komplett zerstört ist [1]. Ganz nach Voraussage hatten frühere Studien eine verminderte Diskriminierungsfähigkeit des Mienenspiels diagnostiziert: SM tut sich äußerst schwer damit, zu beurteilen, ob eine fotografierte Person eine ängstliche Miene macht.
Die unbewusste Einschätzung fremder Gemütszustände ist eine Rolle, die sehr gut zur Position der Amygdala im Gehirn passt: Die auf beiden Hirnhälften vorhandene Struktur ist Teil des limbischen Systems, gehört also nicht zum Kortex, sondern sitzt stattdessen als Schaltelement grob gesagt zwischen Sinnesorganen und Denkorganen. Ausweislich ihrer Verkabelung – etwa mit dem Hypothalamus – hat sie mit Emotionen zu tun. Entwicklungsgeschichtlich sind Gehirnbestandteile wie die Amygdala alt, dürften infolgedessen eher schnell als gründlich arbeiten, während ihre Ergebnisse dem bewussten Zugriff zunächst verborgen bleiben.
Adolphs' Team legte der Probandin nun einmal mehr die standardisierte Gesichtergalerie vor, verknüpfte dieses Mal aber die Aufgabe mit einer Reaktionszeitmessung. Bei einer ängstlichen Miene sollte SM so schnell wie möglich auf einen Knopf drücken.
Paradoxerweise ließ sich nun überhaupt nicht mehr aus den Daten herauslesen, dass SM über eine schadhafte Amygdala verfügte. Sie unterschied ängstliche von neutralen oder glücklichen Gesichtern ebenso schnell und akkurat wie eine ebenfalls getestete Gruppe Gesunder. Ausfälle bei der Gesichterbewertung gab es nur, wenn sie genügend Zeit zum Nachdenken hatte. Kurz gesagt: Die Amygdala ist an einem bewussten und langsamen Prozess beteiligt. Die schnelle und intuitive Unterscheidung hingegen obliegt einer anderen Hirnregion.
Schlechte Gefühle verbreiten
Einen Hinweis auf die eigentliche Rolle der Hirnregion gab den Forschern die Beobachtung, dass SM durchaus Angst erkennen könne, wenn man sie dazu ermahne, sich auf die Augenpartie des Gesichts zu konzentrieren. Adolphs kommt deshalb zu dem Schluss, die Amygdala moduliere andere kognitive Vorgänge, indem sie die biologische Relevanz einer Wahrnehmung einschätzt – beispielsweise indem sie die Aufmerksamkeit auf Bedeutsames lenkt.
Was so abstrakt klingt, kann im Einzelfall ganz konkrete Auswirkungen haben, wenn es einmal nicht funktioniert: Die überaus freundliche SM, so berichtet Adolphs, habe nämlich die Eigenart, ihrem Gesprächspartner extrem nahezukommen [2]. Mit im Mittel 34 Zentimetern ist SM's "persönliche Distanz" nur knapp halb so groß wie bei einer Vergleichsgruppe, ergab eine systematische Vermessung. Aber SM habe es nicht einmal dann als unangenehm empfunden, als sich ihr im Experiment ein fremder Mensch so weit näherte, dass beide Nase an Nase standen.
Im Hirnscanner bewahrheitete sich dann die Vermutung, die sich zuvor nur bei Tierversuchen angedeutet hatte: Die Amygdala ist an dieser Erscheinung nicht ganz unschuldig. Als die Forscher gesunden Probanden, die mit verbundenen Augen im funktionellen Magnetresonanztomografen lagen, suggerierten, ein Assistent würde nahe bei ihnen stehen, regte sich die Amgydala. Hieß es dagegen, der Kollege sei weit entfernt, blieb sie stumm.
Die beiden Mandelkerne bewerten also nicht nur Informationen nach ihrer biologischen Relevanz, sondern kümmern sich auch um unsere soziale "Wohlfühlzone". Gemeinsam ist in beiden Fällen, wie die Amygdala einschreitet: Sie verbreitet so lange unangenehme Gefühle, bis sie uns zum Handeln gezwungen hat.
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