Tragische Liebe: Der romantische Untote
Wochenlang hängen die Zuhörer an den Lippen Gotthilf Heinrich Schuberts (1780-1860) und lassen sich von ihm auf die »Nachtseite der Naturwissenschaften« entführen. So lautet der Titel der Vorlesung, die der Mediziner und Naturphilosoph im Winter 1806/7 hält. Kerzen erhellen das Dresdner Palais Carlowitz. Das Licht flackert, die Gedanken blitzen. Schubert spricht über die enge Verbindung zwischen Mensch und Natur, die – einst so stark – sich aufzulösen droht. Er spricht über dunkle Träume, menschliche Abgründe und geheimnisvolle Welten. Er spricht über die Übergänge zwischen der organischen und der anorganischen Welt. Zum Beispiel bei der Verwesung: Der Mensch sei dafür besonders begünstigt, denn »die Natur scheint durch den größeren Phosphorgehalt seines Körpers für ihren Liebling, den Menschen, die Zeit der letzten Verwandlung des Leibes verkürzt zu haben«.
Um zu erklären, dass selbst konservierende Bedingungen den menschlichen Körper letztlich nicht vor der Zersetzung bewahren, berichtet er von einem Bergmann. Tot hatte man jenen »in der schwedischen Eisengrube zu Falun« gefunden. Er war »in eine Art von Asche« zerfallen, »nachdem man ihn, dem Anscheine nach in festen Stein verwandelt, unter einem Glasschrank vergeblich vor dem Zutritt der Luft gesichert hatte«. Doch in dieser Geschichte um eine merkwürdig jung gebliebene Leiche steckt viel mehr als ein scheinbar wissenschaftliches Argument. Das weiß auch Schubert, und deshalb erzählt er ihren Kern mit schwärmerischen Worten:
»Denn als um den kaum hervorgezogenen Leichnam das Volk, die unbekannten jugendlichen Gesichtszüge betrachtend, steht, da kömmt an Krücken und mit grauem Haar ein altes Mütterchen, mit Thränen über den geliebten Todten, der ihr verlobter Bräutigam gewesen, hinsinkend, die Stunde segnend, da ihr noch an den Pforten des Grabes ein solches Wiedersehen gegönnt war, und das Volk sahe mit Verwunderung die Wiedervereinigung dieses seltnen Paares, davon das Eine, im Tode und in tiefer Gruft das jugendliche Aussehen, das Andre, bei dem Verwelken und Veralten des Leibes die jugendliche Liebe treu und unverändert erhalten hatte, und wie bei der 50jährigen Silberhochzeit der noch jugendliche Bräutigam starr und kalt, die alte und graue Braut voll warmer Liebe gefunden wurden.«
Diese wenigen Zeilen elektrisierten in den folgenden Jahrhunderten Künstlerinnen und Künstler, vor allem im deutschsprachigen Raum. Doch was war knapp 100 Jahre zuvor eigentlich passiert?
Das Gesicht unversehrt, der Hinterkopf zerschmettert
Im Dezember 1719 finden Bergleute im schwedischen Falun einen toten Kumpel in einem überfluteten Schacht rund 150 Meter tief unter der Erde. Der Ort, etwa 200 Kilometer nordwestlich von Stockholm, zählt damals zu den Bergbauzentren Europas (und heute zu den Weltkulturerbestätten) – schwedisches Kupfer gelangt von hier in alle Winkel Europas. Da der Arbeitsschutz in den Minen zu dieser Zeit einige Lücken aufweist, passieren solche Unfälle häufiger. Aktuell vermissen die Arbeiter aber keinen der ihren. Zudem gibt der Zustand des leblosen Körpers Rätsel auf. Während beide Unterschenkel, der rechte Arm sowie der Hinterkopf schwere Verletzungen aufweisen, sind Gesicht, Hände sowie der übrige Körper heil und von der Zeit merkwürdig verschont. Eisenteile an der Ausrüstung sind rostig – doch die Kleidung ist gut erhalten. Sogar ein Tabakkrümel, den der Tote in einer Blechdose bei sich trägt, ist nach wie vor frisch. Zudem ist der Kumpel von einem sonderbaren blauen Schimmer überzogen. Nachdem die Bergmänner ihren leblosen Kollegen aus der feuchten Grube an die Oberfläche gebracht haben, verhärtet sich der vormals weiche Körper plötzlich. Sogar von Versteinerung ist die Rede.
Zumindest die Langlebigkeit der Leiche können die erfahrenen Bergleute schnell erklären. Der Körper hat lange Zeit in einer wässrigen Lösung gelegen, die Sulfat- und Kupferionen enthält. Sie wirkt antibakteriell und imprägniert in den Werkstätten dieser Zeit Holz oder macht Tierhäute haltbar. Das im Wasser enthaltene Kupfer verursacht die blaue Färbung, die an der Luft zu einem rußigen Schwarz wird. Weitere Fragen allerdings lassen sich nicht so schnell beantworten: Wer ist der Tote? Wann ist er gestorben? Und was soll mit der Leiche geschehen?
Zu berühmt für die letzte Ruhe
Wie offizielle Protokolle belegen, beruft das zuständige Bergbauunternehmen eine Woche später eine Sitzung ein, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Während die Herrschaften tagen, wird die Identität des Toten gelüftet. Der Bergmann Mans Hansson erkennt in der Leiche seinen früheren Kollegen Mats Israelsson. »Fet Mats«, wie der Kumpel auf Grund seiner Körpergröße genannt wurde, stammte aus dem nahe gelegenen Dorf Boda und arbeitete in Falun als Bergmann – allerdings mehr als 40 Jahre zuvor. Im Herbst 1676 habe der junge Mats die Schicht eines Kollegen übernommen, von der er nicht zurückgekehrt sei.
Es meldet sich noch eine Zeugin, die mit dem Verstorbenen besonders vertraut war: seine damalige Verlobte. Jene inzwischen betagte Margreta Olsdotter identifiziert das jugendliche Antlitz des Mats Israelsson ebenfalls, berichtigt aber, dass er erst Anfang April 1677 verschwunden sei. Als einstige Verlobte fordert Margreta Olsdotter die sofortige Bestattung ihres ehemaligen Geliebten, doch der ist inzwischen zu berühmt dafür.
Im Interesse der Forschung
Der seltsame Fund hat schnell für Aufsehen gesorgt und das Interesse der Wissenschaft geweckt. Die »Bokwettsgillet«, eine angesehene Forschervereinigung an der Universität in Uppsala, nimmt den Leichnam kurz nach der Bergung genauer unter die Lupe. Vom November 1720 an untersuchen die Forscher in insgesamt sieben Sitzungen den Körper. Dabei schneiden sie ein Stück Fleisch aus dem Oberschenkel, um mehr über die Konsistenz zu erfahren. Einen umfangreichen Bericht über den Fall inklusive einer Zeichnung des Toten veröffentlicht 1722 Adam Leijel, ein Beamter in der Bergbau-Aufsichtsbehörde.
Presseberichte haben Fet Mats inzwischen zu einer kontinentalen Berühmtheit und zu einer Touristenattraktion gemacht. Neugierige aus allen Ecken Europas reisen in den Norden nach Schweden, um den jung gebliebenen Toten zu sehen. Für jedermann sichtbar ruht er in einem Glasschrank auf dem Minengelände. Wissenschaftler und Laien diskutieren, ob der Tote mineralisiert und zu Stein geworden ist – so auch der berühmte schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778). Er stellt während seines Besuchs 1734 fest, dass der Körper nur vorübergehend mumifiziert sei und bald verwesen werde.
Fet Mats gibt ihm Recht. Sein Körper beginnt langsam auseinanderzubröckeln und dabei einen unangenehmen Geruch zu verströmen. Deshalb landet Mats Israelsson am 21. Dezember 1749 – 30 Jahre später – ein zweites Mal unter der Erde, genauer gesagt wird er in einem offiziellen Begräbnis unter dem Boden einer Faluner Kirche bestattet. Ewige Ruhe bedeutet das allerdings nicht. Noch zweimal wird er ausgegraben, umgebettet, von 1900 bis 1930 muss der Leichnam erneut als Touristenmagnet herhalten, bevor er schließlich auf dem Friedhof der Stora-Kopperberg-Kirche in Falun endgültig beigesetzt wird. Seit 1934 markiert ein Grabstein seine Ruhestätte.
Mats und die Romantiker
Nach der Beerdigung im Jahr 1749, über die Zeitungen europaweit berichten, wird es wieder ruhig in Falun. Die Fet-Mats-Manie ebbt ab, die Touristenströme versiegen. Der Leichenfund kursiert nur noch als spannende Geschichte unter den Bewohnern der Region. Doch die Legende um den Leichnam wird nun andernorts wiederbelebt – von den deutschen Romantikern. Mit seinem geheimnisumwitterten Tod und einer unerfüllten Liebe rennt Fet Mats bei ihnen offene Türen ein. Zumal die Literaten jener Zeit ein Faible haben für dunkle Bergwerksstollen und glitzernde Minerale in den Tiefen der Erde. Der Stoff hat alles, was die Romantik braucht: einen geheimnisvollen Tod, dunkle, vergessene Jahre, eine Leiche, die scheinbar den Gesetzen der Naturwissenschaft trotzt, und eine unsterbliche Liebe.
Seinen Durchbruch als literarischer Star im romantischen Deutschland verdankt der tote Bergmann dem eingangs erwähnten Philosophen Gotthilf Heinrich Schubert. Während seines Medizinstudiums in Jena, dem Zentrum der Frühromantik, hatte er eine Vorliebe für das Übersinnliche und Abgründige, für das Dunkle und Unfassbare entwickelt – sowohl in der menschlichen Psyche als auch in der Wissenschaft. Dichter und Denker dieser Zeit verschlingen seine Schriften und strömen in seine Vorlesungen. Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffmann und Caspar David Friedrich gehören zu seinen Freunden und Bewunderern.
Erzählung um Erzählung über den toten Bergmann
Spätestens nach der Veröffentlichung seines Buchs »Nachtseite der Naturwissenschaften« 1808 ist der Stoff um den toten Bergmann in der literarischen Welt angekommen. Die Zeitschrift »Jason« ruft kurze Zeit später Autoren dazu auf, das Thema in einem Schreibwettbewerb zu verarbeiten. In rascher Folge erscheinen nun Werke. Zu den berühmtesten gehört sicherlich Johann Peter Hebels »Unverhofftes Wiedersehen« aus dem Jahr 1811.
In dieser Kalendergeschichte verspricht ein Bergmann an einem Dezembermorgen seiner Geliebten die Ehe, verunglückt dann aber tödlich in einer Mine. Erst 50 Jahre später, die Welt hat inzwischen viele politische und historische Ereignisse erlebt, wird sein konservierter Leichnam um den Mittsommertag geborgen. Die Verlobte – zur alten Frau geworden – erkennt den immer noch jugendlich aussehenden Toten wieder und nimmt ihn mit nach Hause, bis er am nächsten Tag beerdigt wird.
Bereits 1810 kursiert der Text im Hause Goethes, wie Schillers Frau Charlotte in einem Brief verrät: »Die Geschichte von dem Bergmann in Falun hat uns der Geheimrat Goethe in einer Gesellschaft vorgelesen. Wir haben alle geweint. So rührend hat er es mit seiner schönen Stimme gelesen.« Weit kürzer und anekdotischer folgt Heinrich Zschokke mit »Das Bergwerk von Falun«. Der Dramatiker Friedrich Hebbel nennt seine 1828 erschienene Geschichte »Treue Liebe«.
Ausführlich und prägend wendet sich Schubert-Fan E. T. A. Hoffmann dem Mythos 1819 in seiner Erzählung »Die Bergwerke zu Falun« zu. Er verarbeitet den Stoff zu einer rauschhaften, wilden Fahrt. Seine Geschichte handelt vom Seemann Elis Fröbom, den ein alter Bergmann zur Arbeit in den nordschwedischen Minen überredet. Nach allerlei Wirrnissen, während derer Fröbom die kristallenen Grotten durchstreift und einer leibhaftigen Bergkönigin begegnet, wird der junge Mann schließlich an seinem Hochzeitstag verschüttet. Just als er einen besonderen Stein – »den kirschrot funkelnden Almandin« – für seine Braut aus der Tiefe holen will. Schließlich bringen Bergleute seine Leiche 50 Jahre später wieder ans Licht. Seine Verlobte, die inzwischen eine alte Frau geworden ist, wirft sich über ihn und weint. »Die Bergleute traten hinan, sie wollten die arme Ulla aufrichten, aber sie hatte ihr Leben ausgehaucht auf dem Leichnam des erstarrten Bräutigams. Man bemerkte, daß der Körper des Unglücklichen, der fälschlicherweise für versteinert gehalten, in Staub zu zerfallen begann.«
Im literarischen Fet-Mats-Kosmos setzt Hoffmann mit dieser Geschichte neue Maßstäbe. Der Expressionist Georg Trakl etwa nimmt Hoffmanns Faden 1913 mit seinem lyrischen Zyklus der »Elis-Gedichte« wieder auf und steht damit am Ende einer langen Reihe von Lyrikern, die sich ebenfalls mit Fet Mats befassen: unter ihnen August Friedrich Ernst Langbein (»Der Bergknappe«, 1810), Achim von Arnim (»Des ersten Bergmanns ewige Jugend«, 1810) sowie Friedrich Rückert (»Die goldne Hochzeit«, 1817). Richard Wagner – ein großer Freund fantastischer Stoffe – ist ebenfalls begeistert von Hoffmanns Erzählung und wagt sich 1842 an ein Libretto für eine Oper, das er allerdings nicht vertont.
Hugo von Hofmannsthal stellt ebenfalls Elis Fröbom in den Mittelpunkt seines Dramas »Das Bergwerk zu Falun«. Bis tief ins 20. Jahrhundert hinein beschäftigen sich rund 30 Autoren mit der berühmten Leiche, etwa der 1984 in der DDR verstorbene Franz Fühmann in seinem Prosa-Fragment »Die Glöckchen«. Auch Autoren anderer Länder befassen sich mit dem Stoff. Die Schwedin Julia Nyberg schreibt in ihrem Gedicht »Guldbröllopet« (1828) über diese besondere »Goldene Hochzeit«, ihre italienische Kollegin Grazia Pierantoni-Mancini blickt in einem Gedicht 1879 in »La miniera di Faluna«. Und auch im 21. Jahrhundert ist die Geschichte nicht auserzählt: Bestsellerautor Julian Barnes legt 2004 seine Erzählung »The Story of Mats Israelsson« vor.
Als der Schauspieler Jens Harzer am 16. Juni 2019 den Iffland-Ring erhält – jene Auszeichnung für den Bedeutendsten seiner Zunft im deutschsprachigen Raum –, überrascht er mit einer außergewöhnlichen Ansprache. Statt der üblichen Dankesworte etwa an seine Angehörigen oder an seinen verstorbenen Vorgänger Bruno Ganz, der den neuen Ringträger bestimmt hatte, liest er nur eine Geschichte vor: Johann Peter Hebels »Unverhofftes Wiedersehen«.
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