Fukushima: "Der Reaktorunfall ging wirklich glimpflich aus"
Spektrum.de: Herr Professor Allelein, welche Bedingungen herrschen in den havarierten Reaktoren von Fukushima ein Jahr nach dem Erdbeben und den Tsunamis?
Hans-Josef Allelein: Durch den radioaktiven Zerfall der Spaltprodukte wird immer noch Wärme freigesetzt. Allerdings liegt die thermische Leistung mittlerweile unter einem Megawatt und damit um mehr als den Faktor 100 niedriger als in den Tagen nach dem Erdbeben und der Tsunamikatastrophe. Das heißt aber nicht, dass wir die Reaktoren schon langfristig ohne Kühlung sich selbst überlassen könnten: Sie müssen weiterhin gekühlt werden, weil trotz der reduzierten Leistung immer noch Wärme produziert wird. Sie ließe auf Dauer das Wasser verdampfen, so dass irgendwann wieder die Brennelemente frei lägen. Gäbe es allerdings erneut ein Erdbeben und einen Tsunami, könnten die Betreiber jedoch einige Tage ohne Kühlung überbrücken.
Die Kernschmelze könnte also theoretisch wieder einsetzen, wenn eine ähnliche Katastrophe einträte?
Nein, mittlerweile ist die Wärmeproduktion so gering, dass sich der Kernbrennstoff nicht mehr über den Schmelzpunkt hinaus erhitzen würde. Versuche, derartige Prognosen zu treffen, sind aber problematisch, da wir nichts über das Innere der Reaktoren wissen. Keiner kann sagen, ob die Brennstäbe nur an- oder völlig geschmolzen sind. Wahrscheinlich haben sich neue Konfigurationen gebildet, während die Reaktorkerne schmolzen. Diese kennen wir aber nicht.
Ließen sich die Reaktoren wie in Tschernobyl nach außen hin abschirmen?
Block 1 der Anlage wurde bereits mit einem provisorischen "Über-Gebäude" versehen. Dies ist für die Blöcke 3 und 4 ebenfalls vorgesehen. Danach sollen aus der ganzen Anlage zuerst die noch intakten Brennelemente und schließlich die zerstörten Reaktorkerne entfernt werden. Doch Sie sollten wissen: Im Sarkophag von Tschernobyl gibt es Öffnungen, um einen Luftaustausch zu gewährleisten, damit es innen nicht zu warm wird. Er ist also nicht hermetisch abgeriegelt.
Anders kann man dort nicht kühlen, was nötig ist, da selbst dort noch – geringe – Nachzerfallsleistung vorhanden ist, obwohl der überwiegende Teil des vorhandenen Brennstoffs und des Spaltproduktinventars in die Umgebung freigesetzt wurde. In Fukushima befinden sich dagegen noch über 99 Prozent des Brennstoffs und sicher mehr als 80 Prozent des Spaltproduktinventars in der Anlage, was eine stärkere Herausforderung an die Sicherung vor Ort bedeutet. Die Betreiber können also einen Sarkophag über der Anlage errichten, müssen aber gefilterte Verbindungen nach außen vorsehen. So kann man weiter Wasser zur Kühlung hineinpumpen, verhindert aber, dass Radioaktivität austritt.
Wie kann man das technisch leisten?
Über Filter, die teilweise aus speziellen Harzen bestehen und mit Ionenaustauschern arbeiten. In den modernen Reaktoren in Europa gehören sie zum verpflichtenden Standard: Jedes Rohr des Kühlungssystems endet in einem Filtersystem, das die Spaltprodukte zu einem erheblichen Teil zurückhält. Die Kühlmittel sind nach dieser Passage weit gehend frei von Radioaktivität. Ausgetauschte Filter müssen in Deutschland dann in Lagern für mittelaktive Abfälle wie in Schacht Konrad untergebracht werden.
In Japan traten riesige Probleme auf, die Reaktoren zu kühlen, da die Infrastruktur kaputt war. Sie musste provisorisch wiederhergestellt werden. Wie läuft die Kühlung momentan?
Nach meinem Kenntnisstand scheint sie so zu funktionieren, dass in die Kellerräume der Anlage sickerndes, kontaminiertes Wasser gereinigt und dann zur Kühlung wieder in den Kreislauf eingespeist wird. Hier müssen die Betreiber jedoch aufpassen, denn weitere Erdbeben könnten das Provisorium erneut schwer in Mitleidenschaft ziehen. Die große Gefahr einer neuen oder weiteren Kernschmelze ist aber nicht mehr vorhanden. Allerdings dürfte es Jahrzehnte dauern, bis die Anlage in einem wirklich ungefährlichen Zustand ist. Was jetzt leider noch zu erwarten ist, sind Krebsfälle. Angesichts der vergleichsweise geringen Dosen wird es jedoch im Einzelfall schwer sein, zwischen unfallbedingten und natürlichen Ursachen zu unterscheiden.
Aus Japan dringen bislang unterschiedliche Daten in die Öffentlichkeit. Die einen besagen, dass es den einen oder anderen radioaktiven Hotspot an Land gebe – mit entsprechenden Gefahren für die Anwohner. Insgesamt hätte Japan aber Glück gehabt, weil die meisten Radionuklide Richtung Meer getrieben wurde. Wie sehen Sie die Situation?
Ich schließe mich Aussagen an, dass es insgesamt relativ glimpflich ausging. Nur eine ihrer Druckentlastungen am Reaktor haben die Betreiber unglücklicherweise in einem Zeitfenster gemacht, als der Wind just vom Meer aufs Land wehte. Durch diese Fahne wurde ein nach Nordwesten ragender Streifen stärker kontaminiert. Zudem kann die radioaktive Belastung nicht pauschal für quadratkilometergroße Einheiten festgestellt werden, die Verantwortlichen müssen genauer hinsehen: Auf Grund von meteorologischen, chemischen und Bodenbedingungen können Areale von wenigen 10 bis 100 Quadratmetern verseucht sein, während direkt daneben liegende Abschnitte nahezu frei von Belastungen sind. Bevor also Flächen freigegeben werden können, muss erst systematisch jeder Quadratmeter untersucht werden, unter Umständen müssen die Oberflächen auch abgetragen werden. Dies bedeutet zwar einen großen Aufwand, aber das dürfen die Verantwortlichen nicht vernachlässigen. Sie müssen außerdem permanent und über Jahrzehnte das Grund- und Trinkwasser überwachen.
Über welche radioaktiven Isotope sprechen wir?
Relevant sind im Wesentlichen Jod-131 und Zäsium-137. Das freigesetzte Jod-131 ist mittlerweile praktisch völlig zerfallen, denn es weist eine Halbwertszeit von acht Tagen auf. Als Faustregel kann man davon ausgehen, dass nach zehn Halbwertszeiten – das heißt in diesem Fall nach 80 Tagen – die Radioaktivität des Nuklids auf unbedeutende Werte abgefallen ist. Zäsium-137 mit einer Halbwertszeit von etwa 30 Jahren bleibt dagegen langfristig problematisch: Dieses Nuklid wurde aus dem Tschernobyl-Reaktor ebenfalls freigesetzt, und wir finden es auch jetzt, fast 30 Jahre später, immer noch im Bayerischen Wald.
Wurden auch Plutoniumisotope freigesetzt?
Plutonium gelangt bei einer Kernschmelze nur schwer in die Atmosphäre. Die Situation in Tschernobyl war eine andere, weil dort im Gegensatz zu Fukushima der Reaktor durch eine sehr schnelle ansteigende nukleare Leistung zerstört wurde und anschließend über eine Woche lang unter offenem Himmel gebrannt hat. Nichts deutet in Fukushima auf eine großräumige Uran- oder Plutoniumkontamination hin.
Was muss mit dem belasteten Kühlwasser passieren?
Das müssen die Betreiber sammeln, kontrolliert eindampfen und über Ionenaustauscher schicken, die die Nuklide absorbieren. Dann können sie es in die Umwelt entlassen. Das ist Standardtechnik. Wenn Sie einen normalen Reaktor betreiben, wird ebenfalls immer ein Teil des Kühlwassers abgezweigt und so wieder aufbereitet. Bei Fukushima erschweren allerdings die großen Mengen an Kühlwasser und das darin enthaltene Salz aus dem verwendeten Meerwasser die Entsorgung. Andererseits wird derzeit zur Kühlung der Reaktoren kein frisches Wasser verwendet, sondern das kontaminierte Wasser gewissermaßen im Kreislauf mit Zwischenreinigung gefahren. So kann man zumindest verhindern, noch größere Abwassermengen zu produzieren.
Große Mengen an Kühlwasser wurden sogleich wieder ins Meer geleitet. Wie sehen Sie das?
Wasser, das vergleichsweise geringe Mengen von radioaktiven Stoffen enthielt, wurde ins Meer geleitet, um in Lagerbehältern Platz für hochkontaminiertes Wasser zu schaffen. Das ist zwar unschön, war aber wohl in der gegebenen Lage immer noch das geringere Übel. Außerdem "bombardierten" die Helfer in der ersten Woche nach der Katastrophe die Anlagen regelrecht mit Wasser aus Flugzeugen und Pumpen. Man hätte daher schon frühzeitig parallel zur Kühlung in der Umgebung tiefe, betonierte Gräben bauen müssen, damit dieses Wasser nicht einfach sich selbst überlassen bleibt. Dies war meines Erachtens einer der größten, eigentlich vermeidbaren Fehler, die nach der Katastrophe passierten. Aber bei derartigen Notfalleinsätzen sind die verfügbaren Ressourcen nun einmal begrenzt.
Wie hoch ist das Risiko für die Menschen, die sich nach der Havarie im Reaktor aufgehalten haben oder dort arbeiten mussten?
Todesfälle durch akute Strahlenerkrankungen auf Grund des Reaktorunfalls traten in Fukushima nicht auf. Drei Arbeiter starben auf der Anlage unmittelbar durch das Erdbeben und den Tsunami, ein weiterer Mensch erlag im Rahmen der Aufräumarbeiten einem stressbedingten Herzinfarkt. Sechs Personen erhielten eine Strahlenexposition zwischen 250 und maximal 670 Millisievert (mSv), 105 weitere Betroffene eine zwischen 100 und 250 mSv. Nach heutigem Wissensstand liegt das Risiko für eine tödliche Krebserkrankung durch diese Strahlenexpositionen im Bereich von etwa 0,5 bis 2,5 Prozent.
Wurden nach dem Erdbeben die Schutzvorrichtungen in Fukushima verstärkt?
Nach derzeitigem Kenntnisstand hat das Erdbeben keine sicherheitsrelevanten Schäden verursacht, erst durch den Tsunami gingen die Stromversorgung und damit die aktiven Kühlsysteme verloren. Die jetzigen provisorischen Systeme für die Zufuhr und Dekontamination von Kühlwasser mussten zunächst einmal schnell aufgebaut werden. Man ist durchaus bemüht, die Auswirkungen potenzieller weiterer Naturkatastrophen beherrschen zu können. Beispielsweise gibt es auf dem Kraftwerksgelände durchaus Areale, die so hoch gelegen sind, dass sie von dem Tsunami nicht erreicht wurden – diese werden jetzt genutzt.
Man muss aber auch wissen, dass es selbst bei einem langfristigen Ausfall aller Kühlmöglichkeiten, zum Beispiel als Folge weiterer Naturkatastrophen, zu keiner Wiederholung der Ereignisse und Freisetzungen wie ab dem 11. März 2011 kommen kann. Da die Nachzerfallsleistung stark abgeklungen ist, besteht das hierfür erforderliche Energiepotenzial in den Anlagen nicht mehr. Darüber hinaus sind die besonders gefährlichen leichtflüchtigen und kurzlebigen Radionuklide wie Jod-131 mittlerweile zerfallen. Wesentlich wichtiger ist, dass die Japaner die entsprechenden Lehren für ihre übrigen Kernkraftwerke ziehen.
Hat man in Deutschland Lehren aus Fukushima gezogen?
Die Grundprinzipien der Reaktorsicherheit lauten Redundanz, Diversität und räumliche Trennung: Alle Sicherheitssysteme müssen klar räumlich getrennt sein und auch voneinander getrennt arbeiten. Das ist elementar und betrifft nicht nur die räumliche Positionierung, sondern auch die elektrische Versorgung der Systeme. Diese räumliche Trennung kostet sehr viel Geld, sie muss aber strikt durchgehalten werden. Für die deutschen Anlagen gilt dies wohl, doch man sollte dezidiert prüfen, ob es wirklich für alle Anlagen in vollem Umfang realisiert ist.
Zudem müssen die Abklingbecken genauso geschützt werden wie der Reaktorsicherheitsbehälter selbst, auch wenn die Gefahr geringer ist. Das ist in Deutschland selbstverständlich, doch muss man international aus den Problemen in Fukushima lernen. Dort geriet ein Abklingbecken ebenfalls in eine gewisse kritische Lage. Im Nachhinein stellte sich allerdings erfreulicherweise heraus, dass an diesem Punkt die Situation doch nicht ganz sio heikel war wie in den ersten Wochen befürchtet.
Lassen sich ältere Reaktoren diesbezüglich nachrüsten?
Bei den älteren Konzepten wird die Nachkühlung immer mit aktiven Systemen bestritten. Man benötigt also stets Strom oder einen Druckstoß zur Aktivierung. Zusätzlich sollte es die Möglichkeit geben, passive Notfallmaßnahmen einzubeziehen. Sie wirken durch physikalische Prinzipien, zum Beispiel über hoch liegende Wasserbehälter, deren Inhalt mit Hilfe der Schwerkraft in den Reaktor fließen kann. Dafür benötigen sie keinen elektrischen Impuls. Dies auf alte Anlagen zu übertragen, ist aber nur begrenzt möglich, da auch Platzverhältnisse eine Rolle spielen. Weiterhin sollte man Druckentlastungen nur gefiltert durchführen.
Setzen denn die Betreiber Neuerungen in der Sicherheitstechnik auch konsequent um?
In Japan war dies ein ganz großes Problem, das konnte man an den Ereignissen in Fukushima sehen. Von den eklatanten Fehlern beim Tsunamischutz und der Sicherstellung der Notstromversorgung einmal ganz abgesehen: Während es hier zu Lande Stand der Technik ist, im schlimmsten Fall den Druck aus dem Sicherheitsbehälter über Filter ablassen zu können – die über 99 Prozent der gefährlichen radioaktiven Stoffe zurückhalten –, wurde in Fukushima das Gas ungefiltert durch den Kamin geblasen.
Doch auch hier zu Lande wird nicht immer alles sofort umgesetzt, was man als sinnvoll erachtet. Ein Beispiel: Nach dem 11. September 2001 hatten die Betreiber und die Aufsichtsbehörden vereinbart, dass ihre Reaktoren im Fall potenzieller Terroranschläge vernebelt werden sollen. Doch zehn Jahre später wurden tatsächlich erst drei derartige Systeme installiert. Der neueste Stand der Wissenschaft und Technik muss rasch und ohne Zögern umgesetzt werden.
Wenn Sie die Situation in Fukushima ein Jahr später betrachten: Wie schwer schätzen Sie diesen Unfall verglichen mit Tschernobyl ein?
Insgesamt wurden aus den vier betroffenen Blöcken in Fukushima je nach Quellenangabe zirka 5 bis 20 Prozent der radioaktiven Stoffe im Vergleich zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl freigesetzt. Einen Großteil dieser Stoffe wehte der Wind vom Land weg auf das Meer. In Tschernobyl gab es in erheblichem Ausmaß Strahlenschäden bis hin zu Todesfällen bei den Einsatzkräften vor Ort. Dies ist nach derzeitigem Kenntnisstand in Fukushima glücklicherweise ausgeblieben.
Vieles spricht dafür, dass es sich bei den Reaktoren von Fukushima um eine recht schlecht gepflegte Anlage handelt, das schließe ich aus den zugänglichen Informationen zur Verfügbarkeit. Dies führte letztlich dazu, dass auch letztes Jahr noch elementare Auslegungsregeln – wie am Anfang diskutiert – verletzt wurden. Angesichts dieser Umstände ging der Reaktorunfall wirklich glimpflich aus. Die Auswirkungen von Tschernobyl waren dagegen sehr viel dramatischer.
Herr Allelein, wir danken Ihnen für das Gespräch.
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